Cuisine[s] Michel Troisgros ‒ verzeihlicher Umweg
Im Erdgeschoss eines förmlichen Hyatt-Hotels französisch essen zu gehen ist vermutlich nicht die erste Idee, auf die die meisten kommen, nachdem sie in Tokio angekommen sind. Es war auch nicht meine erste Idee, aber ihre Umsetzung bietet mir an diesem Montagabend einige Vorzüge.
Der lange Flug macht sich trotz bequemer Reiseklasse bemerkbar, und auch die Zeitverschiebung zollt ihren Tribut. Dazu ist heute in Japan ein Feiertag, sehr viele Restaurants haben deshalb geschlossen ‒ sofern sie nach dem Jahreswechsel überhaupt schon wieder geöffnet haben. Aber irgendwas ist ja immer.
Wegen all dieser Umstände suchte ich für meinen Ankunftsabend in Tokio ein Restaurant in unmittelbarer Nähe meines Hotels, das trotz allem eine hervorragende Küche anbietet. Ich stieß schnell auf das mit zwei Michelin-Sternen ausgezeichnete Cuisine[s] Michel Troisgros im Hotel Grand Hyatt. Gehobene französische Küche ist in Japan immer en vogue, daher ist es nur schlüssig, hier auch dem Namen von Michel Troisgros zu begegnen, einem der am höchsten dekorierten Köche und Gastronomen Frankreichs. Natürlich interessiert es mich sehr, was Troisgros hier umsetzt.
Das mehrdeutige Wortspiel mit dem optionalen Plural-S hinter Cuisine soll vermutlich die unter einem Küchenstil vereinten Restaurants von Michel Troisgros in Frankreich und Japan aufgreifen, doch einen größeren Reim versuche ich mir auf den Namen auch gar nicht zu machen.
Das Interieur, sowohl vom Hotel als auch vom Restaurant, ist etwas bieder. Das Restaurant ist in zwei Bereiche unterteilt. Der vordere bietet rote Ledersessel auf gesprenkeltem Steinfußboden, der hintere eine glücklicherweise etwas harmonischere Umgebung mit Holz und gedeckten Farbtönen. Der Ausblick auf eine beleuchtete Hecke schafft an meinen Fensterplatz eine behagliche Atmosphäre. Dabei ist das Restaurant nahezu leer.
Ich beginne den Abend mit einem Glas 2007er Chablis Premier Cru „Vaulorent“ der Domaine Jean-Marc Brocard (ca. € 27) mit nussigen Reifenoten und freue mich darüber, dass es in der internationalen Spitzengastronomie selbstverständlich ist, Burgunder (glasweise) anzubieten.
Die Speisekarte bietet sowohl ein Menü mit acht bis elf Gängen (bis ca. € 196) als auch eine A-la-carte-Auswahl. Es gibt hier beträchtliche Upselling-Optionen, in dem man diverse, mit „T“ gekennzeichnete Speisen mit schwarzem Périgord-Trüffel aufwerten lassen kann (sechs Gramm zu ca. € 28), es ist immerhin Saison. Tatsächlich lasse ich mich für den Hauptgang auf diese Option ein, weil sie mir dort kulinarisch schlüssig erscheint.
Tokio, Troisgros, Trüffeln, Chablis, der schlichte, mit Stäbchen eingedeckte Tisch … Meine Laune steigt, die elf Gänge sollen es werden.
Ein sehr höflicher japanischer Kellner tischt den ersten Teil der „Finger foods“ auf. Es gibt eine quaderförmige, betörend knusprige Praline mit Kastanie und flüssiger Trüffelfüllung ‒ warm, wohlschmeckend, wundervoll (8,5/10) ‒; Lachsrogen mit Tintenfisch-Chips und Wasabi, mit fantastisch frischem Rogen, angenehm gekühlt und einem hyperfrischen Geschmacksbild (8/10); sowie einen Snack mit Roter Bete, Quittengelee und Sesam, bei dem Säure und die Röstnoten vom Sesam sehr gut, fast schon nordisch, zusammenspielen (7/10).
Es folgt Chawanmushi mit Entenjus und schwarzem Trüffel, eine der überzeugendsten Verbindungen von japanischer und französischer Küche, die ich je probiert habe. Der „japanische Eierstich“ ist eine Kunst für sich und hier perfekt zubereitet. Es existieren bei der Speise Nuancen, die sich ‒ ähnlich wie bei Sushi ‒ nur schwer erklären lassen. Die Verbindung mit herzhaftem Entenjus und erdigem Trüffel ist die französische Antwort auf eine in Japan sonst üblichere Kombination mit Dashi. Die Hitze, die Aromen, das Handwerk ‒ all das ist zum Augenschließen perfekt. (10/10)
Dazu ‒ immer noch Teil der Amuse-bouches ‒ gibt es mild geräucherte Makrele von überragender Qualität, mit zartem Schmelz und mildem, aber charakteristischen Geschmack, dazu eine präzise abgeschmeckte Joghurt-Minz-Sauce. Die kleine Speise ist nicht wirklich als Gericht zu bezeichnen (und zu bewerten), aber mit 8/10, meiner Maximalnote für ganz pur servierte Zutaten, dennoch fast zu gering honoriert.
An sehr gutem Weißbrot, einer wunderbaren Brioche feuilletée und bretonischer Fassbutter erfreue ich mich an diesem Abend dann noch einmal besonders, bevor die japanische Küche der nächsten Tage diese „Sättigungsbeilage“ dann nicht mehr vorsehen wird.
Der erste Gang des Menüs ist roh marinierte Dorade, die mit einer Walnuss-Parmesan-Sauce und Artischockenchips kombiniert ist. Wenngleich ich aufgrund ihrer „stumpfen“ und etwas kaubedürftigen Textur kein großer Fan von roher Dorade bin, ist diese durch das Marinieren etwas zarter geworden und passt erstaunlich gut zu der recht mächtigen Sauce. In Summe ist das eine hervorragende Speise, bei der sich alle Zutaten differenziert präsentieren und dennoch eine spannende Einheit bilden. (8/10)
Der nächste Gang ist schon mal eine Augenweide. Während man sich in Deutschland immer noch mehrheitlich für überdekorierte Gerichte begeistert, bei denen einem das Zählen der Kleckse und Kräuter schnell beim Einschlafen helfen kann, spielt sich in den meisten bedeutsamen Küchen im Ausland Wesentliches in der Tellermitte ab. Hier ist das eine Rolle von Mangold und Shiitake-Pilzen. Ein cremiger, heißer Trüffeljus wird dazu angegossen. Überhaupt ist das Gericht wohltuend heiß ‒ ein oft unterschätztes Qualitätsmerkmal sorgfältig zubereiteter Speisen, die durch Hitze profitieren. Bemerkenswert ist nicht nur die äußerst harmonische Kombination der drei Hauptzutaten, sondern auch die hervorragenden Shiitake-Pilze. Allein der klare Kontrast der Farbgebung ‒ mit der dunklen Kappe und dem hellweißen Inneren ‒ zeugt von einer speziellen Qualität. Viele Pilze dieser Gattung hinterlassen lange ‒ teilweise über Stunden ‒ einen penetranten Umami-Geschmack am Gaumen; hier ist das nicht der Fall. Umami ist die gesamte Speise zwar auf ganzer Linie, klingt aber genau richtig nach. Das Gericht ist leicht, modern, kreativ, produktfokussiert und luxuriös, mit anderen Worten: mehr als hervorragend. (8,5/10)
Im Glas ist inzwischen ‒ offen serviert ‒ ein 2014er Vosne-Romanée „Vielles Vignes“ von der Domaine Frédéric Magnien (ca. € 27). Es geht alles schlechter.
Minimalistische Anricht-Ästhetik ist auch ein Thema des nächsten Gangs. Ein Stück gebratener Zackenbarsch wird von einer cremigen Miso-Sauce begleitet, dazu gibt es gedünsteten Chicorée. Dessen Bitterkeit bildet eine geschmacklich schlüssige Überleitung zur Miso-Sauce, deren Fermantationsaromen gut die Bitterkeit kompensieren und mit etwas Zitrusfrucht, vielleicht Yuzu, folgerichtig auf den Fisch verweisen. Leider ist der übergart und dadurch etwas trocken geraten ‒ ein kleines handwerkliches Missgeschick. Der ansonsten exzellente Gang rutscht dadurch auf 7/10 ab ‒ natürlich immer noch sehr gut.
Wenn man denkt, es könnte kaum reduzierter werden, folgt der nächste Gang. Es gibt ausgelöstes Fleisch von der Schneekrabbe, eingewickelt, wie eine Zigarre, in ein Sauerampferblatt. Der Krebs schmeckt leicht und kraftvoll zugleich ‒ buttrig, nussig und nach Meer ‒, das Blatt kontrastiert die Üppigkeit erneut mit anspruchsvoller Bitterkeit. Eine dreieckig geformte Portion aus brauner Butter findet man in zurückhaltender Entfernung neben dem Ganzen, als wolle die Sauce auf bescheidene Weise ihre Notwendigkeit infrage stellen. Doch sie passt traumhaft dazu. Natürlich! Die Butter, der buttrige Krebs, die fordernde Bitterkeit des Sauerampfers, das ist schlicht großartig. (9/10)
Der Hauptgang gestaltet sich wie folgt. Ein Rinderfilet „nach dem Rezept der Brüder Troisgros“ kommt mit einem makellosen, klebrig-heißen Rotwein-Schalottenjus, quietschig-frischen Périgord-Trüffeln ‒ erkennbar an ihrem erdigen Duft, einer sehr ausgeprägten weißen, korallenartigen Maserung und der weichen, leicht feuchten Konsistenz ‒ und einer Scheibe Lauch. Die spannendsten kulinarischen Momente erlebt man eigentlich, wenn man ganz unverhofft feststellt, dass eine Scheibe Lauch die beste ist, die man je probiert hat. So wie hier. Auch der Jus und die Trüffeln sind fantastisch, allein das Filet überzeugt nicht. Filet ist zwar prinzipiell nicht das attraktivste Stück Rindfleisch, doch auch dieses ‒ naturgemäß eher magere ‒ Stück gibt es natürlich in exzellenter Qualität. Dieses Stück ist vergleichsweise trocken, gar nicht so, wie man sich wünscht, in Japan Fleisch zu genießen. Auf Nachfrage erfahre ich zu meiner Befremdung, dass das Fleisch aus Irland kommt. Wenn man hier schon keinen „rein französischen“ Teller daraus macht, dann doch eher mit dem hier in Japan erhältlichen, überragenden Fleisch. Ein gewichtiger Makel eines ansonsten hervorragenden, klassischen Gerichts in moderner Zubereitung. (7,9/10)
Von der Käseauswahl probiere ich auch noch, u. a. zwei japanische Sorten aus Hokkaido sowie übliche Verdächtige wie Brie de Meaux, Vacherin Mont d’Or und Comté. Sie sind alle gut, aber nicht so überragend wie die der berühmten Affineure.
Ein Dessert mit verschiedenen, cremigen Zubereitungen mit Zitrusfrüchten und einem Eis aus einem Gemüse, dessen Namen ich nicht verstanden habe, ist erfrischend und vor allem auch bzgl. der verschiedenen Temperaturen sehr präzise gearbeitet (7/10); es folgen noch bessere Pralinen und Macarons (8/10).
Ein „Schneemann“ aus, unter anderem, Panna Cotta und Mascarpone überzeugt mit einer zurückhaltenden Süße und spannenden Texturen (7,5/10). Die Patisserie arbeitet hier äußerst exakt, ist dabei aber nach meinem Geschmack etwas zu stark auf die Modifikation von Texturen fokussiert.
Es gibt viele Gründe, dieses Restaurant aus seiner Essensagenda in Tokio auszuschließen, aber objektiv hervorragend gespeist habe ich hier dennoch. Wer also an einem Feiertags-Montag in Tokio gestrandet ist, dem sei ein Umweg hierhin nicht nur verziehen, sondern ausdrücklich ans Herz gelegt.
Informationen zu diesem Besuch | |
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Restaurant: | Cuisine[s] Michel Troisgros (→ Website) |
Chef de Cuisine: | Guillaume Bracaval |
Ort: | Tokio, Japan |
Datum dieses Besuchs: | 14.01.2019 |
Guide Michelin (Tokyo 2019): | ** |
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