L’Effervescence – vier Billiarden Möglichkeiten

Pulsieren, Sprudeln, Überschäumen, Aufbrausen, Aufregung: Das sind nur einige der vielen Übersetzungsmöglichkeiten des französischen und englischen Worts effervescence. Das L’ verrät, dass man es hier französisch meint.

Das Restaurant mit diesem eigentümlichen Namen, L’Efferverscence, befindet sich in Tokios gehobenem Viertel Nishiazabu in einer ruhigen Nebenstraße. Kein Mensch ist weit und breit zu sehen, die Hitze ist erdrückend. Ich mache nur schnell ein paar Fotos von der schlichten, aber interessanten Fassade. Für den Schriftzug des Restaurants muss man genauer hinsehen; das Schild der Relais & Châteaux-Mitgliedschaft ist schon etwas auffälliger. Die rote Michelin-Plakette mit drei Sternen würde man hier wohl als ästhetische Zumutung empfinden. Schnell rein jetzt, offenbar links am Haus vorbei.

Als sehr angenehm empfinde ich in Restaurants das Procedere, Gäste zu fragen, ob sie vor dem Platznehmen noch mal die Waschräume aufsuchen möchten – sei es nur kurz zum Händewaschen. So macht man das auch hier und fühlt sich am Platz dann gleich wie frisch geduscht.

Es ist halb zwölf Mittags an einem Mittwoch. Nach und nach füllt sich das Restaurant. Reservierungen bietet das Restaurant über den Online-Dienst Omakase zwei Monate im Voraus an. Ich hatte hierfür exakt das Datum abgestimmt. Da war ich gerade auf der Insel Noirmoutier.

Es sitzt sich sehr angenehm hier, kühl, dunkel und mit viel Platz zu anderen Tischen. Makellos gebügelte weiße Tischdecken signalisieren klassisches Fine Dining. Auffällig ist dabei, welche Details dazu führen, dass man sich hier unmittelbar wohlfühlt. Das sind zum einen gestalterische Details, wie die schlichte Begrünung hinter der Fensterfront und eine Kerze auf dem Tisch, als auch ein professioneller Service, der nicht mit Floskeln um sich wirft; es gibt keine Parfümwolken, die stören, keine Gäste, die besonders auffallen möchten; es ist ruhig, aber nicht still. Alles ist ausgewogen und feinsinnig.

Die erste Handlung des Service ist der Aufbau einer kleinen Aperitif-Situation mit Drinks und Snacks als Willkommensgruß (Omotenashi). Dazu mixt der charismatische Kellner ein Getränk mit japanischem weißem Curaçao »Cinq Sec«, japanischen Zitrusfrüchten und Honig – kühl und frisch, exzellent.

Als Snack dazu gibt es Gemüsechips, transparent, länglich und nicht nur farbenfroh, sondern sogar den Spektralfarben folgend. Das erklärt natürlich niemand; solche Details darf man in Japan selbst entdecken. Die knusprigen Gemüse sind erheblich besser als ähnliche Snacks, die bspw. Alain Ducasse in einigen Restaurants servieren lässt. Diese schmecken intensiv und authentisch, besonders von der getrockneten roten Paprika könnte ich noch ein ganzes Schälchen essen. Ein Dip aus Tofu-Sourcream und Olivenöl bietet dazu eine gehaltvolle, frische Abwechslung. Das ist ein hervorragender, unprätentiöser und qualitativ überzeugender Auftakt. (8/10)

Das Menü liegt auch bereits am Platz. Wie so oft in Japan handelt es sich um ein Degustationsmenü (omakase) ohne Preisangabe (es wird später mit umgerechnet ca. 250 € auf der Rechnung stehen – ein gemäßigter Preis für ein japanisches Spitzenrestaurant). Die Zutaten versprechen Großartiges.

Aus der Weinkarte entscheide ich mich für einen 2015er Clos de la Coulée de Serrant vom Weingut Nicolas Joly (ca. 230 €). Die Karte enthält Weine aus allen Regionen der Welt mit dem Fokus auf Frankreich. Ein Gestaltungsdetail gefällt mir gut: Die Weine sind jeweils in ihrer Landessprache aufgeführt und gruppiert. Es steht dort also bspw. »Italia« und darunter »Rosso« sowie »Deutschland und Österreich« (sic!) und »Österreich Rot«.

Der nächste Gang wird an einem Servierwagen am Tisch fertig gestellt, was grundsätzlich für etwas Spannung sorgt. Auf einem kleinen Tischgrill wird dort das Gehäuse einer großen Meeresschnecke warmgehalten, die dann aus Gründen der Stabilität auf einen Teller mit Algen platziert wird.

Die Schnecke ist mit einer Reihe von Schätzen aus dem Meer gefüllt. Man findet darin Seeigel aus Hokkaido, Scheiben von japanischer Languste und von der Meeresschnecke selbst. Die Zutaten sind üppig portioniert und auf einem heißen Risotto aus Sasanishiki-Reis angerichtet, das mit einer Sauce Américaine vermischt ist. Die Produkte aus dem Meer sind von atemberaubender Qualität, saftig, jodig und durch eine leichte Süße und Nussigkeit angenehm ausbalanciert. Der Clou sind die Temperaturunterschiede: Mal ist es kühl wie beim Seeigel, mal heiß wie beim körnigen, sämigen Risotto. Es ist, als probierte man unterschiedliche Wassertiefen – seicht, lauwarm und hell sowie tief, kalt und dunkel. Das ist in jeder Hinsicht grandios. (10/10)

Der nächste Gang ist ein Salat, dessen Zutaten täglich wechseln. Heute sind es zweiundfünfzig. Einen Teil davon präsentiert man direkt am Tisch. Eine eigene »Speisekarte«, die man dazu verteilt, listet alle Zutaten und deren Produzenten auf. Hideyuki Matsushima aus Gunma liefert jungen Mais, Zucchini und grüne Bohnen; von Yoji Kaneko aus Tochigi kommen Zucchini »Zephir«, grüne Mini-Bohnen, Klettenwurzel, Rose von Scharon und Mini-Gurke; »Beni Kururi«-Daikon, Hitomi-Karotte, violetter Kyo-Rettich und Radieschen kommen von Etsuo Asano aus Chiba; Ryutaro und Hiromi Inoue aus Chiba steuern Rauke, Mexikanischen Oregano, Minze, Neuseeländen Spinat, Tagetes, Steifes Eisenkraut, Wandelröschen, Kapuzinerkresse und Fenchel bei; von Yukio Ogawa, auch aus Chiba, stammen Blaubeere, Aubergine, Madeirawein (Anredera cordifolia) und Moschus-Kürbis. Ebenfalls aus der Chiba-Präfektur, von Kazuhiko Yoshioka, bezieht man weitere Radieschen, Zuckerschoten sowie roten und grünen Friseesalat; Shoko Nakano aus Kanagawa liefert weiße Perlzwiebeln und Kirschtomaten. Margerite, Zottige Wicke, Kosmeen-Sprossen und Kleinblättriger Wassernabel stammen von Maiko Tsuruoka aus Yamanashi, und von Toshimitsu und Hiroko Taka aus Ishikawa kommen Paprika, Mini-Gurke und Lila-Chili-Blüte. Weitere Rauke, Zuckermelone und »Nagasaki Kogane«-Kartoffel wurden von Manabu Suzuki aus Kochi bezogen; Japanischer Senfkohl, Kerbel, »Red Russian«-Grünkohl, Sauerklee, Grüner Senfkohl, Kapuzinerkresse, Roter Glücksklee, rote Bete, Japanischer Blattsenf und violetter Pak Choi stammen von Yuzuru Kajiya aus Hiroshima; Yumi Kurushima aus Ehime liefert Pampelmuse.

So zusammengesetzte Salate sind nicht neu. Michel Bras hat mit seinem Gargouillou in dieser Hinsicht Pionierarbeit geleistet. Viele andere Köche ließen sich davon inspirieren, u. a. Größen wie Enrico Crippa (Piazza Duomo) und Martín Berasategui (Lasarte). Und hier? Hier hinterlässt bereits die erste Gabel den Eindruck eines besonders meisterhaft komponierten Parfüms. Aromen werden zu Kopf- und Basisnoten, jede Gabel ist anders und einzigartig, die Karotten »schmecken« wie der Duft von Sonnencreme, Kräuter erinnern an Zahnpasta, eine Vinaigrette an mediterrane Salate. Das verdreht einem die Sinne. Wenn ich mich nicht verrechnet habe, gibt es über vier Billiarden mögliche Gabeln (genauer: 4 503 599 627 370 495), die man sich hier zusammenstellen kann. Meine paar Dutzend sind unvergesslich. (10/10)

Nach dem Ozean an Zutaten geht es ganz reduziert weiter. Tokyo turnip, eine Art Mairübchen, ist beim nächsten Gang die einzige Zutat auf dem Teller, von einer Petersiliensauce und einigen Croutons abgesehen. Das Rübchen ist mittig zerteilt und an den Schnittflächen appetitlich geröstet. Der Duft des Tellers ist frisch und leicht erdig. Schon der erste Bissen manifestiert dieses Rübchen als bestes, das ich je probiert habe, vor Saftigkeit strotzend und voller Aroma. Solche Qualitäten scheinen im Rest der Welt nahezu unbekannt zu sein. Selbst in den Gärten von Alain Passard oder der French Laundry dürfte es nicht einfach sein, Vergleichbares zu finden. Eine Offenbarung. (9/10)

Als nächstes folgt ein Gericht mit Ayu, Japans Sommerfisch schlechthin. Die ständige Wiederholung ist keinesfalls langweilig, denn spätestens mit diesem Teller folgt eine völlig andere Zubereitung als in den japanischen Restaurants. Der Fisch hier ist deutlich größer als die kleinen Exemplare, denen man sonst begegnet. Er wurde im Ganzen frittiert, Kopf und Körper liegen separat auf dem Teller. Mit dem Kopf möge man beginnen, rät der Service. Der ist komplett essbar, knusprig, aromatisch, mit appetitlichen Röstnoten versehen und nicht scharfkantig, was man befürchten könnte. Der restliche Teil des Fischs – weicher und ebenfalls grätenfrei genießbar – ist in neben einer schaumig-leichten Wasserpfeffer-Sabayon angerichtet; weitere sommerliche Kräuter zieren den Teller. Während der Ayu sein typisches Spiel mit Süße und Bitterkeit perfektioniert, ermöglichen die Sabayon, die Kräuter und eine intensiv eingekochte, glänzende Ayu-Sauce sehr spannende Aromakombinationen. Man entdeckt minziges Shiso, ätherischen Sansho, aufgelockert durch etwas frische Gurke. Das ist erneut bewegend und großartig. (10/10)

Zum nächsten Gang wähle ich noch ein Glas offenen Rotwein in Form eines 2019er Côte de Nuits Villages »Les Plantes du Bois« von der Domaine Pierre-Henri Rougeot (ca. 23 €), eine feine Entdeckung.

Es gibt Ente. Das Tier, dessen Streifen aus der Brust hier auf dem Teller liegt, stammt aus Kyoto und wurde über rarer japanischer Mizunara-Eiche aus dem Hinohara-Dorf in Tokio geräuchert – ein offenbar so wichtiges Detail, dass man es in der Speisekarte aufführt (aber bescheidenerweise nicht am Tisch vorträgt). Die zarte, saftige Ente wird begleitet von einer glänzenden, dichten Portweinreduktion, dünnem grünen Spargel und Morcheln – ganz klassisch, ganz Französisch, aber doch mit so viel handwerklichem Können und auf einem derart surrealen Qualitätsniveau, dass man danach auch in Frankreich länger suchen müsste. An bessere Gerichte mit Ente kann ich mich nicht erinnern. (10/10)

Ein Enten-Nachschub folgt noch in Form einer Entenconsommé mit zwei Ravioli. Deren Farce besteht aus mit Zitrone und Ringelblume aromatisierter Entenkeule und, überraschenderweise, Jakobsmuschel. Letztere kann man geschmacklich kaum ausmachen, stattdessen sorgt die Muschel lediglich für eine cremige Üppigkeit der Farce, fast wie eine Zugabe von Fett. Die Consommé selbst ist dicht, intensiv und würzig. Das ist reines Umami, vollendeter Wohlgeschmack, der glücklich macht, und so gut, dass ich noch eine kleine Portion nachbestelle. (10/10)

Was gäbe es danach Passenderes als etwas Käse? Und, man ahnt es schon, natürlich gibt es japanische Erzeuger, die dem traditionellen Käsehandwerk in Europa Respekt zollen, indem sie es mindestens genauso gut machen. Käse nach der Art von Camembert, Roquefort, Mozzarella und weitere – alle stammen aus der Präfektur Nagano – sind perfekt gereift, dazu gibt es hervorragende, fruchtig-süße Condiments. Auch die insgesamt kleine Portion ist ideal; mehr braucht man an dieser Stelle nicht.

Die Patisserie macht ihren Auftakt mit einem Duo aus einem samtig-cremigen Kaffernlimetteneis mit perfekter Balance zwischen Säure und Süße und einer Tartelette aus wunderbarem, leicht knusprigem Mürbeteig mit einer Füllung aus Limettencreme und Rhabarber aus Fukushima. (Nein, der ist auch nicht radioaktiv.) Jedes Detail, von Temperaturen, Texturen über die Auswahl, Intensität und Balance der Aromen bis zur Menge der Komponenten ist alles an diesem Dessert perfekt. Es ist eine der besten Tartelettes und auch eine der besten Portionen Eis, die ich je probiert habe. (10/10)

Der Genuss ebbt auch mit den Pralinen nicht eine Nuance ab. Ein Ananas-Feigenblatt-Choux ist unvergesslich, ein Erdnuss-Financier himmlisch saftig und salzig-süß; grandios auch der Haselnuss-Mont Blanc, das Rosmarincreme-Sando, der Ingwer-Grapefruit-»Kristall« und die Praline mit Kardamom und Schokolade. Es ist alles so fein, subtil und perfekt umgesetzt, dass man nur ungläubig mit dem Kopf schütteln kann. (10/10)

Ein am Tisch zubereiteter Matcha-Tee besiegelt dann das fulminante Mittagessen nach entspannten zweieinhalb Stunden. Noch zehn Tage bin in ich Japan. Aber eine Sache befürchte ich schon jetzt: dass das beste Restaurant dieser Reise ein französisches ist. Ohne französische Zutaten. Verantwortet von einem Japaner. In Tokio. Also eigentlich doch ein japanisches Restaurant. Das ist gerade noch mal gutgegangen.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: L’Effervescence (→ Website)
Chef de Cuisine: Shinobu Namae
Ort: Tokio, Japan
Datum dieses Besuchs: 19.07.2023
Guide Michelin (Tokio 2023): ***
Meine Bewertung dieses Essens: 10 (Was bedeutet das?)
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(Weitere Artikel über meine Reise nach Japan im Sommer 2023 unter diesem Link.)