Kioicho Mitani – im Namen des Meisters
Kioicho Mitani ist das Schwesterrestaurant des legendären Sushi-Restaurants Mitani, beide in Tokio. Neben exzellentem Sushi ist Letzteres vor allem für jahrelange Wartelisten berüchtigt und gehört längst zum Kreis der für Außenstehende unmöglich zu reservierenden Restaurants. Einige geschäftstüchtige Restaurantbetreiber sind in Japan inzwischen auf den Zug von Branches, also Zweigstellen, ihrer Hauptrestaurants aufgesprungen. Die sind in der Regel etwas leichter – oder überhaupt – zu reservieren und bescheren den Patrons weitere Gewinne. (Eine alternative Variante dieses Konzepts sind Nebenräume im Hauptrestaurant mit eigenem Tresen und eigenem Koch. Da kann es einem passieren, dass man bei Sushi Saito reserviert, aber am Ende vor jemand ganz anderem sitzt.)
Ich bin immer etwas über dieses Prinzip verwundert, weil es gerade bei Sushi besonders auf das Handwerk des Küchenchefs ankommt. Stilistische Elemente, wie die Zubereitung des Reis und Vorbereitung des Fischs – und natürlich die Rohstoffe selbst – können zwar an andere Köche weitergegeben werden, aber am Ende ist eine andere Lokalität mit anderem Küchenchef schlicht ein völlig anderes Restaurant.
Dass dieses Konzept qualitativ gleichwohl aufgehen kann, habe ich bereits mehrmals erlebt, z. B. im Sushi Saito im Four Seasons Hotel in Hongkong sowie, gerade erst gestern Abend, im Sushi Shin by Miyakawa.
In meiner Liste an Restaurantoptionen, die ich im Laufe der Planung dieser Reise an das Concierge-Team meines Hotels geschickt hatte, stand auch das Kioicho Mitani. Das ist auch nicht einfach zu reservieren, aber ich hatte Glück, und die Reservierung zum Mittagessen stand irgendwann in meinem Kalender. Kioicho ist übrigens ein Stadtteil in Tokio, so wie auch bei Azabu Kadowaki das erste Wort den Stadtteil bezeichnet; das sieht man in Japan öfter. (Unser Pendant dazu wäre also so etwas wie Kreuzberg Raue, auch ganz griffig.)
Das Kioicho Mitani befindet sich auf dem Areal Tokyo Garden Terrace Kioicho, einem Gelände mit modernen Geschäfts- und Wohnhäusern, Restaurants, einer Gartenanlage und einer Villa namens Akasaka Prince Classic House aus den 30er-Jahren, die jetzt ein Veranstaltungsort ist.
Den Eingang zum Restaurant finde ich erst nach einigem Herumirren bei Temperaturen um die vierzig Grad und dem Abgleich des Eingangs mit Bildern aus dem Internet. Obwohl ich etwas zu früh bin, darf ich schon rein, signalisiert mir eine Dame im Eingangsbereich.
Die halbierte Temperatur tut gut, das kühle Händehandtuch am Platz auch. Mir ist dazu nach Wasser mit Kohlensäure und etwas Sake. Man spricht hier wenig Englisch, aber es reicht zur Verständigung. Eine Weinkarte oder Ähnliches scheint es nicht zu geben, zumindest händigt man mir keine aus, als ich mit rechteckiger Luftmalerei nach einer wine list frage.
Zu den weiteren Skurrilitäten mancher japanischer Restaurants gehört auch immer wieder das Thema Budget. Ich habe es hier tatsächlich einmal anhand meiner E-Mails rekonstruiert: An keiner Stelle wurde ich über Preise informiert. Ein Menü gibt es naturgemäß auch nicht, man serviert einfach drauf los. Ich kann den Preisrahmen eines solchen Restaurants zwar gut einordnen, daher stört mich das nicht, aber so eine Praxis wäre bei uns undenkbar (und wohl auch rechtlich kaum umsetzbar).
Das Restaurant besteht aus einem einzigen Raum mit L-förmigem Tresen, hinter dem sich zwei Köche die Arbeit hinter dem Tresen aufteilen. Eine Art Geheimtür führt noch in eine Vorbereitungsküche. Weiteres Servicepersonal agiert hinter den Gästen, was eher ungewöhnlich für ein japanisches Restaurant ist und etwas ungemütlich wirkt. Das Interieur ist eher modern als traditionell, das Holz des Tresens hat auffällig viele Gebrauchsspuren. Das ist kein Vergleich zum schneeweißen Zypressen-Holz aus dem Sushi Shin noch gestern Abend. Es ist interessant, dass einem das sofort (negativ) auffällt. Wenn man sich schon keine Mühe gibt, den Tresen zu pflegen, wie sieht es dann mit dem Essen aus?
Eine kühles Süppchen beruhigt. In einem kleinen Glas gibt es Seeigel aus Hokkaido in einem trüben Muschelsud. Das passt wunderbar zu der Hitze draußen und kommt mit dieser leichten, typischen »Hafenbeckennote«, die unappetitlich klingen mag, wenn man das nicht kennt, aber tatsächlich ein Hochgenuss ist. (8/10)
In einem ganz ähnlichen Duktus ist auch der nächste Gang. Kegani (Haar-Krabbe) aus Hokkaido findet man im nächsten Schälchen ausgelöst und mit roher Garnele (shiro ebi) kombiniert. Die etwas »schleimigere« Konsistenz der Garnele kontrastiert dabei gut das etwas sprödere Krebsfleisch. Das ist etwas karg, aber es sind immer wieder phänomenale Produktqualitäten, mit denen man in Japans Restaurants konfrontiert wird. (7,9/10)
Diese Feststellung eignet sich perfekt als Überleitung zum nächsten Gericht. Nodoguro, ein rarer und kostspieliger Tiefseefisch, der bei uns Schwarzkehl-Seebarsch heißt, kommt in Form von zwei kleinen Stücken mit gegrillter Haut und frischem Wasabi auf den Teller. Der Fisch ist dicht, üppig und gehaltvoll; die Röstnoten bieten zu diesem Erlebnis eine willkommene Abwechslung. Das ist mehr als hervorragend – mit so wenig Zutat. (8,5/10)
Erst jetzt erschließt sich mir, dass die Teller tatsächlich von einem zum nächsten überleiten. Zumindest kann die dritte jetzt kein Zufall sein, denn Üppigkeit und Fett sind auch beim nächsten Teller das Thema. Darauf findet man zwei Stücke vom Bonito, scharf angebraten, aber im Kern roh, dazu Katsuobushi, also ebenfalls Bonito, nur in getrockneter Form. Diese Flocken haben in der japanischen Küche eine besondere Bedeutung, weil sie für Dashi unentbehrlich sind, die Basis der japanischen Küche schlechthin. So subtil ein Dashi daherkommt, tritt dieser Snack breit und laut auf, die Flocken schmecken etwas nach Lagerfeuer, der fettige Fisch dazu wie ein Stück Iberico-Schwein. Das ist sehr eindrucksvoll, aber tatsächlich schon jetzt alles etwas mächtig. Dabei hat das Sushi nicht einmal begonnen. (8,5/10)
Der nächste Teller präsentiert ein Stück Karasumi, die japanische Version von Bottarga, also Rogen von der Meeräsche. Dazu gibt es zwei Stücke eines gehaltvollen, knusprig frittierten Fischs, ich vermute, ebenfalls Meeräsche. Ein so großes Stück getrockneten Rogen zu essen, ist ein gewöhnungsbedürftiges Vergnügen. Die Deliktasse schmeckt salzig und tranig und muss unbedingt mit einem großzügigen Schluck Sake neutralisiert werden. Der fettig-knusprige Fisch hilft ebenfalls dabei. Für das, was es ist, ist es sehr gut; der maximale Genusswert dieser Delikatesse steht auf einem anderen Blatt. (7/10)
Weltklasse-Niveau erreicht der nächste Snack, was bereits die Komposition verrät. Mit drei Scheiben perfekt gegarter Abalone auf einem Seeigel-aus-Hokkaido-Risotto mit einem Dip aus Abalone-Leber kann wenig schieflaufen. Die deliziösen Zutaten sorgen für feinsten maritimen Genuss mit körnigem, sämigem Risotto und appetitlichen, herben Akzenten von der Sauce. Ganz wunderbar. (8,9/10)
Die üppigen Fische, der Einsatz von Reis, die großzügigen Portionen: All das wiegt inzwischen recht schwer und ist in meinen Augen ein Fauxpas in Hinblick auf ein wohlbalanciertes Mahl.
Eine weitere Vorspeise folgt sogar noch. Es gibt einen Reiscracker – voluminös, aber mit angenehm leichter Textur, dazu, als eine Art Dip, ein Thunfischtartar mit Haifischflosse. Letztere Zutat wollte ich nach der vorgestrigen Begegnung im Azabu Kadowaki eigentlich meiden, doch hier hatte ich keine Möglichkeit, irgendetwas vorab kundzutun. Dessen ungeachtet ist das Tatar angenehm kühl, gehaltvoll und hat durch die faserige Flosse einen kurzweiligen Biss. Ziemlich gut. (7,5/10)
Nach diesem üppigen Auftakt beginnt der Koch, der für diesen Teil des Tresens verantwortlich zeichnet, mit der Zubereitung des Nigiri-Sushi.
Das erste Stück kommt mit Suzuki (Wolfsbarsch). Der Reis hat sehr wenig Säure, der Fisch, dem ich bei Nigiri bisher selten begegnet bin, ist naturgemäß kaubedürftig, die Proportionen sind etwas unausgewogen.
Das nächste Stück mit Shiroika (Tintenfisch) ist deutlich besser proportioniert und bietet wegen der kreuzweisen Einschnitte ein angenehmes Mundgefühl.
Akami (magerer Thunfisch), ist von exzellenter Qualität, überrascht aber mit einem Missverhältnis zwischen (viel) Fisch und (wenig) Reis.
Chūtoro (mitterfetter Thunfisch), ist in dieser Hinsicht besser – und vom Erlebnis am Gaumen ohnehin.
Aji (Stachelmarkele) ist einen Hauch zu kühl und eine Nuance zu trocken.
Wohlbemerkt – daran muss man zwischendurch erinnern – bewegen sich alle Beobachtungen auf ein Grundniveau, das kaum unter »sehr gut« rücken kann. Würde man als »Japan-Neuling« irgendeinen dieser Happen in den Mund nehmen, stellte man unmittelbar einen überraschenden, mundfüllenden Wohlgeschmack fest, den man nur in den besten japanischen Restaurants erleben kann.
Inzwischen glaube ich auch, erkannt zu haben, woher das Missverhältnis bei den Proportionen entsteht: Die kleinen Reisbällchen (das Shari) scheinen hier tatsächlich vorportioniert zu sein. Zumindest sieht man den Koch nie, wie sonst üblich, die Reisportion aus einem Korb zu holen und ihn dann in ein paar gekonnten Handgriffen selbst zu formen. Stattdessen ist mit einem einzigen Handgriff immer schon eine fertig geformte Reisportion vorhanden. Das ist einigermaßen befremdlich.
Hamaguri (Orientmuschel) wurde mit einer passenden, leicht süßlichen Sojasauce bestrichen, ist aber recht kaubedürftig.
Der Anago (Salzwasser-Aal) auf dem nächsten Nigiri ist zwar ein qualitatives Highlight, aber deutlich zu heiß in diesem Kontext – und hier nun in einem geradezu unentschuldbaren Missverhältnis zum Reis portioniert. Das Stück kann man nicht mal greifen.
Eine Sushi-Rolle mit Chūtoro ist sehr gut, aber es ist inzwischen unangenehm viel geworden.
Es folgt noch ein Stück Tamago (Omelette) sowie eine mit getrocknetem Tofu ummantelte Rolle mit getrocknetem, süßem Kürbis (beides 7/10, ein Niveau, auf dem ich im Schnitt das gesamte Nigiri-Sushi einstufe).
Eine eingelegte japanische Pflaume (Ume) schmeckt süß und ein wenig wie Kirsche und Amaretto (6,9/10), und dann war es das auch mit dem Mahl. Auf einen Tee verzichte ich an dieser Stelle. Auf der Rechnung stehen am Ende 39 600 ¥ für eine Person (ca. 250 €), inklusive einigen Gläsern Sake und Wasser.
Das eineinhalb stündige Mittagessen werde ich – trotz exzellenter Rohstoffe – in guter, aber nicht in bester Erinnerung behalten. Vor allem beim Nigiri haperte es handwerklich; ich kann mir nicht vorstellen, dass der berühmte Meister Mitani auch nur eines dieser Stücke abgenickt hätte. Aber ich war ja auch nicht beim Meister. Sondern nur in einem Laden, der seinen Namen trägt.
(Weitere Artikel über meine Reise nach Japan im Sommer 2023 unter diesem Link.)