Potong – zwischen Stern und Story
Das mit einem Michelin-Stern ausgezeichnete Potong zählt seit seiner Eröffnung zu Bangkoks Aufsehen erregendsten Restaurants. Küchenchefin Pichaya Soontornyanakij, die fast alle »Chef Pam« nennen, eröffnete im Jahr 2021 in der ehemaligen Apotheke ihrer einst aus China eingewanderten Familie ein Restaurant. Seitdem hagelt es Auszeichnungen.
Schon das Gebäude ist ein Grund, hier zu reservieren. Das schlanke, längliche Haus erstreckt sich über fünf individuell gestaltete Etagen und beeindruckt am Abend mit einer stimmungsvollen Beleuchtung und einer von starken Kontrasten geprägten Architektur. Holz, Blech und wirre Bündel offener Stromleitungen – hier in Chinatown ein vertrautes Bild – verleihen dem über hundert Jahre alten Gebäude seinen markanten Charme.
Von der Straße aus kann man bereits in das atmosphärische Erdgeschoss blicken, wo man nach dem Empfang auf einer langen Sitzbank vor tischhohen Glasvitrinen platziert wird. Hohe Regale mit leeren Apothekerflaschen und weitere Gefäße mit mysteriösem Inhalt könnten auch der Kulisse eines Horrorfilms entsprungen sein.
Dennoch geht es hier freundlicher zu. Als erstes serviert man ein kühles Getränk mit Kombucha, Tee und einer Blüte – leicht prickelnd, süß und mit exotischen Aromen, die an Vadouvan erinnern. Dazu reicht man eine kleine Broschüre mit Hintergrundinformationen zum Restaurant und dessen Historie. Ich überfliege diese, verbringe meine Abende in Restaurants aber ungern mit dem Zurückziehen in umfangreiche Lektüre.
Nach und nach werden die Gäste mit einem sehr engen Fahrstuhl ins oberste Stockwerk gefahren.
Auf der Dachterrasse gibt es erste Snacks: einen frittierten, mit flüssigem Käse gefüllten Teigball – leicht, würzig, herzhaft, ähnlich wie Gougères – und eine Tartelette mit Blüten und Schinken, die nach Labello schmeckt – etwas sonderbar. Beides ist gut, aber unverfänglich (6,9/10). Ein Glas von einem nicht näher notierten Chenin Blanc wird mir dazu als offene Option angeboten.
Eine Treppe, die mit ihrer Steigung eher einer Leiter gleicht, führt dann hinab in den Speisesaal. (Wer hier ausrutscht, kann gleich Bangkoks Krankenhäuser von innen testen.) Dunkles Holz, exotische Wandmalerei und chinesische Memorabilien prägen die mysteriöse, fernöstliche Atmosphäre.
Am Tisch kommt dann einiges an Arbeit auf einen zu. In der Weinkarte hatte ich bereits online stöbern können und mir damit einen signifikanten Zeitvorteil verschafft. Die Karte ist grafisch ansprechend gestaltet, aber verkopft gegliedert. Kategorien wie Soil, Acidity and Reflux oder Salt Is As Inexorable As The Sea klingen zwar sehr lyrisch, erschweren aber das viel praktischere Stöbern nach Kategorie und Herkunft. Die Weingüter sind alle sehr individuell und international – meine Wahl fällt schließlich auf einen 2020er Pinot Noir »Jaspis Zipsin« des Badener Weinguts Ziereisen (6 000 THB, ca. 168 €).
Das Menü an diesem Abend, kurz vor Silvester, ist ein spezielles Festtagsmenü. Wie ich es derzeit, besonders im asiatischen Ausland, immer öfter erlebe, erfährt man den Preis (ca. 246 €) erst auf der Rechnung. Dafür erfährt man umso mehr über das Konzept, denn inzwischen stapelt sich ein Sammelsurium an Dokumenten auf dem Tisch: Neben der Weinkarte und dem Menü gibt es einen Comic über die Entstehung von Erinnerungen im Gehirn – in meinem Fall sogar auf Deutsch –, eine Postkarte mit einem sehr persönlichen Nachruf der Köchin auf ihre Großeltern, die sie nie kennen lernte, eine Karte mit zwei aufpreispflichtigen Zusatzgerichten (ich wähle eines davon) sowie drei aufwändig illustrierte Tafeln, mit denen man den Detailgrad bestimmen kann, in dem der Service die Gerichte erläutern soll.
Letzteres ist eine interessante Idee, denn nichts ist nervenaufreibender als lange Vorträge, während das Essen bereits vor einem steht (und ich ahne bereits, dass es hier sehr viel zu erzählen gibt). Also entscheide ich mich für die goldene Mitte (»Whisper of a Tale«), bei der einfache, klare Informationen vermittelt werden sollen, anstatt der gesamten Geschichte.
Dann geht es endlich los mit dem ersten Gang. Der präsentiert sich in schwarzbraunen Schattierungen, in Form eines äußerst fragwürdig aussehenden, wurstförmigen Stücks schwarzen Huhns, das an vieles erinnert, nur nicht an Appetitliches. Dazu gibt es frisch gehobelten Wintertrüffel aus dem Périgord und eine trübe, dichte Suppe aus Kräutern, Pilzen und Chilischoten – pikant, heiß und gehaltvoll. Die schwarze Hühnerzubereitung ist etwas skurril und schmeckt eher trocken – ich kann nicht ausmachen, um welche Art von Zubereitung es sich hierbei handelt. Geschmacklich ist das alles sehr gut, aber nicht zum Begeistern. (7/10)
Gang Nummer zwei sieht ansprechender aus. Es gibt Kuay Chap, eine chinesische Suppe, die mit Schweineinnereien gekocht wird, dazu Abalone, dünn aufgeschnittene Schweinezunge und Kaviar. Das Gericht duftet animalisch und erinnert damit an Andouillette, die Schweinewurst aus der Champagne. Auch geschmacklich schwingt diese rustikale Note mit, die von einem aromatischen Pfeffer noch unterstrichen wird – doch die maritimen Aromen von Abalone und Kaviar bringen eine feine, jodige Frische ins Spiel, die zusammen mit etwas Schnittlauch alles etwas auflockern. Das ist handwerklich bemerkenswert und sehr spannend. (8/10)
Der dritte Gang ist eine cremige Zubereitung aus Krebs, Mais (als Schaum) und Alge. Eine dazu servierte Brioche – heiß, buttrig und fluffig – dient als »Werkzeug« zum Dippen. Die Kombination aus verschiedenen Zutaten mit süßlichem Geschmack (Brioche, Mais und Krebs) hinterlässt durch das Gegengewicht eines erneut besonders aromatischen Pfeffers dennoch keinen allzu süßen Eindruck am Gaumen, sondern süffige, maritime Saftigkeit. Eigenwillig, aber sehr gut. (7/10)
Was das Erlebnis an sich betrifft, will der Funke bisher nicht ganz überspringen. Die Atmosphäre ist zwar originell, das Personal freundlich und professionell, aber es fühlt sich alles etwas abgespult an. Und obwohl die Beschreibungen der Gerichte sicher vorgetragen werden, wird das Storytelling vom Service nicht gelebt.
Noch ein weiteres Detail schafft Distanz zwischen Gast und Service: die Headsets, die alle Mitarbeiter tragen. Auf mich wirkt das immer wie eine unsichtbare Barriere – als würde man mit einem durchgetakteten System interagieren als mit echten Gastgebern.
Der nächste Gang ist eine Interpretation von Pad Thai, einem der traditionellsten thailändischen Gerichte (mit chinesischem Hintergrund) überhaupt – eigentlich ein Nudelgericht. Ein Schaukasten mit den Grundzutaten des Gerichts, inklusive einer Erklärtafel, die mit den kopflastigen Worten »During World War II …« beginnt, steht während des Gangs auf dem Tisch.
Das Gericht besteht letztlich aus drei Speisen. Eine Nakhon Si Thammarat-Garnele, die mit einer würzigen Masse aus Garnelen und pikanten Gemüsen sowie mit Bandnudeln in den Farben der thailändischen Flagge belegt ist, schmeckt säuerlich, mit mundfüllender Umami-Tiefe und einer feinen Schärfe, die sich langsam aufbaut. Die Nudeln bleiben geschmacklich eher im Hintergrund. Dazu gibt es eine Garnelensuppe, die interessant blumig schmeckt und eine leichte Süße aufweist, sowie einem sehr fettigen »Brötchen« mit einer frittierten, pikanten Auster. Solche Dekonstruktionen sind oft weniger befriedigend als ihr Original, doch ohne den Vergleich bleibt hier ein stimmiges Ensemble aus markanten Aromen und abwechslungsreichen Texturen. (7/10)
Trotz an sich anstandsloser Zubereitungen ist in diesem Mahl schon jetzt die Luft raus. Der überladene kontextuelle Überbau schafft Erwartungen, die die Gerichte schlicht nicht einlösen. Ich frage mich daher eher skeptisch als erfreut, was als nächstes folgt.
Das ist ein Stück Wolfsbarsch, grenzwertig kross gebraten und in der Folge auch eine Nuance übergart. Er ist ganz schlicht in einer sehr aromatischen Fischbrühe mit Estragonöl angerichtet – würzig, leicht und pikant. Hätte man der Garung des Fischs etwas mehr Sorgfalt gewidmet, wäre das schlichte Gericht sehr gut. (6,9/10)
Und dann folgt eine Skurrilität, die mich irritiert. Ein Gefäß in Form eines Entenschnabels, bei dem der Deckel abgenommen und mit braunem Sud aufgegossen wird, erinnert unweigerlich an eine Miniatur-Toilette. Dass darin auch noch bräunliche Speisen serviert werden, macht die Sache nicht besser – im Gegenteil, ich finde es abstoßend. Es ist bereits die zweite fäkale Assoziation in diesem Menü – und dafür muss man wahrlich nicht um die Ecke denken. Was geht in der Küchenchefin vor? Ist das hier Versteckte Kamera?
In der ersten Schüssel steckt ein Rübenküchlein mit knuspriger Entenhaut – süßlich-würzig, mit kurzweiligem Texturkontrast. Die zweite Schüssel birgt einen Sud aus 14 Tage gereifter Ente – tief konzentriert, mit markantem Entenaroma, feiner Süße und viel Umami. Geschmacklich sind die winzigen Snacks gelungen. Doch selbst wenn man die Anrichtweise ausblendet, bleibt das Erlebnis irritierend. (7/10)
Der Hauptgang schließt an den Sud an und präsentiert die Ente nun – deutlich appetitlicher – in Form eines kross gebratenen, saftigen Bruststücks als Leitmotiv. Dazu gibt es gegrillte Würfel von gepresstem und geschmortem Fleisch aus der Keule – würzig und »anisig« –, sowie diverse Gemüsebeilagen und Saucen zum Kombinieren. Gegrillte Auberginen sowie sehr aromatische, frische Gurke gefallen dazu besonders gut. Auch eine anfangs leichte, dann immer lauter werdende Schärfe bereitet Laune. (7,5/10)
Zu dem zum Teilen servierten Gang wird parallel auch mein Add-on serviert (zzgl. ca. 50 €): japanisches Okayama Takenotan-zuru Wagyu, das mit »thai-chinesischen« Kräutern gebeizt, geschmort und schließlich mit hauseigener Barbecue-Sauce gegrillt wurde. Das Fleisch hat erwartungsgemäß einen hohen Fettgehalt und ist buttrig-schmelzend am Gaumen. Obwohl das Menü bisher nicht allzu üppig ausfiel, ist mir dieser Gang schon fast zu viel. Dennoch: die Gewürze, das Ausnahmeprodukt, die umamibetonte Sauce – das ist schlichtweg hervorragend. (8/10)
Ein Dessert mit Passionsfrucht, das man irritierenderweise gebeten wird, direkt mit dem Mund von einem Eisblock abzuessen, führt zu gefrierverbrannten Lippen und schmeckt wie Maracuja mit Salz – erfrischend und säuerlich. (6,9/10)
»Layers of Potong« ist ein quaderförmiges, legosteinartiges Dessert in Form des Gebäudes, und besteht aus verschiedenen Kokos-Zubereitungen. Ich habe nie verstanden, warum einige kein Kokos mögen – ich finde die Assoziationen an Sonnencreme, Sommer und Tropen immer gut. Die Aromen entführen einen in die Ferne (selbst in Thailand). (8/10)
Zusammen mit verschiedenen Pralinen, u. a. mit Pandane, Mango und Kaffee – alle sehr gut bis hervorragend – ist das ein gelungener Abschluss. (7,5/10)
Und doch ist es eines dieser Essen, bei denen man erleichtert ist, wenn der letzte Gang vorüber ist. Nichts war explizit beklagenswert, aber nichts war nachhaltig eindrucksvoll. Der konzeptionelle Überbau in Kombination mit dem etwas herzlosen Service lässt den Raum für echte kulinarische Emotionen jedenfalls vermissen.