Sézanne – à la française
Belon in Hongkong, Epicure in Paris, Per Se in New York, Pied à Terre in London: Das sind nur einige der schwergewichtigen Stationen in Küchenchef Daniel Calverts Vita.
Angestellte Köche, die durch die Sterneküchen der Metropolen tingeln, gibt es viele. Aber nur wenige schaffen es dabei zu so viel Aufmerksamkeit wie Calvert – und das auch noch mit französischer Küche in einem formellen Fine-Dining-Kontext. So ganz en vogue klingt das jedenfalls nicht. Doch der 34-jährige Brite hat längst eine Fangemeinde an Essbegeisterten, die ihm dorthin folgt, wo immer er auch gerade am Herd steht. Derzeit ist dieser Ort das Restaurant Sézanne im Four Seasons Hotel Tokyo at Marunouchi.
Das Restaurant wurde während der Pandemie zusammen mit Calvert eröffnet und ist inzwischen bereits mit zwei Michelin-Sternen ausgezeichnet. Dass der Restaurantname genau so ausgesprochen wird wie der französische Maler, ist sicherlich kein Zufall; tatsächlich aber bezeichnet der Name einen kleinen Ort in der Champagne.
Die Gerichte von Calvert, die ich bisher nur von Fotos kenne, haben mich seit jeher angesprochen. Sie zeigen eine reduzierte, technisch hochakkurate und produktfokussierte Küche mit Spitzenzutaten.
Es ist Donnerstagmittag, als ich mit dem Aufzug in den siebten Stock des Four Seasons fahre. Ich bin überpünktlich und überbrücke die Wartezeit zur Restaurant-Öffnung im Barbereich, von dem aus man die Schnellzüge des Tokioter Hauptbahnhofs beobachten kann. Noch bevor ich länger darüber nachdenken kann, dass ich morgen schon in so einem Zug in Richtung Osaka sitzen werde, weckt mich jemand aus meinen Gedanken, um mich ins Restaurant zu begleiten.
Der Speisesaal ist sachlich luxuriös. Eine zurückhaltende Farbpalette mit hellen Grau- und Beigetönen, hochwertige Materialien, und Gardinen, die die Außenwelt kaschieren, aber dennoch viel Licht durchlassen, setzen einen formellen, aber angenehmen Rahmen für mein Lunch.
Zwei Menüs stehen zur Auswahl, ein zehngängiges »Menu du Jour« für 22.700 ¥ (ca. 144 €) und das vierzehngängige »Menu Sézanne« (ca. 240 €). Beide sind gegen einen Aufpreis von ca. 63 € mit Australischem Wintertrüffel aufrüstbar. Trotz meiner sehr großen Neugier auf die Gerichte von Calvert reiße ich mich in Hinblick auf ein noch folgendes Abendessen hinsichtlich der Menge zusammen und wähle das Tagesmenü. Das Trüffel-Upgrade darf es aber ruhig sein; Australischer Trüffel ist einfach unwiderstehlich.
Man präsentiert ihn auch gleich, zusammen mit dem ersten Apéro-Snack, einem Gougère, knusprig, heiß und mit vier Jahre altem, flüssigem Comté gefüllt. Es ist ein Gougère zum Augenschließen, vielleicht der beste, den ich je gegessen habe. Das Mittagessen ist schon im Kasten. (8,5/10)
Der erste Akt – als »Gang« kann man den offiziellen Start ins Menü mit drei aufeinander folgenden Petitessen nicht bezeichnen – beginnt mit einer Tartelette mit einem Tatar zweier unterschiedlicher Garnelen: Shiro ebi aus Toyama und Botan ebi aus Hokkaido. Dass man hier zwei verschiedene Sorten verwendet, zeigt, wie ernst man es hier mit den Zutaten meint. Eine Sorte allein würde vermutlich – im Vergleich – ein anderes Erlebnis bieten als das, was der Küchenchef vor Augen hat. Das Erlebnis am Gaumen ist geprägt von einer kühlen, mit Zitrusfrucht untermalten Frische, einer cremigen, mundfüllenden Textur und einer feinen Knusprigkeit von der Tartelette. Großartig. (9/10)
Das folgende, rein aus Avocado bestehendes »Sandwich« – bestehend aus einem knusprigen Avocado-Boden, Avocado-Creme und einer Avocado-Scheibe – mit Sudachi und Kristal-Kaviar greift die üppige Cremigkeit der Shrimps perfekt auf. Die neue Gaumenfreude schmeckt leicht rauchig und bietet mit dem Kaviar einen luxuriösen Salzersatz. Das ist erneut fabelhaft – und sehr präzise gearbeitet. (8,9/10)
Das akkurate Handwerk verblüfft auch bei der dritten Kreation dieser schon jetzt erstaunlichen Ouvertüre. Hauchdünne Scheiben einer Mizu-Nasu-Aubergine aus Osaka wurden für diesen Snack aufeinander geschichtet, mit einer Art Minzöl-Vinaigrette angemacht und mit Iberico-Schinken getoppt. Die Aubergine ist leicht süßlich, angenehm bissfest, und das Erlebnis am Gaumen ist nicht nur geschmacklich, sondern auch texturell ein Highlight. Aromatisch geht der Schinken zwar etwas unter (man könnte auch argumentieren, dass er, wie der Kaviar vorhin, einfach ausreichend Salz liefert), und auch die Minze ist eine Nuance zu dominant, aber das sind nur vorsichtige Optimierungsideen auf einem äußerst hohen Niveau. (8,5/10)
Auf der Weinseite bin ich heute Mittag glasweise unterwegs. Im Glas ist ein 2020er »Pensées Terre de Yoichi« von der Hirakawa Winery aus Hokkaido, ein mineralischer Wein aus der Rebsorte Kerner (ca. 21 €).
Ein traumhaft gutes, mit Beurre Bordier serviertes Sauerteigbrot markiert den Übergang zum nächsten Gang, offiziell erst dem zweiten.
Der folgt in Form einer Suppe aus und mit Mais aus Yamanashi, eine Präfektur westlich von Tokio. Das heiße Süppchen ist schaumig, man findet gegarte Maiskörner darin sowie Akzente eines pikanten Paprikaöls. Es ist die vielleicht beste Speise mit Mais, die ich je probiert habe. Die natürlich Süße, die gewitzt durch die Schärfe der Paprikaschote aufgebrochen wird, ist eine Sache – die andere ist das Aroma des Mais: zurückhaltender, blumiger und etwas frischer als man es kennt. Eine kleine Sensation. (9/10)
Und gerade, als ich mich frage, ob 10/10 nicht die richtige Bewertung für das kleine Süppchen gewesen wäre, weist mich die nächste Speise zurecht, ein Signature-Gericht von Calvert. Die Tomaten-Tarte wird zunächst im Ganzen präsentiert.
Auf dem Teller findet man dann ein Tortenstück davon, bestehend aus einem Blätterteigboden und diversen, hauchdünnen Schichten von märchenhafter Hokkaido-Tomate und einer Lage Basilikumcreme. Eine »senfige« Burrata-Sauce vollendet diese Schlaraffenland-Speise, die mit Umami, Frische, leichter natürlicher »Schärfe« und einen Gipfel an Produktqualität begeistert. Es ist das vegetarischere Pendant zur Schlemmerschnitte aus dem Sonnora und vom Genusserlebnis her auf einer Ebene. (10/10)
Es geht weiter mit einem Gericht um »Bizen Shamo«-Huhn aus Nagano, das eine Woche lang in Vin Jaune pochiert wurde. Auf dem Teller findet sich das Tier in Form von mehreren, unterschiedlichen Stücken und Schnitten wieder; eine Farce aus Estragon und Pilzen kommt bei einigen zum Vorschein.
Eine helle, dicht eingekochte Sauce auf der Basis von Hühnerfond und Vin Jaune untermalt das qualitativ fabelhafte, saftige und sehr aromatische Huhn. Die Serviertemperatur ist allenfalls lauwarm – das ist kein Fauxpas, sondern Absicht, um den Fokus auf Geschmack und Texturen zu lenken. Hitze oder gar Röstaromen könnten das Erlebnis hier verfälschen. Die Sauce ist ein makelloser Hühnerjus, leicht klebrig an den Lippen und aromatisch fein, angereichert um appetitlich-säuerliche Aromen des Vin Jaune. Technisch und qualitativ ist das erneut herausragend. (9/10)
Ähnlich kommt der nächste Gang auf den Teller. Am Tisch duftet es jetzt nach Hitze, Safran und Dill. Es gibt Kinki fish (Kurzdornkopf) aus Hokkaido, eine Delikatesse, der ich bereits in einigen asiatischen Ländern begegnet bin. Mittelmäßige Gerichte gab es mit diesem Fisch nie, und dieser Gang reiht sich nahtlos in diese Erfahrungen ein. Die Filetstücke sind saftig und schneeweiß, die (kurzen) Schuppen wurden knusprig frittiert, sind aber nicht scharfkantig, gerade so, dass eine appetitliche Knusprigkeit entsteht. Dazu gibt es kleine, mit Butter glasierte Kartoffeln und eine aromatisch pointierte Sauce mit Safran aus der Hafenstadt Ōita auf der Insel Kyūshū. Ein Hauch von sehr aromatischem Dill setzt herb-süße Akzente in dem Gericht, bei dem jede einzelne Zutat Anlass zum Staunen bietet. Abgelenkt von Duft und Genuss vergesse ich glatt, ein Foto zu machen, was mir erst später im Taxi auffallen wird. (Ausnahmsweise daher hier eines vom Instagram-Account des Restaurants, mit freundlicher Genehmigung.) (9/10)
Nach einem Glas 2019er Côtes de Nuits Village von der Domaine Pierre-Henri Rougeot (ca. 34 €) wähle ich noch einen 2019er Château Clerc-Milon (ca. 38 €) zu den nächsten Gängen. Die offene Weinauswahl ist auf einem Niveau, das man international in solchen Restaurants erwarten kann.
Besonders süffig-dekadent geht es mit Tagliolini weiter. Die schmalen, hausgemachten Bandnudeln sind in einem mit Basilikumöl aufgefrischten Parmesan-Sud angerichtet, und dazu gibt es dann eine üppige Portion Australischen Wintertrüffels. Der von einer verführerischen Süße untermalte, erdige Duft des Edelpilzes ist charakteristisch für die Trüffeln aus Down Under. Es ist eines dieser Gerichte, an dem man auch einfach nur riechen könnte, um es zu genießen. Am Gaumen erschließt sich aber noch mehr, unter anderem eine ganz leichte Schärfe, die sowohl die Trüffeln als auch das Basilikumöl verantworten. Auch das Pastahandwerk ist auffallend exzellent. Ein Wohlfühlgericht zum Reinlegen. (9/10)
Mit Reh aus Shiranuka in Hokkaido, einem eleganten Pilzjus und kleinen, aromatischen Gemüsen wie Pfifferlingen und Frühlingszwiebeln bleibt das Menü konzeptionell in Frankreich. Durch die abermals verblüffend präzise Ausführung, die souveräne Anrichtweise in Tellermitte und ein regelrecht überzeichnetes Qualitätsniveau spricht der Teller aber eine andere Sprache – die der »großen weiten Welt«. Das Reh selbst ist eines der besten, die ich je probiert habe, mit einer Konsistenz, die durch eine heterogenere Struktur und einem spürbaren Fettgehalt eher an Rindfleisch erinnert. Über den wundervoll aromatischen Gemüsen liegt noch eine transparente Scheibe Lardo für etwas Schmelz. Zudem lassen Proportionen und Mengen der Zutaten auch dieses Gericht sehr leicht wirken. Das Weltklasseniveau wird nicht verlassen. (9/10)
Das erste Dessert thematisiert »Kyoho«-Weintraube, eine wundersame, kugelrunde Traube mit hohem Zuckergehalt, wenig Säure und kaum Tannin. Die Traube wurde hier – in Stücken und als Granité – zusammen mit Panacotta, Champagner-Gelee und Thai-Basilikum zu einer kleinen Köstlichkeit zum Auslöffeln verarbeitet. Die kühle, cremige und fruchtsüße Kreation mit Aromen zwischen Pflaume und Kirsche schmeckt unwiderstehlich. (9/10)
Das zweite Dessert ist eine Mango von der Insel Kyūshū. Eine dicke Tranche der Frucht befindet hier samt (nicht essbarer) Schale auf dem Teller. Das Fruchtfleisch ist kreuzweise eingeschnitten, obenauf findet man eine große Portion »Shortbread-Chantilly«, eine mit Roggenkrumen angereicherte Crème Chantilly. Der Clou: In das Innere der Mango wurde noch eine feinknusprige Schicht kühler Kokos-Meringue eingearbeitet.
Das ist nicht nur handwerklich erstaunlich, sondern ergibt eines der besten Desserts, die ich je probiert habe. Mir ist bereits nach dem ersten Löffel klar, dass dieses Dessert sich in die Liste der für mich einprägsamsten Gerichte überhaupt einreihen wird. Erneut steht mit Mango ein unwirklich grandioses Produkt im Mittelpunkt des Werks. Die Chantilly dazu wirkt mächtig, tatsächlich reicht sie am Ende genau. Dass man in der Patisserie keine Mühen damit verschwendet, die sahnige Creme in irgendeine akkurate Form zu bringen, unterstreicht die Souveränität dieser Küche und ist einer der Gründe, warum ich immer skeptisch bin, wenn benennbare geometrische Körper auf dem Teller liegen. Hier geht es also um die süße, intensiv aromatische Mango, den von kurzweiliger Knusprigkeit unterbrochenen Schmelz der Chantilly und den exotischen Mitspieler Kokos, der mit Mango zusammen regelmäßig grandiose Desserts mit fast floraler Aromatik hervorbringen kann. Absoluter Wahnsinn. (10/10)
Ein samtig-cremiges, angenehm süßes Sauternes-Eis, an das man einen 1991er Château d’Yquem angießt, beruhigt die Nerven ein wenig, ohne den siebten Genusshimmel zu verlassen. (9/10)
Selbiges gilt für die Mignardises, eine Art Opéra-Schnitte mit verführerischen Schichten (9/10), und eine mit Kirschblüte und Mandel gefüllte, warme Tartelette mit zauberhaften Aromen und perfektem Handwerk. (9/10)
Die Küche von Daniel Calvert hinterlässt mich sprachlos, satt und glücklich. Sie ist die perfekte Antwort auf die Frage vieler, warum man ausgerechnet nach Japan fliegt, um dort französisch zu essen. Diese Küche ist aber nur scheinbar französisch. Sie ist eine Küche, die die japanischen Über-Produkte und deren Herkunft zelebriert und französisch dekliniert. Calverts Stil ist fokussiert, von erstaunlicher Klarheit und technisch brillant. Man kann sich nur wünschen, dass Calverts Reiselust erst einmal gezähmt ist. Damit man ihn nicht verpasst, wenn man zu ihm reist. Denn jeder Bissen ist das wert.
(Weitere Artikel über meine Reise nach Japan im Sommer 2023 unter diesem Link.)