Esaki – gesucht, gefunden
Ein solches Erlebnis wird typisch sein: Das Taxi fährt mich zu der auf meinem Computerausdruck stehenden Adresse (東京都渋谷区神宮前3-39-9), aber von einem Restaurant ist hier keine Spur. Helfen kann der Fahrer nicht; mit Restaurantnamen kann hier niemand etwas anfangen. Wie auch? Es gibt über Hunderttausend Restaurants in dieser Stadt. Ich steige aus, und das Taxi fährt von dannen.
Eine Modeboutique finde ich hier, aber die sieht geschlossen aus. Irgendwo hier muss es aber sein, das bestätigt auch Google Maps auf meinem iPhone. Ich gehe die menschenleere Seitenstraße etwas auf und ab, um nach Hinweisen auf Gastronomie zu suchen. Fehlanzeige. Stattdessen nur menschenleere Eingänge zu Wohn- oder Geschäftshäusern, daneben parkende Autos und überirdische Strommasten.
Die Stimmung erinnert mich an Gemälde von Edward Hopper, die trotz scheinbar harmloser Motive – z. B. eine Häuserfassade bei gleißendem Tageslicht – eine befremdliche Atmosphäre zum Ausdruck bringen. Das hat was, aber ich würde jetzt schon gern meine Reservierung wahrnehmen. Aber ein bisschen Zeit bleibt noch; etwas Luft für Unvorhergesehenes plane ich immer ein.
Hätte ich gewusst, dass die Bezeichnung B1F in der übersetzten Adresse das erste Untergeschoss bezeichnet, hätte ich schon mal nach Kellergeschossen Ausschau gehalten.
Doch nach einigem Umherirren taucht plötzlich vor dem Modegeschäft eine Familie auf. Ich versuche es mit Englisch und habe Glück. Das Esaki sei gleich hier, sagt der Mann, der offenbar auch hier zum Essen einkehrt, und deutet auf ein Schild und eine steile Treppe nach unten. „Did you know that this restaurant has three Michelin stars?”, fragt er in einer Mischung aus Stolz und Bewunderung. Wie genau ich das weiß, kann er natürlich nicht wissen.
Mit etwas Abstand folge ich den Leuten die Treppe hinunter, werde sehr freundlich empfangen und an einem tischhohen Tresen platziert. Das Restaurant ist sehr schlicht eingerichtet und bietet verschiedene Sitzgelegenheiten. Mein Tresenplatz ermöglicht eingeschränkte Einblicke in die Küche und damit auch die Möglichkeit zu etwas Kommunikation mit dem Küchenchef.
Nach der klassischen Am-Tisch-bewirtet-werden-Situation gestern Abend im RyuGin ist es damit das erste Mal auf dieser Reise, dass ich den Köchen etwas näher bin. Genau diese Interaktion zwischen Köchen, dem Gast und dem Essen macht einen wichtigen Bestandteil des gastronomischen Erlebnisses in den japanischen Restaurants aus, wie ich es die nächsten Tage noch häufiger erleben werde.
Positive Spannung liegt in der Luft: meine Neugier aufs Essen, der Slalom um die Sprachbarrieren und die Hoffnung, als Ausländer keine schlechte Figur abzugeben. Aber ich gebe mein Bestes.
So auch Küchenchef Shintaro Esaki, der verständnisvoll und freundlich nickt, wenn ich ihm dann und wann sage, wie delicious oder excellent sein Gast aus Doitsu das alles findet.
Zum Beispiel gleich den Auftakt des (einzig verfügbaren) Mittagsmenüs zu günstigen 5.250 Yen (ca. 37 Euro). Zutaten, die jeder kennt – Jakobsmuschel, Tomate, Minze, ein paar Gemüse und Erndnuss –, wurden zu einem kleinen Meisterwerk verarbeitet. Bestechend gut wird es … durch so vieles: duch die unglaubliche Qualität der Jakobsmuschel; durch die perfekte Garung mit einer verführerisch knusprigen Ummantelung; und überhaupt durch die Kombination von Tomate, Minze und der Erdnusssauce. Dann ist das Ganze auch noch heiß und nicht so lauwarm wie fast alles, das man in unseren Breiten serviert bekommt, weil es zehn Minuten unter einer Wärmelampe zusammengebastelt wurde. Man vergisst schnell, wie wichtig Wärme – nein, Hitze – für viele Speisen ist. Regelrecht fantastisch.
Ein paar Stücke rohe, kalte und den Gaumen abkühlende Flunder mit nicht mehr als Zitrone, einigen Kräutern und einem erstaunlich intensiven Meersalz machen aus etwas Kleinem etwas Großes. Das behutsame Justieren der Salzdosis, bei der ein paar Milligramm einen Riesenunterschied machen, ermöglicht spannende Variationen innerhalb dieser kompakten Speise. Eindrucksvoll in seiner Einfachheit. Und very delicious. „Vielen Dank!“ erwidert der Chef, auf Deutsch! Ich danke zurück.
Als nächstes wird mir ein nach Lagerfeuer duftendes Schälchen serviert. In einem behutsam salzig-rauchigen, etwas abgebundenen, Sud gart ein schneeweißes Stück Fisch mit etwas Haut. (Dass ich die Zutaten nicht genau kenne oder verstehe, wird auf meiner Reise noch häufiger vorkommen; ich bitte um Nachsicht.) Ein sellerieähnliches Gemüse liegt obenauf. Ein erneut wunderbares, reduziertes Gericht voller Tiefgang und aromatischer Fülle.
Wie bei den Kaiseki-Restaurants üblich, folgt als letzte warme Speise eine Reisspezialität des Hauses. Das klingt vielleicht nach Chinaimbiss, ist aber, wie bereits zuvor im RyuGin, eine hohe Kochkunst, die man erlebt haben muss! Hier wurde der Reis (mit herrlichem „Biss“) mit einer Heilbuttart und Ingwer zubereitet, was ihn leicht pikant und herzhaft macht. Ich lasse kein einziges Korn in dem Schälchen! Dazu passt das exzellente Misosüppchen, das sogar noch eine Nuance besser ist als das ohnehin schon hervorragende Pendant gestern Abend. Dann ist ganz rechts noch ein weiteres Schälchen mit einer rauchigen Flüssigkeit. Ich weiß nicht, was es ist, aber es ist mild-würzig, etwas herb (wie Tabak) und lässt sich hervorragend mit den anderen Speisen kombinieren.
Als wäre das Mahl nicht schon gut genug, folgt nicht weniger als eines der besten Desserts, die ich je gegessen habe! Es handelt sich in dem Schälchen um eine einzelne süße Erdbeere in einer geleeartigen Masse von braunem Zucker und einer Art Pudding oder Milchreis, dazu Minze. Wer es leid ist, diese ganzen neumodischen, gemüsefokussierten, gebastelten Desserts mit zig Komponenten – von Staub über Röllchen zu Schwämmen und Tröpfchen – gut finden zu müssen, der komme hierher, um sich mal wieder an wahrhaftigem Süßspeisenglück zu erfreuen.
… Und erwähnte ich schon den wunderbaren Kräutertee dazu, der in einem durchsichtigen Kännchen vor sich hinzieht und nach Basilikum, Marzipan und Veilchen schmeckt?
Alles, was ich mir von der japanischen Küche erhofft habe, habe ich in diesen Tellern und Schälchen gefunden. Die aufs Wesentliche reduzierten Speisen sind allesamt kleine Wunderwerke. Bei jedem Gericht ist der Respekt gegenüber der Natur (den Zutaten) und dem Gast (mit der Intention, dass es ihm schmecken soll) so präsent wie man es in der westlichen Küche kaum erleben kann.
Was für ein großartiges, zutiefst zufriedenstellendes Essen! Wie gut, dass ich gerade erst angekommen bin.
Informationen zu diesem Besuch | |
---|---|
Restaurant: | Esaki (→ Website) |
Chef de Cuisine: | Shintaro Esaki |
Ort: | Tokio, Japan |
Datum dieses Besuchs: | 12.04.2014 |
Guide Michelin (TYO 2014): | *** |
Meine Bewertung dieses Essens |