Kohaku – zweischneidiges Schwert
Gestern Abend das großartige Sazenka, heute Mittag erst das aufwühlende L’Effervescence – und jetzt, wenige Stunden später, geht es als letzte Station eines intensiven Drei-mal-drei-Sterne-Sprints ins Kohaku. Als das Restaurant im Jahr 2015 mit drei Sternen ausgezeichnet wurde, war der dann 36-Jährige Koji Koizumi der jüngste Küchenchef eines Drei-Sterne-Restaurants in Japan.
Die Reservierung im Kohaku habe ich bereits vor über einem halben Jahr über den vom Restaurant eingesetzten Reservierungsdienst TableAll getätigt. Ob der lange Vorlauf nötig war, kann ich nicht beurteilen, aber ich war bei der Planung dieser Reise über jede Reservierung froh, die ich frühestmöglich ergattern konnte. Es ist ein schönes Gefühl, nach so langer Planung und so weit entfernt endlich vor der Restauranttür zu stehen.
Das Kohaku befindet sich in einer belebten Ecke des Tokioter Stadtteils Shinjuku. Die längliche, flache Fassade mit um die Ecke führenden, flachen Treppenstufen erinnert mich an die Eingangssituation des Azabu Kadowaki vor einigen Tagen, wenn man von dem rotweißen Neonschild eines spanischen Grillrestaurants nebenan absieht. Das »Um-die-Ecke-gehen-Müssen«, das man in Japans Restaurants häufiger erlebt, ist eine baulich geschickte Maßnahme, um den Gast unmittelbar in eine eigene Welt zu transportieren.
Das Interieur wirkt dennoch etwas nüchtern. Das liegt auch daran, dass mein Platz nicht am Tresen ist, sondern an einem der normalen Tische im restlichen Teil des Restaurants. Vermutlich muss man die Tresenplätze explizit anfragen. Dessen ungeachtet ist der Service sehr freundlich; eine Dame im Kimono kümmert sich individuell um meinen Tisch und spricht auch einige Brocken Englisch.
Meine erste Amtshandlung ist das Stöbern in der Weinkarte, die, wie oft in Japan, aus einer Sammlung von in Klarsichthüllen eingebrachten Seiten in einem Ledereinband besteht. Das Essen betreffend habe ich ohnehin keine Wahl. Bei dem längst im Voraus bezahlten (aber innerhalb einer Frist auch stornierbaren) Menü in Höhe von 56 000 ¥ (ca. 355 € zzgl. Steuern) handelt es sich, wie in gehobenen japanischen Restaurants üblich, um ein Omakase-Menü, das nicht einsehbar ist. Meine Wahl auf der Weinseite fällt auf einen 2016er Vosne-Romanée 1er Cru »Clos des Réas« von der Domaine Michel Gros (ca. 266 €).
Dann kommt auch schon die erste Speise. Eine etwa golfballgroße Kugel aus kleinen Stückchen Aubergine aus Kyoto ist mit Yuzugelee und Kaviar getoppt und in einer Sesamsauce angerichtet. Die kühle Speise schmeckt elegant nach rauchigen Grillaromen, wobei der Kaviar das nötige Salz dazu liefert. Und über allen Eindrücken liegt elegant und dezent das florale Aroma der Yuzu. Das Gericht ist spannungsvoll und perfekt ausbalanciert, ein wunderbarer Auftakt. (9/10)
Nicht fehlen darf in japanischen Restaurant derzeit der Ayu. In diesem Fall steckt ein frittiertes Exemplar des stintartigen Fischs kopfüber in einer cremigen Sauce mit schwarzem Trüffel, ein »westlicher« Twist, der dem Fisch gut steht. Alle Zutaten sind sehr heiß, man muss etwas behutsam vorgehen. Aber es lohnt sich: Der angenehm knusprige Fisch, dessen bittere Leber kurzzeitig das süßliche Geschmacksbild unterbricht, ergibt mit der Trüffelcreme, für die man australischen Wintertrüffel verwendet, einen besonders wohlschmeckenden Hochgenuss mit erlesenen Zutaten. (8,9/10)
Es geht weiter mit einer im Teigmantel ausgebackenen Zubereitung aus Jakobsmuschel aus Hokkaido. Der Kloß schwimmt in einem heißen und mit Yuzuschale parfümierten Dashi, das immer mehr in die Jakobsmuschelzubereitung »hineindiffundiert« und sie würzig-rauchig schmecken lässt, ein bisschen wie Räucherschinken. Das Dashi ist aromatisch von beeindruckender Tiefe und Eleganz – klassisches »japanisches Umami« mit Gänsehaut-Garantie. (8,5/10)
Der nächste Gang ist eine Sashimi-Variation. Auf einem Teller findet man dünne Scheiben vom Oktopus in einer Sauce aus Hokkaido-Seeigel und Soja. Das Sashimi hat eine bissfeste, spannende Konsistenz und bietet dem jodig-nussigen Seeigel und den aromatisch geheimnisvollen Shisoblüten eine ideale Bühne. In einem Glas daneben gibt es Kinmedai (Glänzender Schleimkopf) in einem kühlen Yuzu-Dashi-Gelee. Der kostbare Fisch ist ansprechend dick geschnitten und hat eine immer noch bissfeste, aber durch den hohen Fettgehalt etwas weichere, sehr angenehme Textur. Das Gelee, in das der Fisch integriert ist, begeistert mit einer schlanken Kühle und intensivem Schnittlaucharoma. Das ist Weltklasse. (9/10)
Ein dann noch folgender Snack mit leicht gegartem Oktopus und frischem Yuzu-Abrieb ist auch sehr gut, aber unauffälliger. (7/10)
Trotz der Küche auf hohem Niveau und des freundlichen, persönlichen Service, ist die Atmosphäre in diesem Teil des Restaurants etwas trist. Dass das vermutlich etwas interessantere Geschehen am Tresen direkt neben mir durch eine dünne Wand abgetrennt ist, wirkt etwas befremdlich.
Das Menü fährt dann abermals mit Ayu fort, eine Wiederholung, die mich überrascht, weil sie offensichtlich keinen Bezug zu dem zuerst servierten Gericht mit Ayu hat. Hier findet man nun das ausgeklappte und gegrillte Filet des Fischs auf etwas gedämpftem Reis, was wie ein übergroßes Nigiri anmutet. Dazu gibt es eine stückige Sauce auf der Basis von Miso, Ayu-Leber und Ayu-Gräten, die appetitlich salzig und bitter schmeckt und den süßlichen Fisch prägnant kontrastiert. Grillaromen, Reis und eine herzhafte Sauce: Das ist sehr gut, aber nicht besser als jede mit ausreichend Liebe gegrillte Dorade mit ein paar Beilagen. (7/10)
Der nächste Gang wird als Frühlingsrolle angekündigt, deren Inhalt ich zunächst sprachlich nicht verstehen kann. Es handelt sich um eine weiche Teigrolle mit einer Füllung aus Gurke und Koriander und einem faserigen, mild-würzigen, gehaltvollen Fleisch, das mich an Huhn oder Schwein erinnert. Meine Nachfrage eine Weile später ergibt, dass es sich um Chinesische Weichschildkröte handelt (suppon). Wie ich kurz am Tisch recherchiere, gilt die Tierart als gefährdet, was besonders tragisch ist, weil das arme Reptil nicht einmal etwas nennenswert Spannendes zum Geschmackserlebnis beiträgt. Wenn man auf der kulinarischen Ebene objektiv bleiben will, ist das eine gute Frühlingsrolle mit angenehm dünnem, weichem Teig und einer gehaltvollen, herzhaften Füllung, die durch eine aromatisch intensive Gurke und etwas Koriander angenehm aufgefrischt wird. (6,9/10)
Das Menü, das mit den letzten Gängen einen deutlichen Knick bekommen hat, fährt mit einem Gang um japanische Auster fort. Als Freund von kleineren Austern wirkt das hamstergroße und gegarte Exemplar auf dem Teller für mich nicht allzu attraktiv. Aber die Kombination mit gedämpftem Daikon, japanischer Paprika, gehobeltem Ingwer in einem angedickten Dashi – bei einem pfeffrigen, »grünen« Duft – klingt kurzweilig genug, um sich auch neugierig in dieses Abenteuer zu stürzen. Am Gaumen verhält sich das alles recht harmonisch und bestätigt den olfaktorischen Eindruck von würzigem Pfeffer und herzhaftem Dashi. Die Auster selbst ist viel unauffälliger als ihr Anblick: Durch die Garung hat sie an Intensität eingebüßt und steht eher für Textur und einen feine maritime Untermalung. Sehr gut, nicht mehr, nicht weniger. (7/10)
Es geht weiter mit Soba, kalten Nudeln, in einem mit Pfeilwurzmehl angedickten Sud von vorheriger Schildkröte (suppon). Zu der entbehrlichen Zutat ist alles gesagt, die Nudeln sind handwerklich makellos, und der herzhafte, kühle und mit etwas Schnittlauch akzentuierte Sud macht das Ganze zu einem tadellosen Soba-Gericht. Schüsseln dieser Art kann man in dieser Stadt tausendfach essen. (7/10)
Ein dunkler, gerösteter Hōjicha-Tee mit naturgemäßem Aschenbecheraroma begleitet als nächstes eine Schüssel Reis mit Kuruma-Garnele, uni, Shiso und Sesam und eine Miso-Suppe mit junsai (Schleimkraut). Beides ist sehr gut, der Reis noch ein bisschen besser. (7/10)
Die Desserts sind ein Melonen-Sorbet mit Rohrzucker-Sauce – kühl, sehr süß und mit geschmacklichen Parallelen zu rauchigem Whisky – (7/10), sowie ein Kokos-Mochi aus Kokosnussmilch und Kokospulver (7/10).
Damit endet ein Menü, das mit japanischer Präzision in zwei Hälften geteilt war – die eine mit feinsten Gerichten auf Weltklasseniveau und die andere mit sehr guten, aber nicht markanten Gerichten. Die erste gefiel mir deutlich besser.
(Weitere Artikel über meine Reise nach Japan im Sommer 2023 unter diesem Link.)