Reisgiganten, Teil 1 – Harutaka
Vor neun Stunden bin ich in Tokio gelandet. Ich hatte also genug Zeit zum Ausruhen – vom langen Flug, auf dem ich nur wenig geschlafen habe, und von den Emotionen, die mich immer überwältigen, wenn ich begreife, tatsächlich in Japan angekommen zu sein.
Ich muss dann immer unweigerlich an Anthony Bourdain denken, der in einer Episode seiner kulinarischen Reise-Serie sagt:
What do you need to know about Tokyo? Deep, deep waters. The first time I came here, it was a transformative experience. It was a powerful and violent experience. It was just like taking acid for the first time—meaning, What do I do now? I see the whole world in a different way. […]
You hear about it. You go see it. A whole window opens up into a whole new thing. And you think, What does this mean? What do I have left to say? What do I do now?
Wenngleich ich zu dem Teil mit Acid nichts beitragen kann, fasst der Rest seiner Gedanken meine Empfindungen präzise zusammen. Ich wünschte, ich hätte sie so formuliert.
Hier ist jetzt schon längst die Sonne untergegangen. Das Lichtermeer von Tokio erstreckt sich hinter den Fenstern meines Hotelzimmers bis zum Horizont, im Hintergrund ist der Fuji zu sehen – ein Anblick, für den sich schon die ganze Reise lohnt.
Um acht habe ich eine Reservierung bei Harutaka. Es ist derzeit Japans einziges Sushi-Restaurant mit drei Michelin-Sternen. Dieses Alleinstellungsmerkmal ist in diesem Fall aber nur ein Hinweis darauf, dass das Restaurant überhaupt noch für die Öffentlichkeit reservierbar ist. Viele andere Restaurants, die man nur noch mit Stammgästen besuchen kann (um dann eventuell selbst mal einer zu werden), hat der Guide Michelin längst aus seinem Restaurantführer gestrichen oder gar nicht erst aufgenommen. Zwei davon werde ich in den kommenden beiden Tagen besuchen.
Harutaka habe ich zufälligerweise auf den Tag genau vor sechs Jahren schon einmal besucht. Es war da noch mit zwei Sternen ausgezeichnet; ich empfand die Qualität aber schon zu der Zeit auf einem höheren Niveau, soweit meine Vergleichsmöglichkeiten eine solche Einschätzung zuließen.
Vergleiche und Erfahrung sind für das reine Genießen von Sushi, wie bei jedem Essen, zwar keine Voraussetzung, gleichwohl aber, um sie qualitativ und handwerklich einordnen zu können. Was ist Technik? Was ist Stil? Was sind Qualitätsmerkmale? (Kleiner Tipp: »frischer Fisch« ist keines.) Und da auch ich in dieser Hinsicht nur die Spitze des Eisbergs kenne – immerhin –, freue ich mich auf die heute Abend startende Besuchsstrecke dreier außergewöhnlicher Sushi-Restaurants. Diese schnelle Besuchsfolge wird es mir erlauben, unmittelbare und spannende Vergleiche anzustellen, die ansonsten, wenn viel Zeit zwischen den Besuchen liegt, kaum möglich sind.
Mit 12 Plätzen um einen L-förmigen Tresen aus Hinoki-Holz und einem weiteren privaten Speiseraum ist das Harutaka ein eher großes Sushi-Restaurant. Zwei Seatings sind in solchen Sushi-Restaurants üblich, meist mit einer Differenz von drei Stunden. Acht Uhr ist die spätere Schicht im Harutaka.
Küchenchef Harutaka Takahashi, einstiger Schüler von Sushi-Legende Jiro Ono, ist als Traditionalist bekannt, wenngleich diese Einordnung im Vergleich zu ähnlichen Sushi-Restaurants nur den erfahrensten Sushi-Essern gelingen dürfte.
Den Beginn machen hier die Otsumami, die Vorspeisen. Die erste ist ein heißes Dashi, in das eingerollter, gedämpfter Chinakohl vor sich hin zieht und von getrockneten Thunfischstreifen begleitet ist. Das ganz klassisch mit Kombu und Katsuobushi zubereitete Dashi wurde nicht weiter aromatisiert, etwa mit einer Zitrusfrucht, was die traditionelle Ausrichtung der Küche unterstreicht. Die Kreation lebt von ihrer eleganten Leichtigkeit bei dezenten Aromen, aber einer so präzisen Balance von Umami, Salz und Frische, um das nicht weniger als hervorragend zu finden. (8/10)
Das folgende Gericht schließt an diese Eleganz an. Baby-Salzwasseraal aus Shikoku, den man auch mühelos mit Pasta verwechseln könnte, simmert in einer nun etwas dunkleren, kräftigeren Brühe zusammen mit etwas sonderbaren, gepufften Teigflocken, die an aufgeweichte Corn Flakes erinnern. Sehr aromatisches Schnittlauch liefert dazu einen angenehmen Frische-Kick. Wundervoll. (8,5/10)
Der nächste Snack ist exemplarisch für ein Phänomen, das ich häufig im Zusammenhang mit japanischer Küche erläutern muss. Es gibt drei Scheiben lauwarmen Oktopus, dazu etwas Meersalz, vermutlich aus Okinawa, weil dort das beste Salz Japans herkommt. Das ist alles. Und doch ist dieser kleine Snack nicht weniger als atemberaubend gut. Die Textur, der »Biss«, die Temperatur, die Saftigkeit, das leicht maritime Aroma, die feine Süße, die Form, Größe und das Volumen der Stücke, das sorgfältige vorherige Parieren der Tintenfischarme, der leicht wellenförmige Schnitt: All diese Parameter nimmt man zwar beim Verzehr nicht einzeln wahr, aber in Summe. Man versteht, warum mit umami im Japanischen mehr gemeint ist als das bloße Aktivieren der entsprechenden Rezeptoren; es ist ein vollkommendes Gefühl absoluten Wohlgeschmacks.
Ein Küchenchef wie Takahashi wählt mit seiner Erfahrung täglich genau die Exemplare auf dem Großmarkt aus, die er in dieser Hinsicht – also für die jeweilige Zubereitungsart – für perfekt hält. Küchenchefs wie er haben die entsprechende Erfahrung, sie sehen es den Tieren an. Und daher ist die Frage, die mir oft gestellt wird, ob so etwas nicht vergleichsweise einfach zu reproduzieren sei, ganz klar zu verneinen. Die meisten Küchenchefs würden schon an der Auswahl des Tintenfischs scheitern – und selbst, wenn sie ihn zufällig bekämen, an der Gartechnik und am Handwerk mit dem Messer. Wenn man so etwas zum ersten Mal probiert, ist das ein einschneidendes Erlebnis. Man erlangt einen ganz neuen Blick auf Küche, auf Dinge, die nötig oder unnötig sind, auf Handwerk und auf Rohstoffe. Es ist eine Welt dahinter, hinter dem Bekannten. (10/10)
Es folgt Fugu. Kugelfisch hat gerade Saison in Japans Spitzenrestaurants, daher werde ich dieser kulinarisch eher langweiligen Delikatesse auf dieser Reise noch häufiger begegnen. Hier wurde der Fisch gegrillt, zwei Stücke davon auf dem Teller angerichtet, dazu gibt es kühles, mit Ponzusauce aromatisiertes Daikonpüree. Kugelfisch hat eine sehr harte Konsistenz, etwa so, als würde man auf einem Gummiband kauen. Durchs Grillen wurde er hier ein bisschen zarter und schmeckt in Begleitung des kühlen, frischen Pürees durchaus sehr gut. Auf ein besonders hohes Genussniveau kann dieser Fisch nach meiner Erfahrung jedoch nicht gehoben werden. (7/10)
Amadai (Ziegelbarsch) reißt das Ruder wieder herum. Der zarte, geradezu buttrige Fisch, mit eleganter Süße, ist hier in einem heißen Dashi angerichtet, in dem noch etwas Rettich nachgart. Das Gericht ist ein weiteres Beispiel für die Kunst der japanischen Küche, einfache Zutaten auf subtile Weise zu veredeln. Der Gang begeistert mit Hitze, »Reinheit«, Transparenz und Texturen – hervorragend. (8/10)
Der nächste Gang ist ein Sashimi von der Barfinflunder (Matsukawagarei), das lediglich von etwas Rakkyo (japanischer Wildzwiebel), Algen und frisch geriebenem, duftendem Wasabi begleitet wird. Das ist herausragend – nicht nur wegen der buttrigen Üppigkeit des Fischs, sondern wegen eines intensiven Eindrucks von »geschmacklicher Frische«, die die Zutaten insgesamt vermitteln. Der scharfe Wasabi pustet wie ein kräftiger Wind durch das Gericht. Produktminimalismus auf höchstem Niveau. (9/10)
Auch Abalone ist danach bemerkenswert, mit einer abermals buttrigen Konsistenz – bei gleichwohl bissfester Textur –, mild-nussigem Aroma und einer dicklichen Abalone-Sauce, die dezent das Aroma des Schneckentiers unterstreicht. Hier liegt die Kunst erneut im Weglassen. (8,5/10)
Geräucherte Makrele (Sawara) mit getrocknetem Seetang (Nori) ist dann wieder etwas »lauter«, mit einem gehaltvollen, saftigen Fisch, der dezente Röstaromen aufweist, und einer säuerlich-salzigen Ponzu-Sauce mit Schnittlauch. Die trinke ich zum Schluss einfach aus, trotz der dafür etwas ungeeigneten Tellerform. Unbegreiflich gut. (10/10)
Fischmilch (Shirako) vom Kugelfisch (Fugu) ist kaum weniger grandios. Die skurrile Delikatesse wurde gegrillt und hat – im Gegensatz zu der vielleicht etwas bekannteren Fischmilch vom Kabeljau – eine deutliche zähere Außenhaut. (Im Wesentlichen ist das ganze Tier eine zähe, giftige und stachelige Kreatur, die niemand verzehren wollen würde – außer die Japaner, die das vermutlich gerade deswegen tun.)
Zerteilt man die Membran mit dem Löffel, kommt das heiße, cremige, leicht süßliche Innere zum Vorschein. (Man darf nur nicht genau darüber nachdenken, was man da eigentlich isst: Fischsperma.) Eine dunkle Sauce, in der unter anderem die Zitrusfrucht Daidai verarbeitet wurde, kontrastiert die Fischmilch mit leichtem Salz, etwas Umami und einer zupackenden Säure. Das ist trotz aller Skurrilitäten ganz großes Kino. (9/10)
Dann erst beginnt der Küchenchef mit der Zubereitung des Sushi. Takahashi ist ein gelassener Typ – er wirkt den ganzen Abend über konzentriert, höflich, aber professionell distanziert.
Den Auftakt macht Tintenfisch, eine meiner Lieblingszutaten für Nigiris. Es ist nicht eingeschnitten, was eine Stilfrage ist, und mit einer leichten Sojasauce bepinselt. Die perfekte Größe und die idealen Proportionen fallen schon optisch auf. Am Gaumen präsentiert sich der Reis (das Shari) kompakt und mit präsenter Säure. Der Schmelz und die Bissfestigkeit des Tintenfischs sind bemerkenswert. So etwas kann nur aus der Hand eines Großmeisters kommen. Das Nigiri bleibt nur für meinen Schnappschuss auf dem Tablett – weitere Sekunden würden alles verändern.
Es folgt Sayori (Japanischer Halbschnäbler), erneut fabelhaft proportioniert.
Die Thunfischtrilogie, die einem in Sushi-Restaurants dieser Art typischerweise geboten wird, beginnt mit dem mageren Teil, Akami. Himmlisch.
Das mittelfette Stück, Chutoro, ist dann reines Umami. Ich muss die Augen schließen.
Otoro, oft – aber nicht immer – das Highlight, ist dann auch hier der Gipfel dieses Dreiklangs und schmeckt als hätte sich Butter in einem Fischkostüm versteckt. Der Fisch löst sich am Gaumen sofort auf und bietet mit seinem tranigen Fett einen geschmacklichen und texturellen Hintergrund für den Genuss des körnigen Shari.
Kohada, eine Heringsart, begeistert wie üblich mit einer feinen Säure und erinnert geschmacklich zwangsweise an Rollmops. Die langen Einschnitte im Fleisch ermöglichen einerseits, dass der Fisch nicht komplett mit den Zähnen zerteilt werden muss, andererseits eine bessere Integration der Sauce, die der Küchenchef aufgestrichen hat.
Kobashira, der Adduktor-Muskel der Trogmuschel, präsentiert der Chef als Gunkan, d. h. in einer schiffchenförmigen Nori-Rolle mit Sushi-Reis. Der Snack ist, man wagt es kaum zu denken, zutatenbedingt eine Nuance trocken – auf nichtsdestoweniger hohem Niveau. Letzteres ist der Fall, weil Reis und Alge allein schon einen seltenen Hochgenuss bieten.
Kuruma-Garnele aus Nagasaki ist warm, bissfest, leicht süß und wieder ganz großartig.
Buri, ältere Stachelmakrele (jüngere Tiere heißen Hamachi), liefert dann wieder einen Gänsehautmoment, mit einer optimalen, handwarmen Temperatur und einem Schmelz, der an fettigen Thunfisch erinnert. Genau wie Letzterer, löst sich auch dieser Fisch am Gaumen in vollendeten Wohlgeschmack auf.
Auch ein Gunkan-Maki mit Seeigel – in diesem Fall Murasaki uni aus Aomori – ist erwartungsgemäß sensationell. Kühl wie das Meer, cremig, maritim, nussig und mit feiner Süße ausgestattet, ist das ein glücklich machender Happen auf höchstem Genussniveau.
Hamaguri (Japanische Venusmuschel) ist ein weiterer grandioser Happen, mit festem Biss, einer süßlichen Sauce und einem beherzten Wasabi-Kick.
Sawara (Makrele) zementiert dann noch einmal Takahashis Feingefühl für Temperaturen, Schnitte und Proportionen.
Akagai (Archenmuschel), ein weiterer Klassiker für Sushi im Edo-Stil, begeistert mit der ausgeprägten maritimen Salzigkeit der Muschel in Verbindung mit der feinen Säure vom Reis. Das ist weiterhin auf Weltklasseniveau.
Wie üblich, ist jetzt der Moment gekommen, an dem einem der Küchenchef noch mal die Möglichkeit gibt, einige Nigiri nachzubestellen (was natürlich voraussetzt, diese jetzt noch mal gedanklich abrufen zu können). Man wundert sich übrigens, wie gut das kleine Team den Überblick über die Bestellungen der Gäste behält. Ein klassisches Kassensystem verwendet man hier nicht. Auch das hat mit Vertrauen zu tun – zum Schluss steht in solchen Restaurants immer nur ein Endbetrag auf einem Zettel. In diesem Fall sind es für mich 110 000 Yen, ca. 670 €. (Wir sind zu viert, es flossen auch Sake und Wein, u. a. ein exzellenter 2020er Puligny-Montrachet »Clos de la Mouchère« von Henri Boillot – Preis nicht notiert. Vermutlich macht das Menü grob die Hälfte aus.)
Meine Wahl für die Extra-Nigiris fällt auf ein Wiederholungsstück Otoro, das auch beim zweiten Mal so grandios ist wie das erste, und auf einen anderen Seeigel – Bafun uni –, den Takahashi auch noch vorrätig hält. Der schmeckt etwas maritimer als der erste und reiht sich in das Niveau der besten Nigiris des Abends ein.
Tamago (Omelette) – karamellartig, dicht und weich – und ein süß schmeckendes Maki mit eingelegtem Kürbis (Kampyo) schließen das herausragende Mahl ab. (Nigiri-Folge: 9/10)
Morgen Abend geht es dann weiter zur Sushi-Legenda Takaaki Sugita. Ich kann es kaum erwarten.
Informationen zu diesem Besuch | |
---|---|
Restaurant: | Harutaka |
Chef de Cuisine: | Harutaka Takahashi |
Ort: | Tokio, Japan |
Datum dieses Besuchs: | 18.01.2025 |
Guide Michelin (Tokyo 2025): | *** |
Meine Bewertung dieses Essens | |
Dieser Bericht in den sozialen Netzen: |