Reisgiganten, Teil 2 – Sushi Sugita

Nach den kulinarischen Sternstunden gestern bei Harutaka steht heute ein weiterer wohlklingender Name in meinem Terminkalender: Sugita. Gemeint ist das Restaurant von Sushi-Großmeister Takaaki Sugita in Tokio, dessen Restaurant vollständig Nihonbashi Kakigaracho Sugita heißt. Das Restaurant steht auf der renommierten japanischen Bewertungsplattform Tabelog an Platz 1 aller japanischer Sushi-Restaurants, vor anderen Größen wie Amamoto, Saito und Sawada. (Zur Einordnung: das mit drei Michelin-Sterne bewertete Harutaka steht auf Platz 34.)

Kurz vor 17:30 Uhr, der früheren Schicht, stehe ich vor der Tür des Restaurants, die man schnell übersehen würde, liefe man an ihr vorbei – typisch Tokio. Immerhin ist das Restaurant mit einem Eingang an der Straße dennoch ungewöhnlich zugänglich. Die meisten anderen Restaurants in Tokio verstecken sich in irgendeinem Stockwerk eines Geschäftsgebäudes und erfordern nicht selten eine längere Suchaktion.

Die anderen Gäste, die sich nach und nach, alle pünktlich, vor dem Eingang versammeln, dürften entweder Stammgäste sein oder in Begleitung von solchen kommen, so wie ich. Andere potenzielle Gäste haben hier praktisch keine Chance auf eine Reservierung – warum auch, wenn man als Wirt sein Restaurant mühelos Monate im Voraus füllen und sich auf Gäste verlassen kann, von denen man keine Überraschungen erwarten muss. Je öfter ich nun schon in solchen Restaurants war, umso mehr verstehe ich die Japaner in dieser Hinsicht.

Sushi Sugita ist ein kleines Restaurant mit traditioneller Einrichtung. Es gibt, neben einem weiteren Séparée, das ich nicht einsehen kann, acht Plätze am Tresen, man sitzt recht eng nebeneinander. Und trotz aller Exklusivität – oder gerade deswegen – ist die Stimmung in solchen Restaurant immer eher gelöst. Gäste plaudern mit dem Küchenchef, auch untereinander gelangt man schnell ins Gespräch.

Sugita ist augenscheinlich ein höflicher und humorvoller Mann, der sich jedoch nicht ablenken lässt. Er ist von Anfang an konzentriert bei der Sache. Seine Frau agiert dabei unauffällig hinter den Kulissen, ein weiterer Hilfskoch ist auch noch anwesend, mehr Personal sehe ich nicht.

Das Mahl beginnt mit einem kleinen Appetizer in Form eines Duos von gestreiften und gedämpften Taro-Knollen (Ebi imo), einmal mit Karasumi (getrocknetem Äscherogen) und einmal mit Sesam getoppt. Das ist zweifellos ein einwandfrei präparierter Snack, aber für das etwas pappige, sehr stärkehaltige Gemüse fehlt mir dann doch der japanische Gaumen. (6,5/10)

Aber dann: Ika, Tintenfisch, aus Kagoshima präsentiert Sugita ganz pur als dicke Tranchen, die wellenförmig eingeschnitten sind, wodurch sich die Süße am Gaumen besser entfaltet. Während ich das erste Stück probiere und meinem Gaumen wieder einmal kaum glauben kann, dass ein einzelnes Stück einer solchen Zutat so grandios schmecken kann, platziert der Meister noch rohe Jakobsmuschel aus Hokkaido auf dem Teller, die ebenfalls alle Qualitätsfragen abschließend beantwortet. Qualität hat hier nichts mit »Frische« an sich zu tun, sondern mit der spezifischen Beschaffenheit der Produkte und ihren gustatorischen Attributen. Der Qualitätsbegriff in Japan geht weit über irgendwelche Anforderungen an Lieferanten hinsichtlich Sorte und Frische hinaus. Daher sind Köche wie Sugita stets ihre eigenen Lieferanten, die jeden Tag auf dem Tokioter Fischmarkt ihre Ware auswählen. Brachial puristisch und sensationell gut. (10/10)

Es folgt Leber vom Feilenfisch (Kawahagi). Die Konsistenz dieser Delikatesse ist puddingartig und präsentiert sich am Gaumen buttrig-cremig und leicht nussig. Die Sauce, in der die eigentümliche Zutat angerichtet ist, ist hinreißend, mit würzigem Umami und einer floralen Zitrusnote. Auch der Schnittlauch, der die Würze unterstreicht, dürfte hier nicht fehlen. Es folgt danach noch ein Sashimi desselben Fischs – kühl und mit ansprechendem Biss. Ein perfektes Duo! (9/10)

Hinsichtlich der (alkoholischen) Getränke stehen hier entweder flaschenweise Champagner, alternativ Bier oder Sake zur Auswahl, kein Wein. Dass man sich hier den Aufwand einer Wein-Selektion erspart, erschließt sich aufgrund der geringen Größe und des wenigen Personals. Wir lassen uns von Sugita einfach immer wieder neuen Sake in kleinen Kännchen auf den Tisch stellen. (Selbst in teuren Sushi-Restaurants muss man dabei nicht befürchten, das Teuerste kredenzt zu bekommen – das wäre aus japanischer Sicht nur unhöflich.)

Dann geht es mit Fischmilch weiter (Shirako). Die von mir längst hochgeschätzte Delikatesse ist hier wunderhübsch angerichtet. Spätestens nach so einer ästhetischen Augenweide erträgt man den Anblick irgendeines »Pinzettentellers« mit Pünktchen und Tupfen nicht mehr. Der Shirako zeigt sich am Gaumen zart, cremig und – ganz wichtig – heiß und wird von einer würzig-frischen Ponzu-Sauce mit der Zitrusfrucht Daidai kontrastiert. Das schmeckt sensationell und ist für mich eine neue Referenz für ein Gericht mit Shirako. (10/10)

Es geht danach puristischer weiter. Sugita serviert marinierte Seeteufelleber mit Wasabi in einer leichten Sojasauce – die schmeckt cremig und vollmundig, fast karamellartig, aber deutlich fester als die vorherige Leber – sowie gekochte Austern. Die wirken auf den ersten Blick etwas verloren, sind aber qualitativ makellos. Etwas später wird dazu noch Tachiuo (ein Fisch der Gattung Haarschwänze) aufgetischt, sehr heiß, klar im Geschmack, leicht maritim und äußerst zart. Damit ergibt sich eine sehr produktnahe, maritime Zutatentrilogie der Spitzenklasse. Variiert man dazu noch ein wenig mit der dazu servierten Sudachi-Frucht und dem kühlen, geriebenen Daikon, wird das auch schon wieder mehr als hervorragend. (8,5/10)

Derweil schneidet der Meister gerade Kazunoko in mundgerechte Stücke. Dabei handelt es sich um gesalzenen, getrockneten Heringsrogen. Der Geschmack ist mild-salzig und hat eine dezente Meeresnote, ähnlich wie andere Fischrogenprodukte, ist aber deutlich milder. Das Highlight hier ist vor allem die Textur: knusprig und leicht knackend, fast wie winzige Bläschen, die beim Kauen zerplatzen. Das ist zweifellos nicht jedermanns Sache – auch meine nur in Maßen – aber die hausgemachte Delikatesse ist zweifellos hervorragend. (8/10)

Der letzte Snack dieser exzellenten puristischen Einstimmungen sind zwei Stücke vom Salzwasser-Aal (Anago). Der schmeckt zart, etwas süßlich und umami; durch das Grillen ergeben sich ein angenehm rauchiges Aroma und eine knusprige Kruste. Dazu serviert man eien großzügige Nocke frisch geriebenen Wasabi, dessen stechende Schärfe der Aal wegen seines Fettgehalts am Gaumen fast komplett neutralisiert und nur die »grüne Frische« übriglässt. Bemerkenswert gut. (8,5/10)

Dann beginnt Sugita mit der Zubereitung der Nigiris. Auffällig ist dabei seine behutsame, sanfte Art. Sugitas Bewegungen sind fließend und kontrolliert, aber auch vorsichtig und respektvoll. Es wirkt, als wolle er seine Zutaten bestmöglich behandeln, ganz so, als wären sie lebendig.

Das erste Nigiri, das mir Sugita auf die Ablage legt, kommt mit Kohada, einer Heringsart. Was mir unmittelbar auffällt, ist, dass sich das Stück noch einige Sekunden lang »setzt« (im Video fehlt dieser Teil). Es sieht so aus als machte das Nigiri seinen letzten Atemzug. Das ist ergreifend poetisch, wenngleich dies nur daran liegt, dass Sugita den Reis beim Formen der Nigiris nicht so stark komprimiert und ihn dadurch sehr luftig – und doch stabil – lässt. Am Gaumen spürt man diese Leichtigkeit unmittelbar, die durch eine eher zurückhaltende Säure sogar noch unterstrichen wird. So ein luftiges – und doch zusammenhängendes – Nigiri habe ich noch nie probiert. Es ist ein weiterer Referenzpunkt meiner kulinarischen Erlebnisse.

Sumi-ika (junger Tintenfisch) sieht wundervoll aus; stromlinienförmig schmiegt sich das perfekt geschnittene Stück Tintenfisch an den Reis. Durch die hier fehlenden Einschnitte, die man sonst oft bei Tintenfisch-Nigiri beobachten kann, wirkt das leicht süßliche Meerestier am Gaumen bissfester. Der Kontrast zum luftigen Reis ist spannend, wohlschmeckend und zum Augenschließen gut.

Madai (Goldbrasse) lässt mich jetzt auch noch mal speziell die perfekten Proportionen zwischen Fisch und Reis bewundern. Bei Harutaka Takahashi gestern kragte der Fisch meist etwas weiter über den Reis hinaus. Das ist eine Stil- und keine Qualitätsfrage, aber ich liebe Sugitas Proportionen – und bin überhaupt begeistert, dass man hinsichtlich solcher Merkmale Präferenzen entwickeln kann, was mir nur wegen der kurzen Taktung der Restaurantbesuche hier möglich ist. Der Fisch selbst ist buttrig zart – ungewöhnlich für Brassen, die man aus unseren Gefilden kennt – und schmeckt subtil nach Meer. Etwas Wasabi, der zwischen Reis und Fisch appliziert ist, und ein Pinselstrich Sojasauce fügen weitere spannende Facetten hinzu.

Kanpachi (Große Bernsteinmakrele) bekommt durch eine mehrtägige Reifung eine distinguierte Süße und zarte Textur – am Gaumen vollmundig, umami, buttrig, sensationell.

Während Sugita weitere Nigiris für andere Gäste zubereitet, stelle ich weitere Beobachtungen an. Wenn Sugita bspw. ein Nigiri auf dem Tablett des Gasts ablegt, sieht er dem Stück immer noch ein paar Sekunden hinterher. Das Beobachten dieser Geste berührt mich, weil es einen tiefen Respekt für das Sushi, den Gast und den Moment zeigt. Es ist, als würde er das Nigiri mit einem letzten Blick segnen – ein Zeichen seiner Hingabe und Sorgfalt. Diese Sekunden der Aufmerksamkeit machen deutlich, dass seine Arbeit nicht mit der Zubereitung endet, sondern dass er sicherstellen will, dass das Stück in bestmöglichem Zustand beim Gast ankommt. Nirgendwo war es für mich offenkundiger, dass es um diesen kurzen Moment geht, in dem man das Nigiri verzehren muss.

Gleichzeitig offenbart sich darin eine Art Demut: Sugita beobachtet, ob sein Werk genau so präsentiert wird, wie es von ihm gedacht war. Vielleicht ist es auch ein stiller Dialog mit dem Gast – ein unausgesprochener Wunsch, dass dieses Sushi Genuss bringt. In dieser kleinen Geste steckt all das, was einen großen Sushi-Meister ausmacht: Liebe zum Detail, Perfektionismus und ein tiefes Verständnis für das Wesen von Sushi.

Akami, magerer Thunfisch, glänzt danach appetitlich und präsentiert am Gaumen seine typische, klare Reinheit und tiefes Umami in Verbindung mit einer leicht mineralischen Note.

Interessanterweise findet hier jetzt nicht, wie oft üblich, eine Trilogie dreier Thunfisch-Schnitte statt; stattdessen geht es mit Sawara (Makrele) weiter. Jetzt im Winter werden in Japan die besten Qualitäten gefangen. Das Stück ist eine Sensation, mit bereits optisch perfekten Proportionen, einer zarten Konsistenz und mildem Umami. Es sind fast nie die Aromen, die bei Sushi die Begeisterung auslösen – es ist immer das Zusammenspiel von Proportionen, Texturen und einer wohlschmeckenden Balance zwischen den Grundgeschmacksrichtungen süß, sauer, salzig, umami und – seltener – bitter.

Diese Balance kann man auch perfekt beim nächsten Nigiri mit Kasugo (junger Meerbrasse) beobachten. Der Fisch, dessen Vorbereitung ein mehrtägiger Prozess ist, der das Einlegen in Salz sowie das Abspülen und Marinieren mit Essig beinhaltet, offenbart ein komplexes Geschmacksbild zwischen Salzigkeit, Süße, Säure und Umami. Ich muss inzwischen bei jedem Stück die Augen schließen.

Dann folgt mit Chūtoro der zweite – nun mittelfette – Thunfisch. Die optimalen Proportionen, der lebhafte Glanz und die ideale Größe des Nigiri dürften selbst weniger erfahrenen Sushi-Essern sofort auffallen. Auch dieses Stück »setzt« sich noch einige Sekunden und erinnert dabei an etwas gerade noch Lebendiges. Chūtoro ist immer eine harmonische Mischung aus der kräftigen Umami-Note des Akami und der Buttrigkeit des noch fettigeren Ōtoro. Die Textur ist seidig, mit butterzartem Biss und einer milden Süße. Es ist ein weiteres grandioses, perfektes Stück Nigiri.

Mit dem nächsten Nigiri mit Iwashi (Sardine) folgt die nächste Offenbarung. Der von Natur aus ölreiche, geschmacksintensive Fisch mit tiefer, buttriger Umami-Wucht wurde von Meister Sugita in Form von drei dünnen Scheiben quer auf den Reis gelegt. Diese Schichtung intensiviert die Geschmackstiefe. Dazu ist der Fisch so präpariert und geschnitten, dass die feinen Muskelfasern am Gaumen fast unmerklich nachgeben – es gibt keinen Widerstand, nur eine Art von samtiger Weichheit. Die körperwarme Temperatur des Nigiri sorgt zusätzlich für ein Gefühl von absoluter Balance. Ich kann hier nur weiter in Bewunderung schweigen und genießen.

Kuruma-Garnele – warm, kompakt und süßlich-nussig – ist weitere Perfektion, vor allem in Verbindung mit Sugitas luftigem Reis.

Kinmedai (Glänzender Schleimkopf), wurde leicht gegrillt und setzt damit appetitliche Kontraste zu seiner zart-buttrigen Textur und eleganten Süße, die durch das geschmolzene Fett noch intensiver hervortritt.

Bafun uni, eine kleinere Seeigelart, ist ein weiteres Meisterwerk. Handwerklich verzichtet Sugita sogar auf das bei Seeigel sonst übliche Noriblatt, das bei dieser cremigen Zutat für mehr Stabilität sorgt. Stattdessen entfaltet sich hier die dichte, buttrige Cremigkeit des Seeigels direkt auf der Zunge, mit einer intensiven Süße und tiefem Meeresumami.

Eine würzige Misosuppe bringt etwas Ruhe in das emotional aufwühlende Mahl. Doch ohne ein paar Nachbestellungen denke ich noch nicht ans Ende.

Ich bestelle noch einmal Sawara (Makrele), obwohl diese Wahl fast zufällig war, sowie noch ein Nigiri mit einem anderen Seeigel, Murasaki uni, mit maritimer Mineralität und leichter Süße – ein vollmundig-cremiger und fast schwebender Genuss.

Mit Anago (Salzwasser-Aal) leitet Sugita dann tatsächlich das Ende ein, und auch das überrascht, denn Sugita verwendet hier nicht die traditionelle süße, dickflüssige Sauce namens Tsume, sondern nur eine Prise Salz.

(Sushi-Gang im Schnitt: 10/10)

Ein quaderförmiges Stück Tamago (Omelette) vollendet schließlich dieses grandiose Mahl – federnd und doch cremig zugleich, mit einer eleganten Balance von Süße und Umami.

(Mit etwas Bier und üppig nachgefülltem Sake beträgt meine Rechnung am Ende 96 800 Yen (ca. 600 €); ich vermute, mehr als die Hälfte davon fürs Essen. Man weiß das in Japans Restaurants nie so genau.)

Eines der denkwürdigsten, prägendsten Essen, die ich je genießen konnte – vor acht Jahren bei Sushi Saito – hat heute Abend ernsthafte Konkurrenz bekommen. Welch fesselnder Gedanke, dies schon gleich morgen überprüfen zu können.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Nihonbashi Kakigaracho Sugita
Chef de Cuisine: Takaaki Sugita
Ort: Tokio, Japan
Datum dieses Besuchs: 19.01.2025
Meine Bewertung dieses Essens: 10 (Was bedeutet das?)
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