Sushi Yoshitake – Gaumenheilung
Nach meinem exzellenten Mittagessen im Esaki verbringe ich den Nachmittag mit dem Erkunden der Tokioter Stadtteile Aoyama, Omotesando und Daikanyama. Boutiquen, Cafés, Galerien und kleine Parks laden in diesen entspannten, kreativen Vierteln zum Spazieren und Stöbern ein. Das ist nicht nur interessant, sondern opportunerweise auch appetitanregend, zumindest nach ein paar Stunden. Opportun deshalb, weil ich abends eine Reservierung im Sushi Yoshitake habe – meine erste Begegnung mit authentischem Sushi in Japan. (Meine erste Begegnung mit ernstzunehmendem Sushi außerhalb Japans hatte ich 2012 im Masa in New York.)
Als mich das Taxi dann abends im schillernden Viertel Ginza (Bezirk Chūō) absetzt, finde ich eine ähnliche Situation vor wie heute Mittag: Dass das Restaurant hier irgendwo sein muss, ist klar, nur wo? Anders als noch vor ein paar Stunden muss ich jetzt allerdings nicht lange nach Schildern oder Gastronomie suchen, denn die Straße ist voll davon. Ich habe sogar aus dem Internet ein Foto vom Gebäudeeingang dabei. Es handelt sich offenbar um ein Geschäftsgebäude, welches ich aber nicht auf Anhieb ausfindig machen kann.
Ich laufe etwas umher – allzu weit kann es nicht sein – und frage spontan Passanten um Rat, gestikulierend und mit meinem Adressausdruck wedelnd, denn Englisch sprechen sie nicht. Die Gruppe der zunächst etwas zögerlich wirkenden Japaner ist dann schließlich doch sehr hilfsbereit und sucht mit mir gemeinsam die Straße ab.
Wir finden das Gebäude. Es ist fast genau an dem Ort, an dem mich das Taxi absetzte.
Angekommen bin ich trotzdem noch nicht. Es gilt jetzt zunächst, die Beschilderungen am Haus zu entziffern. Interessanterweise müssen selbst meine japanischen Helfer etwas überlegen, bis sie schließlich auf das Schild im dritten Obergeschoss deuten: „Yoshitake! Yoshitake!“. Das ist es, da will ich hin.
In einem beengenden Fahrstuhl fahre ich nach oben.
Mit seinen lediglich sieben Tresenplätzen ist das Restaurant – oder besser: das Esszimmer – dann auch nicht gerade geräumig, aber ich fühle mich auf Anhieb wohl. Natürlich! Schließlich sitze ich zum ersten Mal in meinem Leben an einem klassischen japanischen Sushitresen. Es gibt viele erste Male auf dieser Reise, und dieses hier ist ein weiteres, dem ich vorfreudig entgegenfiebere.
Als ich mich setze, bin ich noch der einzige Gast und kann einige Vorbereitungen der gut gelaunten und freundlichen Meister beobachten. Die Sorgfalt, die selbst kleinsten Details gewidmet wird, ist bemerkenswert. Mit Bedacht wird jedes Utensil akkurat platziert: handgearbeitete Teller, Schälchen, Schüsselchen, Pinsel, Messer. Das ist fast wie vor einer OP. Und wenn man genauer darüber nachdenkt, gibt es noch mehr Parallelen. Es wird geschnitten und getupft, das Personal trägt weiße Kleidung, es wird sauber gearbeitet, und um Heilung geht es auch irgendwie. Um die Heilung des Gaumens vom West-Sushi-Virus. Hier wird man kuriert von den Traumata, die gummiartige Seetangröllchen, gefüllt mit Mayonnaise, Avocado und Stücken beliebiger toter Tiere verursacht haben. Kein Wunder, dass es Leute gibt, die „kein Sushi mögen“.
Wenig später beginnt die Behandlung.
In zwei wunderschönen Schälchen gibt es links eine Zubereitung mit mariniertem mantis shrimp (Fangschreckenkrebs), rechts eine Kreation mit Mini-Tintenfisch, Jakobsmuschel, Kohl und Senf. Ein großartiger Auftakt! Gleich mehrere Dinge machen ihn dazu: die Geschmackskomposition an sich, die durch ein Zusammenspiel von Frische, Salzigkeit, Herzhaftigkeit und leichter Schärfe restlos begeistert; aber auch das Mundgefühl und die Tatsache, überhaupt etwas „zu beißen“ zu haben. Wie mir bereits im Esaki gestern sehr positiv die Hitze eines Gerichts auffiel, ist es hier die Tatsache, wie wichtig auch Kauen für den Genuss ist. Vielerorts in der Spitzengastronomie kann man ja auch mühelos ohne den Einsatz seiner Zähne speisen. Und wie ließ Loriot schon in Pappa ante portas durch Herrn Drögel in seiner Süßwarenfabrik verkünden? „Die Geschmackspartikel entfalten sich übrigens am besten durch abwechselndes Lutschen und Kauen“.
Als nächstes platziert Masahiro Yoshitake zwei Stücke Oktopus auf meinem Teller. Sie sind zart wie Milchlamm. Die vorangegangene Zubereitung, die zu diesem delikaten Ergebnis führt, bleibt mir leider verborgen. Dies ist auch die erste Gelegenheit für mich, den vor meinen Augen frisch geriebenen Wasabi zu kosten, der schon eine ganz andere, hellere Farbe aufweist als das allseits bekannte industrielle Surrogat aus Tuben mit Farbstoff, Senfpulver und Gewöhnlichem Meerrettich. Dieser japanische Rettich bringt seine mintgrüne Farbe natürlich von Haus aus mit, zudem ist die Schärfe zwar präsent, aber viel natürlicher eingebunden und dadurch insgesamt feiner. Sehr gut, um dem Oktopus einen kleinen Kick zu geben.
In der Zwischenzeit kann ich den Chef bei seiner Fertigkeit bewundern, mit dem Messer umzugehen. Als wäre das lebensgefährliche Werkzeug eine Verlängerung seines Arms, präpariert er scheinbar mühelos ein Filet vom Roten Schnapper, von dem wenig später zwei Stücke in ihrer ganzen schlichten Pracht vor mir liegen.
Wunderbar sind sie. Rein, frisch, makellos.
Es folgt Abalone, separat dazu ein kleiner Teller mit einer aus Abaloneleber (!) hergestellten Sauce, sowie etwas Reis zum Vermengen. Ein schmackhaftes, regelrecht herzhaftes Erlebnis!
Bevor es zum klassischen Nigiri-Sushi übergeht, folgen noch zwei weitere Gänge: ein ganz kurz über Holzkohle angegrillter Fisch (fantastisch!) sowie, in einem kleinen Topf, eine angenehm kühle und leicht säurebetonte Zubereitung mit Taschenkrebs, die ganz hervorragend ist.
Und dann folgt es endlich, das berühmte Sushi wie man es kennt – oder besser: nicht kennt. Denn schon der allererste Happen, mit Tintenfisch, brennt sich für immer in mein Gedächtnis ein.
Man bestaune allein die akkuraten kreuzweisen Einschnitte, die es dem Fleisch ermöglichen, sich um den Reisballen zu schmiegen. Am Gaumen wird sofort klar, worum es bei diesen Nigiri-Sushis geht: es ist das komplexe Zusammenspiel der Protagonisten Reis und Fisch. Wie facettenreich das ist und wie viele Stellschrauben es dabei gibt, werde ich heute Abend und im weiteren Verlauf meiner Reise noch eindringlich erfahren und als eine der wichtigsten kulinarischen Erfahrungen für mich abspeichern.
Die exzellente Darbietung geht dann wie folgt weiter:
Flunder, schmeckt fast wie Lardo
Chūtoro (mittelfettiger Thunfischbauch)
Ōtoro (fettiger Thunfischbauch), beide Thunfische atemberaubend gut
Kohoda, eine Heringsart
Aji, eine Makrelenart serviert mit einer Art Schnittlauchpaste
Eine Muschelart
Uni (Seeigel) – nach etwas „Eingewöhnungszeit“ am Gaumen, die nicht länger als ein paar Sekunden dauert, ist das etwas glibberige Zeug wirklich ganz wunderbar
Kuruma ebi (Garnele)
Anago (Aal)
Eine Rolle mit Akame, einem magereren Stück vom Thunfisch
Tamago, eine Art Omelette
Mit einer Misosuppe und grünem Tee wird das unvergessliche Mahl abgeschlossen (prix fixe ca. €165).
Gesättigt – vom Umfang und von den neuen reichhaltigen Erfahrungen – fahre ich wenig später mit dem engen Fahrstuhl wieder nach unten und verlasse das Gebäude hinaus in die Nacht Tokios.
Nach einigen Schritten werfe ich einen ungläubigen Blick zurück in die Straße. Das Gebäude, in dem ich eben noch das beste Sushi meines Lebens aß, wurde wieder vollständig von dem leuchtenden Schildermeer verschluckt. War ich gerade wirklich dort? Ich bin mir ziemlich sicher. Irgendwo hier muss es gewesen sein …