Kashiwaya Osaka Senriyama – die Poesie des Hassun
Authentische Kaiseki-Küche, die regelrechte Kunstform, die aus der klassischen Teezeremonie hervorgegangen ist, habe ich zum ersten Mal auf meiner Japan-Reise vor sechs Jahren kennen gelernt. Wer ein traditionelles Kaiseki-Restaurant besucht, erlebt ein Ritual, das sich Abläufen, Ästhetik, Privatsphäre, Demut und Traditionen mindestens genau so viel widmet wie dem Essen selbst. Doch auch Letzteres ist immer einzigartig; man kommt in den Genuss hochkomplexer Menüs mit feinsten saisonalen Zutaten und einer jahrhundertealten Gangfolge. Kaiseki-Menüs zählen oft zu den teuersten der Welt. Und doch, auch das ist wieder typisch japanisch, hat all das mit Prunk und Protz nichts zu tun. Selten trifft man in einem Kaiseki-Restaurant überhaupt auf andere Gäste. Alles ist diskret, abgeschirmt und still. Kaiseki ist für einen selbst.
Das Drei-Sterne-Restaurant Kashiwaya Osaka Senriyama ist Mitglied der Relais & Chateaux-Vereinigung. Über diesen Kanal habe ich mich vor über einem halben Jahr um eine Reservierung bemüht. Nach einem etwas trägen, aber sehr freundlichen E-Mail-Austausch stand irgendwann meine Reservierung für das Menü »Ran« (50 600 ¥, ca. 322 €). Andere Menüs standen für 245 € bzw. 140 € zur Auswahl – für ein Kaiseki-Restaurant ist das gemäßigt. Wie es in Japan aufgrund der saisonalen und täglichen Anpassung der Zutaten üblich ist, werden Speisen oder Mengen bei den Menüoptionen nicht genannt.
Wenn man eine solche Reise so viele Monate im Voraus plant, muss man bei der Abwägung, welches Menü man verkosten möchte, immer versuchen, sich in die Situation vor Ort hineinversetzen. Heute ist Tag sieben meiner umfangreichen Reise. Ich habe eine Zugfahrt von Tokio nach Osaka hinter mir, wie immer auf solchen Reisen kein nennenswertes Frühstück zu mir genommen, und für den Nachmittag und Abend nur noch auf dem Plan, im Hotel einzuchecken und es nicht mehr zu verlassen. Ein üppiges Mittagessen ist daher genau das Richtige. Die Reservierung heute Mittag war zudem die einzige Schnittmenge zwischen meinen Reiseplänen und den Schließungszeiten des Restaurants.
Als ich dann aus dem staubedingt etwas zu spät vor dem Restaurant ankommenden Taxi haste (Peinlichkeit Nummer eins), steht bereits jemand in der Tür und wartet auf mich. Ich bin mit meinem Reisegepäck unterwegs (Peinlichkeit Nummer zwei), da ich gerade direkt aus Tokio mit dem Shinkansen gekommen bin. Mit drei Tagen in Osaka beginnt heute die zweite Etappe meiner Reise.
Mir kommt das alles wieder bekannt vor. Die verwinkelte Architektur vieler japanischer Kaiseki-Restaurants, dünne Trennwände aus Holz und Papier, ein Garten in der Mitte. Ruhe. Klarheit.
Den typisch karg eingerichteten Speiseraum, in dem ich die kommenden Stunden verbringen werde, erinnert mit seinen Bastmatten und einigen japanischen Schriftzeichen an der Wand eher an einen Übungsraum für Kampfsport als an einen Speisesaal.
Ich setzte mich erst mal an den in eine Bodenvertiefung eingelassenen Tisch und harre der Dinge. Die freundliche Bedienstete im Kimono verlässt zunächst wieder den Raum und schließt die Tür. Nach ein paar Minuten klopft es wieder, und die Tür öffnet sich mit einem Schiebegeräusch. Die Dame von vorhin kniet dort auf dem Boden, verbeugt sich tief, steht dann erst auf und betritt den Raum. Dieses Ritual wird jedes Mal vollzogen, wenn jemand den Raum betritt.
Ich habe Durst von der längeren Zugfahrt, etwas Wasser täte jetzt gut; auch Wein dürfte es gleich gerne schon sein. Doch zunächst gibt es ein kleines Schälchen mit einem Hauch von Nichts, heißes Wasser, in dem Algen ziehen, berührend schlicht und mit angedeutetem Algengeschmack. Japaner beherrschen die Kunst des Andeutens von Aromen (und haben dafür sicherlich auch mindestens einen Begriff) wie niemand sonst. Woanders wäre das ein schlechter Scherz, hier bin ich den Tränen nahe.
Inzwischen hat man auch das Menü gereicht. Es ist auf handgeschöpftes Papier gedruckt und enthält in englischer Sprache die vielen, teils sehr speziellen Zutaten für die elf Speisefolgen des bevorstehenden Mahls. Selbst Grammatik und Zeichensetzung sind tadellos: Begriffe, die japanisch bleiben, sind kursiv geschrieben, es gibt keine Rechtschreibfehler. Ich erfahre später, dass eine Universität dabei behilflich ist, die Menüs so präzise zu übersetzen.
Die Weinkarte enthält eine feine Auswahl, die sich, wie in Japans Spitzenrestaurants erfreulicherweise üblich, auf Burgund konzentriert (aber nicht beschränkt). Eine ganze Seite ist dabei dem renommierten Erzeuger Jean-Claude Ramonet gewidmet, worüber man, so weit entfernt, nur staunen kann. Da zögere ich nicht lange und entscheide mich für eine Flasche 2017er Chassagne-Montrachet 1er Cru »Clos du Cailleret« (ca. 264 €).
Der erste kleine Appetizer (Sakizuke) enthält Garnele, Wachtelei und Avocado in einem kühlen, gelierten Krustentierfond mit Pinienkernmilch. Etwas Sudachi parfümiert das Ganze. Die Speise ist erfrischend, wunderbar umami, leicht rauchig und erweckt Gedanken an Sommer und funkelndes Meer. Das ist eindringlich gut. (9/10)
Als Kae wird der zweite Gang bezeichnet. In einer Sauce aus Seegurkenrogen – unverarbeitet eine sehr gewöhnungsbedürftige Zutat – sind zwei Stück gegarte Abalone platziert, die mit Sudachi-Abrieb akzentuiert sind. Die Abalone ist lauwarm und schmeckt schlicht sensationell. Es ist mit die beste Abalone, die ich je probiert habe, mit perfekter bissfester Konsistenz und mildem, maritimem Geschmack. Zusammen mit der salzigen, prägnanten Sauce und der blumigen Zitrusfrucht ist das bereits ein Hochgenuss auf Weltklasseniveau. Doch die Komposition enthält dazu noch zwei Röllchen aus Yuba (Sojamilchhaut), die mit verschiedenen saisonalen Gemüsen gefüllt sind, darunter Shiitake-Pilz, Goabohne, Gurke, Rettich, Myoga (Japanischer Ingwer), Kürbis, Okra, Yam und Ingwer. Auch Shiso schmecke ich heraus, der sich mit dem Sudachi-Abrieb zu einem Parfüm zusammentut. Das ist richtig ergreifend – und handwerklich und qualitativ auf höchstem Niveau. (10/10)
Es klopft wieder an der Tür. Man kommt, um das Geschirr abzuräumen. Ich frage mich, ob hier irgendwo Kameras versteckt sind, da das Timing immer perfekt ist. Aber ich entdecke keine und halte Erfahrungswerte und Gefühl für wahrscheinlicher.
Als es wieder klopft, folgt mit Nimonowan der klassische heiße Suppengang. Serviert wird er meist in einer kleinen, lackierten Holzschale mit Deckel. (Die unscheinbaren Schälchen sind in der Regel äußerst wertvolle Handarbeiten.) Das sehr nette Personal signalisiert, man möge den Deckel abheben, damit man den Inhalt erläutern kann. Ich bin froh, bereits zu wissen, dass man den Deckel dieser Schälchen immer mit dem Griff nach unten ablegt, um das Handwerk der Schalen offenzulegen. Oft, aber nicht immer, sind darin aufwändige Verzierungen zu bewundern.
In diesem Schälchen findet man in einem heißen Dashi mehrere Komponenten: zwei mit Seeigel farcierte Jakobsmuscheln (beide Zutaten stammen aus Hokkaido) sowie einen weichen Quader, der aus Kudzu-Stärke, Wachskürbis, gemahlener Macadamia und Lotuswurzel zubereitetet wurde. Das Gericht begeistert nicht nur mit der fabelhaften Produktqualität von Jakobsmuschel und Seeigel, sondern mit einer Aromenwelt, die ich immer wieder als gerne »Hafenbecken« beschreibe: ein subtiler, maritimer – nicht fischiger – Duft, der auf paradox charmante Art an den Geruch einer kleinen Marina erinnert. Das Gericht ist Futter für Körper und Geist und zwingt mich, immer wieder die Augen zu schließen und innezuhalten. (10/10)
Es fühlt sich surreal an, hier zu sitzen und dies zu erleben. Der Burgunder funkelt dazu im Riedel-Glas und schmeckt betörend nach reifer Ananas.
Otsukuri bezeichnet klassischerweise einen Sashimi-Gang; hier legt man das etwas großzügiger aus. Es gibt Hamo, den aalartigen Fisch, dem man während des japanischen Sommers oft begegnet. Für den folgenden Gang wurde er auf fünf verschiedene Arten zubereitet: als kühles Tatar mit würzigem Schnittlauch; frittiert (aber nicht paniert), mit Wasabi aromatisiert und geliertem Essig-Dashi überglänzt; gekocht und mit süßsäuerlicher Pflaumensauce betont; gebraten, mit Yuzu-Pfeffer-Paste und Sojasauce; sowie mariniert und gebraten, mit japanischer Pfeffer-Paste und Wasabi. Zwischen allen Zubereitungen findet man verschiedene aromatische Begleiter, z. B. hauchdünn geschnittene Radieschen, Shiso-Blätter und -Blüten. Das Gericht ist eine eindrucksvolle Produktdeklination, die es ermöglich, den Hamo facettenreich – und mit all den wunderbaren Mitspielern auch besonders genussreich – zu verkosten. (8,9/10)
Mit Atsumono (»heißes Gericht«) folgt eine für japanische Restaurants ungewöhnliche Zubereitungsart: ein Soufflé. Für die hauseigene Kreation auf Basis von Mais und Soja wurden weder Butter noch Mehl verwendet, erklärt man, sondern Pinienkerne und -milch. Das Ergebnis ist ein fluffiges, leicht süßliches und auch etwas salziges Gebilde, in dessen sehr heißem Inneren man wachsweiche Gingkonüsse findet, eine Delikatesse. Besonders das Wechselspiel zwischen Süße und Herzhaftigkeit begeistert an diesem im positivsten Sinn eigenartigen Gericht. (8,5/10)
Die nächste Speisenfolge ist Hassun, ein Begriff, der ursprünglich ein Längenmaß von ca. 24 cm beschreibt, in der Kaiseki-Küche jedoch ein Arrangement mit kleinen, saisonalen Gerichten (so viele, wie eben auf einem entsprechend bemessenen Teller Platz finden).
Üblicherweise, so auch hier, widmet sich das Hassun über die Anrichtweise, die Art des Geschirrs und die Dekoration einem bestimmten Thema. Was anderswo kitschig wäre, ist in Japan ein elementarer Baustein der Kaiseki-Küche. Eine der beiden Damen aus dem Service gibt sich herzergreifend viel Mühe, den Hintergrund dieses Arrangements auf Englisch zu erklären. So geht es hier um die Darstellung eines bestimmten Feiertags, bei dem man Wünsche auf ein Stück Papier schreibt und es aufhängt. Ein Schälchen in Gitarrenform repräsentiert die Musik, die bei diesem Tag genauso ins Spiel kommt wie eine Bootsfahrt.
Diese idyllische Kulisse manifestiert sich dann kulinarisch in einer ganzen Reihe von Zutaten. In dem instrumentenähnlichen Teller findet man üppigen Bonito mit rotem Wasserpfeffer und einer säurebetonten, vinaigretteartigen Sauce auf Basis von Sesam, Senf und Essig; dazu gibt es Blüten von Chinesischem Schnittlauch. Zu dem Schmelz des Fischs mischt sich ein behutsames, sommerliches Grillaroma sowie appetitliche Säure, etwas Salz und ein Erlebnis von Frische.
In einem weiteren Schälchen aus Edelstahl verkoste ich mich durch ein Stück Turbanschnecke samt ihrer Leber, Rikyu-fu, eine Art in Brühe gegartem und dann frittiertem Weizenbrot, mit japanischem Camembert, ein gedämpftes Chiliblatt, mit in Essig mariniertem Eigelb gefüllte Lotuswurzel und eine gelbe Kirsche in Kirschgel. Die faszinierende Entdeckungsreise liefert mannigfaltige Eindrücke und Assoziationen: die Meeresschnecke ähnelt Abalone, das »Käsebrot« mit dem Kirschgel erinnert an klassisch französische Käse-Frucht-Akkorde, das Chiliblatt schmeckt ein bisschen nach Tabak, und die Lotuswurzel ist angenehm bissfest-knackig.
Ein weiteres Glasgefäß beinhaltet Oktopus, Kaviar und Bittermelone mit Krustentieröl. Hier werden vor allem die bissfeste Textur des Oktopus und eine jodige Bitterkeit so großartig kombiniert als ginge es bei Konsistenz und Geschmack um dieselbe Eigenschaft. Das ist alles derart vielfältig und dabei gleichermaßen schlüssig und genussreich: Ein großartigeres Hassun ist kaum vorstellbar. (10/10)
Yakimono, das Grillgericht, ist frittierter Ayu mit einer säurebetonten, fruchtig-herben Wasserpfeffersauce. Das ist so schlicht und so gut, wie es sein soll. (7,5/10)
Hachimono bezeichnet ein »Gericht in der Schale«, in diesem Fall mit süßlich-säuerlich mariniertem Hering mit blumig-aromatischer Aubergine, leicht pikanter, sehr fruchtiger Fushimi-Paprika und hauchdünn geschnittenem Ingwer. Das kühle Gericht besticht durch sehr klare Aromen, höchste Produktqualitäten und einen appetitlichen Nachklang von Frische, Umami und Säure. Die handwerkliche Präzision von Schnitttechniken, Mengen, Proportionen und Garungen sind phänomenal. (8,9/10)
Mit Gohan folgt das Reisgericht, das bei vielen japanischen Essen, nicht nur in der Kaiseki-Küche, auf das baldige Ende des Menüs hinweist. Der Reis wird in einem großen Tontopf präsentiert und enthält gegrillten Grunzer (einen barschverwandten Fisch), Haar-Krabbe, Shiitake- und Holzohr-Pilze, Lilienblüte und Mitsuba, ein japanisches Kraut.
Der Gang wird nun so serviert, dass man eine erste Portion Reis in eine kleine Schüssel gefüllt bekommt. Dazu gibt es aus einer Kanne am Tisch ein heißes Dashi, mit dem man den Reis nach Belieben etwas aufgießen soll. Die Aromen verstärken sich dadurch, alles duftet, nach Wald, Meer und Reis. Jede Portion schmeckt vollmundig und doch leicht; es ist eines der besten Gerichte dieser Art, die ich je probiert habe. Einige knackige, säuerlich marinierte Gemüse dazu beruhigen mein erhitztes Gemüt. (8,5/10)
Mizumono, das saisonale Dessert, besteht aus eingelegtem weißem Pfirsich sowie süß marinierter Baby-Aubergine. Hier verschwimmt die Grenze zwischen Obst und Gemüse, immerhin ist Aubergine eine Beerenfrucht und passt damit eindeutig zu einem Früchtedessert. Geschmacklich ist beides sehr süß, der Pfirsich hat blumige, die Aubergine etwas undefinierbarere Aromen. Mehr (auf die Menge bezogen) braucht es jetzt auch gar nicht – und mehr Überzeugungskraft ohnehin nicht. (7/10)
Kashi, der letzte Dessertgang, ist ein kuchenförmiges Gelee aus Gerste, das sich geschmacklich irgendwo zwischen herb und süß befindet und ein wenig an Kaffee erinnert. (7/10)
Ein Matcha- und ein gerösteter Tee beenden das Menü klassisch, wenngleich ich den Rest des feinen Chardonnays bevorzuge, um das Mahl geschmacklich nachklingen zu lassen.
Kaiseki-Menüs sind wegen ihrer Saisonalität, der damit verbundenen oftmals gewöhnungsbedürftigen Zutaten und der traditionellen Abfolge nicht immer Kandidaten für konsistente, überragende Menüs. Und doch war dieses Mahl nahezu durchweg grandios. Küchenchef Hideaki Matsuo trifft genau den richtigen Ton, um das Traditionelle ab und zu mit moderneren Einfällen auszuschmücken, und ihm gelingen Dashis und Suppen – also die Basis – ganz besonders großartig. Und das Hassun war reine Poesie.
Matsuo-san kommt noch hinaus bis zum Taxi, um sich zu verabschieden. Er verbeugt sich, bis ich ihn nicht mehr sehen kann. Und vielleicht noch etwas länger.
(Weitere Artikel über meine Reise nach Japan im Sommer 2023 unter diesem Link.)