Sushi Shin by Miyakawa – alles leuchtet
In meinem Kalender stand heute Abend eigentlich eine Reservierung im französischen Restaurant Sézanne im Four Seasons Hotel. Aber auf dem Weg nach Tokio erreichte mich eine E-Mail, dass das Restaurant alle Reservierungen wegen eines technischen Notfalls stornieren musste. Noch im Flug buchte ich das Sézanne auf einen anderen Tag um. Das klappte auch, allerdings ergab sich in der Folge gleich am zweiten Abend meiner Reise eine inakzeptable Reservierungslücke.
Diese (adäquat) zu schließen, dürfte problematisch werden. Immerhin habe ich für die meisten Restaurants Monate an Vorlauf für Recherchen und Reservierungen aufgebracht. Hinzu kommt, dass an einem Sonntagabend auch in Tokio manch ein Restaurant geschlossen hat. Und in meinem sehr atmosphärischen Hotelrestaurant Arva habe ich bereits an einem anderen Abend einen Tisch, der sich natürlich verschieben ließe …
Kaum habe ich im atemberaubenden Aman Tokyo eingecheckt, konsultiere ich daher als erstes die freundlichen Concierges, die ich bisher nur von meinem umfangreichen E-Mail-Austausch kannte. Nach einer kurzweiligen Zusammenarbeit – wir beide prüfen parallel unterschiedliche Optionen am Computer – steht irgendwann der Vorschlag für das Restaurant Sushi Shin by Miyakawa Seitens des Concierge-Teams im Raum. Ein Anruf später steht die Reservierung.
Eigentlich gibt es viele Gründe, skeptisch zu sein. Warum sollte irgendein gutes Sushi-Restaurant von einen Tag auf den anderen einen Tisch frei haben? In der Regel bekommt man allenfalls Monate im Voraus eine Reservierung – und bei den ganz großen Namen sowieso nicht mehr. Zudem befinden sich gute Sushi-Restaurants in Tokio meist in fensterlosen Kellergeschossen und nicht im 38. Stock einer internationalen Hotelkette, wie in diesem Fall im Mandarin Oriental.
Andererseits spricht auch einiges dafür, dass die Idee aufgehen könnte. Der Sushi-Meister, der mit seinem Namen für das Sushi Shin bürgt, Masaaki Miyakawa, führt in Hokkaido ein Restaurant, das zuletzt mit drei Michelin-Sternen ausgezeichnet war. Das wäre es vermutlich immer noch, hätte sich der Restaurantführer nicht aus der Region zurückgezogen. (Man wirbt gleichwohl nach wie vor mit der Auszeichnung.) Ebenfalls ist davon auszugehen, dass auch das Mandarin Oriental, das mehrere gefragte Restaurants beherbergt, sich mit dem Sushi-Restaurant nicht blamieren möchte. Außerdem: Was könnte nicht großartig daran sein, mit einem Ausblick auf Tokio und in einem so professionellen Umfeld bewirtet zu werden?
Etwas ironisch ist, dass ich das Mandarin Oriental ohnehin in zwölf Tagen besuchen werde – für meine letzte Nacht in Tokio. Meine Buchung in dem Hotel sicherte mir vor Monaten eine Reservierung im The Pizza Bar on 38th. (Dazu bald mehr.)
Die Atmosphäre im Sushi Shin ist so spektakulär wie erwartet. Vom sandgestrahlten, kreideweißen Tresen aus jahrhundertealter Zypresse über die handgemachte Wand aus getrocknetem Lehm (diese Kunst nennt sich tsuichi-kabe), die wie ein geharkter Zen-Garten aussieht bis hin zum atemberaubenden Ausblick auf die Stadt hat sich die Einkehr schon gelohnt, bevor es überhaupt mit dem Essen begonnen hat. Es ist richtig schick und angenehm hier.
Der Tresen füllt sich nach und nach überwiegend mit Touristen, aber was soll’s? Ich bin ja auch einer. Der etwas gelöstere Hotel-Rahmen fühlt sich auch mal ganz angenehm an.
Der Menüpreis, den man wie üblich nur bei der Reservierung erfährt, beträgt 33 000 ¥ (ca. 210 €), ein sehr gemäßigter Preis für ein hochkarätiges Sushi-Restaurant. Auch schön, dass das Menü am Platz ausliegt, mit englischen Übersetzungen, gedruckt auf edles, handgeschöpftes Papier. Eine Auswahl gibt es aber naturgemäß nicht. Japans Restaurants sollte man nicht mit Einschränkungen, sondern mit Neugier besuchen.
Das hier ist ein Sushi-Restaurant. Das bedeutet in der Regel, dass es zuerst einige Vorspeisen gibt (otsumami), dann eine Folge mit Sushi, vor allem Nigiri, und zum Abschluss Dessert und Tee.
Die erste Speise ist ein Schälchen mit Wellhornschnecke und Gemüsen, kühl serviert. Die Schnecke hat einen leicht rauchigen Geschmack, dazu passen gehäutete, leicht gegarte Tomaten, Ackerbohnen und Myoga (japanischer Ingwer), ein schalottenähnliches Gemüse. Wie man es in Japan oft erleben kann, sind die Aromen der Zutaten besonders intensiv, wie im Spätsommer in Südfrankreich. Es ist ein unbeschwertes, sonniges Gericht, das vor Spitzenqualitäten nur so strotzt. (8,9/10)
Der nächste Teller ist noch etwas karger. Amadei (Ziegelbarsch), wird wegen seines Wohlgeschmacks und seiner weichen Schuppen nicht nur in der japanischen Küche sehr geschätzt. Oft, so wie hier, werden diese knusprig frittiert. Mehr als etwas frisch geriebenen Wasabi und feines Meersalz braucht man dann gar nicht, um daraus einen sehr guten Snack zu machen. Der Fisch ist gehaltvoll, schmeckt leicht nach Meer – das ist schlicht, aber exzellent. (7,5/10)
Den folgenden Gang richten die beiden hier wirkenden Köche gemeinsam an. Es gibt ein Stück gegrillte Kamo-Aubergine – eine runde, aromatische Sorte aus Kyoto –, dazu eine großzügige Portion leuchtend-orangefarbenen Seeigel aus Hokkaido. Das Grillaroma des heißen Gemüses und das leichte »Hafenbecken« des Seeigels duften zum Augenschließen nach Sommer, Marina und Grillfest; am Gaumen begeistert dazu noch der starke Kontraste zwischen Hitze und Kühle. Ganz wunderbar. (8,5/10)
Es geht weiter mit Abalone, eine der begehrtesten Zutaten japanischer Spitzenrestaurants. Das maritime Schneckentier hat einen verhaltenen Geschmack nach Meer und leicht nussige Aromen mit angedeuteter Süße. Wenn sie hervorragend zubereitet ist, so wie bei diesem Gericht, weist sie eine unvergleichliche, bissfeste, aber nachgebende Konsistenz auf. Hier ist sie in einem schaumigen Sud angerichtet, der aus Abalone-Fond und Abalone-Leber zubereitet wurde. Das schmeckt fast sahnig, beruhigend mild, cremig, sanft und salzig, kurzum herausragend. (9/10)
Der letzte Appetizer ist eine Kreation mit mariniertem Hering (Nishin), Zucchini, Perilla, Schnittlauch und Pflaumensauce. Im Mittelpunkt der kühl servierten Speise steht der intensive, gehaltvolle Hering, zu dem besonders gut das Schnittlauch passt. Die weiteren Zutaten ergänzen den Fisch mit teils blumigen, teils »grünen« Aromen, alles schmeckt klar und frisch, immer unterstrichen von der Kühle. Auch das ist ein Weltklasse-Gericht. (9/10)
Aus der kleinen, aber ansprechenden Weinkarte, die bei Weißwein fast nur auf Burgund setzt, wähle ich einen 2020er Chassagne-Montrachet von der Domaine François Carillon (ca. 266 €); dazu bestelle ich etwas Sake, den man unter anderem in 180-ml-Portionen bestellen kann (verschiedene Erzeuger, ca. 15–30 €).
Nun beginnt der in Sushi-Restaurants spannendste Teil, das Nigiri-Handwerk. Ich habe in vielen Berichten schon darüber geschrieben. (Wer einen Eindruck davon bekommen möchte, wie so etwas auf höchstmöglicher Ebene abläuft, dem empfehle ich meinen Bericht über Sushi Saito.)
Die wichtigsten Parameter, die man am Gaumen – bewusst oder unbewusst – wahrnimmt, wenn man ein Stück Nigiri-Sushi probiert, sind Temperatur, Größe, Proportionen, Texturen, Körnigkeit und Säure des Reis (Shari) und die Beschaffenheit der Fisch-Auflage (Neta). Einiges davon ist bereits mit bloßem Auge erkennbar, und ob etwas gut, besonders gut oder Weltklasse ist – oder gar Geschmackssache – erfährt man nur durch entsprechende Vergleiche. Ein gutes Stück Nigiri löst unmittelbares Umami aus, ein umfassendes Gefühl von Wohlgeschmack, das über den so benannten, durch Glutaminsäure getriggerten Grundgeschmack weit hinausgeht.
Das erste Stück Nigiri hier im Sushi Shin kommt mit Ika (Tintenfisch), und es erfüllt bereits optisch höchste Ansprüche. Die feinen, sehr akkuraten Einschnitte, die den Pinselstrich mit Sojasauce besser absorbieren und die »Kaubarkeit« verbessern über die moderate Portionsgröße und den appetitlichen Glanz, bis zu ausgewogenen Proportion zwischen Shari und Neta sieht das exzellent aus. Am Gaumen bestätigt sich der hervorragende Eindruck. Der Reis ist luftig-körnig, hat eine sehr zurückhaltende Säure. Die Menge und Sorte des Essigs, der dem Reis hinzugefügt wird, sind eine Stilfrage des Küchenchefs; ich selbst bevorzuge es, wenn man noch etwas mehr Säure wahrnimmt. Sudachi und Ingwer, womit der Tintenfisch akzentuiert wurde, bieten behutsame aromatische Kontraste. Das ist ein Nigiri auf sehr hohem Niveau.
Die Fotos, um deren Erlaubnis ich auch dann frage, wenn ich sehe, dass man nichts dagegen hat, mache ich von Nigiri stets innerhalb von wenigen Sekunden (daher manchmal leider auch mit nicht optimalem Fokuspunkt). Man tut weder sich selbst noch dem Küchenchef einen Gefallen, Sushi länger als einige Sekunden stehen lassen (weswegen auch ganze Tabletts voller Sushi oder Lieferdienste das Thema ad absurdum führen).
Es folgt Akami (magerer Thunfisch) mit fantastischem Schmelz und abermals dem Eindruck von einer besonders treffsicheren Temperatur (in der Nähe von Körpertemperatur).
Torigai, eine Herzmuschelart, war gerade noch lebendig, als der Küchenchef sie auf den Reis legte. Sie schmeckt leicht nach Ozean, mit einer feinen Süßen im Hintergrund, und hat eine feste Konsistenz. Das kleine Stück ist qualitativ und handwerklich Weltklasse.
Aji (Holzmakrele) begeistert erneut durch perfekte Proportionen, saftig-säuerlichen Fisch und etwas Schnittlauch.
Kamasu (Barracuda) präpariert der geschickte Küchenchef als Rolle. Was genau sich noch darin befindet, kann ich in der Kürze der Zeit nicht ausmachen. Der Fisch weist sehr schmackhafte Röstnoten und etwas Zitrusgeschmack von einer Sudachi auf – abermals hervorragend und mit vollmundigem Wohlgeschmack.
Marinierter Chutoro (mittelfetter Thunfisch) setzt das mehr als hervorragende Niveau fort.
Kohada, eine Heringsart, zählt regelmäßig zu meinen Lieblingsfischen bei Sushi und begeistert hier durch einen appetitlichen, sauberen Anschnitt und appetitanregende Säure.
Frisch gegarte Kuruma-Garnele ist noch warm und bereitet viel Genuss mit ihrer saftigen Süße.
Es folgt ein Gunkan-Maki mit Reisbasis, frischem Wasabi und Hokkaido-Seeigel, ein an Perfektion grenzendes, maritimes Geschmacks- und Texturvergnügen.
Gekochter Anago (Salzwasseraal) ist klassisch mit einer süßen Sojasauce lackiert und beendet die eindrucksvolle Nigiri-Folge.
Qualitativ und handwerklich ist das Sushi auf einem Niveau, das man mindestens in einem Zwei-Sterne-Restaurant erwarten würde. (Ich bewerte Nigiri-Sushi üblicherweise nur als Gesamtnote, hier mit 8,5/10.)
Eine exzellente Miso-Suppe (8/10) und ein japanisches Omelette (Tamago), das etwas säuerlicher schmeckt als man es für gewöhnlich kennt (7/10) – als hätte man eine Zitrusfrucht darin verarbeitet – lassen das Menü klassisch und wohltuend ausklingen.
Ein Eiscreme-Sando (Sandwich) mit Vanilleeis vom renommierten Bauernhof Niseko Takahashi aus Hokkaido, dünnen Mochi-Lagen und einer verführerisch süßen Zubereitung aus Erdbeeren beendet das Mahl dann auf sehr hohem Niveau. Das wäre noch eine Nuance besser, wenn das Eis nicht so extrem kalt wäre. (8,9/10)
Dass das Restaurant im Guide Michelin nicht einmal erwähnt ist, liegt mit hoher Wahrscheinlichkeit an einer Eröffnung kurz vor der Pandemie und zwischenzeitlichem Schließungschaos von Grenzen, Hotels und Restaurants. Aber wer braucht schon Sterne, wenn im Hintergrund Tokio leuchtet?
(Weitere Artikel über meine Reise nach Japan im Sommer 2023 unter diesem Link.)