Gion Sasaki – Kaiseki im Wandel

Nach vier kulinarisch aufregenden Tagen in Tokio, die vom Genuss herausragenden Sushis geprägt waren, freue ich mich auf etwas Abwechslung. Es geht – wenn auch nur für nicht einmal vierundzwanzig Stunden – weiter nach Kyoto. Mein primäres Ziel ist das Drei-Sterne-Restaurant Gion Sasaki, das vorletzte der aktuellen 149 Drei-Sterne-Restaurants, das ich noch nicht besucht habe.

Letzteres sollte kaum überraschen, denn das Haus von Küchenchef und Inhaber Hiroshi Sasaki ist eines der am schwierigsten zu reservierenden in ganz Japan. Es verwundert, dass der Guide Michelin das Restaurant überhaupt noch aufführt.

Meine Bemühungen, hier eine Reservierung zu bekommen, beinhalteten dieses Mal einen postalischen Brief sowie diverse Telefonate und E-Mails zwischen mir, meinem Hotel und anderen Helfern vor Ort – in jeweils unterschiedlichen Richtungen.

Der Grund für die restriktive Reservierungspolitik liegt, wie so oft in Japans Spitzengastronomie, in einer Mischung aus Erfahrung und Vorsicht. Viele Restaurantbetreiber haben schlechte Erlebnisse mit ausländischen Gästen gemacht, sei es durch mangelndes Verständnis für die Küche und Gastronomie, fehlendes Wissen über die teils ungewohnten Zutaten oder schlicht durch die Sprachbarriere. Diese Exklusivität soll beide Seiten schützen, so meine Vermutung: Das Restaurant vermeidet No-shows und unvorbereitete Gäste, während jene, die sich mit Japans Hochküche nur peripher beschäftigen, vor einer möglichen Enttäuschung bewahrt bleiben. Natürlich werde ich – in meiner Rolle aus ausländischer Gast – mein Bestes geben, um das Bild von »uns« wieder ins rechte Licht zu rücken.

Das Gion Sasaki befindet sich in einem imposanten traditionellen Gebäude in einer abschüssigen Straße in Kyotos Gion-Viertel. Der Eingang ist stimmungsvoll mit Laternen beleuchtet; zehn Stufen führen hinauf zum Eingang, den ein roter Vorhang markiert. Das Abendessen – es gibt auch Lunch – beginnt für alle um 18.30 Uhr, Einlass ist um 18 Uhr. Ich bin noch einige Minuten zu früh, folge schließlich aber, mit etwas Abstand, anderen Gästen, die von einer schwarzen Mercedes S-Klasse vor dem Restaurant abgesetzt werden.

Man empfängt mich freundlich und führt mich zunächst in einen Vorraum, in dem man sich die Schuhe auszieht. Danach geht es in den Speisesaal mit großer, offener Küche und einem breiten Tresen aus edlem, hellem Holz. Dreizehn Sitzplätze zähle ich, die in Kürze alle besetzt sein werden. Im Vergleich zu vielen anderen Spitzenrestaurants in Kyoto, in denen man meist ein sehr förmliches, stilles Kaiseki-Mahl erlebt, fällt diese Kulisse hier aus dem Rahmen. Die offene Küche mit vielen Köchen wirkt lebendig und kreativ.

Auch eine Köchin wirkt hier, was in Japans Gastronomielandschaft nach wie vor selten ist. Einzigartig dürfte sogar die Tatsache sein, dass es sich bei Nadja Piskernik um eine junge Österreicherin handelt, die es mit bemerkenswerter Passion und großem Talent ins ferne Kyoto – und dort auch noch in eines der renommiertesten Restaurants – geschafft hat. Fließend Japanisch spricht sie auch noch, da staunt so mancher Gast, ich eingeschlossen. Viel Zeit für Smalltalk bleibt nicht, aber ich bin froh, hin und wieder jemanden für eine Übersetzung zurate ziehen zu können. Der Gast neben mir hat sich auch schon erheitert in unsere Begegnung eingeklinkt – in so viele westliche Gesichter blickt man hier wohl selten.

Eigentlich wäre ich jetzt in der Stimmung für eine Flasche Wein, aber es gelingt mir am Anfang nicht, jemanden hierfür zu bemühen. Etwas neidisch blicke ich auf die Flaschen, die neben mir geöffnet werden, von dem Dom Pérignon links von mir könnte ich jetzt auch ein Schlückchen vertragen, um die Aufregung zu lindern. Stattdessen kommt von irgendwoher ein Kännchen mit warmem Sake, während ein Korb mit kostbaren Schneekrabben (Matsuba-gani) präsentiert wird.

Das erste Gericht ist aber etwas anderes. Es gibt Fischmilch (Shirako) auf einem Sashimi vom Kugelfisch (Fugu) – vermutlich ist beides von dem Tier –, dazu eine Ponzu-Sauce und Schnittlauch, sowie weitere Zutaten, die ich nicht ausmachen kann. Die Temperaturen changieren von kühl bis lauwarm, die Texturen wechseln zwischen cremig und bissfest, und geschmacklich bewegt sich das Gericht zwischen Jod, feiner Säure und dezent nussigem Umami. Auffällig ist auch der Schnittlauch, der in Japan oft eine erstaunliche Aromatik besitzt und mit seiner milden Schärfe einen Kontrast zum weichen, fast schmelzenden Shirako setzt.

Schon dieser erste Gang dürfte für viele westliche Gaumen eine Herausforderung sein – sowohl wegen der Wahl der Zutaten als auch durch die subtile, aber bestimmte Aromenführung. Doch hier, im exklusiven Rahmen einer kreativen Kyotoer Spitzenküche, wirkt das alles vollkommen natürlich. Ein Einstieg, der unmissverständlich signalisiert: Dies ist keine Küche für vorsichtige Esser. (8,9/10)

Es folgt ein Fingersnack in Form eines Mochi mit hausgemachtem Karasumi (Meeräschenrogen). Das elastische, aber kaum klebrige Mochi ist leicht warm und dämpft die salzige Intensität und subtile Bitterkeit des Bottarga etwas ab. Die kreative Darreichungsform gefällt mir besser als die in vielen Kaiseki-Menüs oft schlicht roh servierten Varianten. (8/10)

Ein weiteres, bildhübsch arrangiertes Ensemble verschiedener Kleinigkeiten erreicht den Platz. Ein mit dunkler Sauce leicht bepinseltes Stück Makrele (Sawara) überzeugt lauwarm mit tiefem Umami, saftiger Konsistenz und feiner Süße. Daneben ein kleines »Tortenstück« aus Rübe und Lachs – knackig, lauwarm, erfrischend. Ein gerösteter Tofuwürfel ist leicht klebrig, weich und mit erdig-nussigem Aroma. Ein Duo aus cremiger, nussiger Seeteufelleber (Ankimo) und einem knackig-frischen Stück marinierter Yamswurzel setzt einen spannenden Kontrast. Wahrhaft phänomenal ist schließlich eine unscheinbare Portion Wasserspinat in kühlem, rauchigem Dashi. Ein spürbar zeitgemäß umgesetztes Kaiseki-Arrangement auf höchstem Niveau. (9/10)

Inzwischen habe ich es auch geschafft, einen Wein aufzutreiben. Von irgendwo her taucht eine Flasche 2017er Chassagne-Montrachet 1er Cru »Abbaye de Morgeot« von der Domaine Louis Jadot auf, der in ein Glas von Josephinenhütte eingeschenkt wird. Damit kann ich arbeiten. Ich signalisiere, ganz zur Erheiterung des Küchenchefs, dass die Flasche nicht allzu weit weggestellt werden muss.

Dann folgt der erste Gang, in dem die Schneekrabbe zum Einsatz kommt. Ihr faseriges, aromatisches Fleisch zieht in einem heißen Dashi, begleitet von gedämpftem Daikon, Kyoto-Karotte und einem Stück Frühlingszwiebel. Das als Kaburamushi bekannte Gericht begeistert mit der intensiven Wärme der seidigen Brühe, der saftig-zarten Krabbe mit ihrer natürlichen Süße und der feinen Erdigkeit des sich allmählich zersetzenden Rettichs. Die leuchtenden Gemüsefarben vor der schwarz lackierten Schüssel mit handverziertem Deckel sind zudem eine absolute Augenweide. (9/10)

Eine Abkühlung folgt in Form eines Sashimis vom Ziegelbarsch (Shiro Amadai), das mit frisch geriebenem Wasabi vermengt wurde. Der kühle Fisch hat eine recht feste Textur und eine dezente Süße, während der Wasabi Schärfe und Frische beisteuert. Das ist sehr gut, aber ohne große Überraschungen. (7/10)

Der nächste Gang kombiniert ein Stück sehr gehaltvollen Thunfischs (Maguro) – blassrosa, mit feinen weißen Fettadern durchzogen – mit glitschig-knackiger Yamswurzel und einer haselnussgroßen Portion leichtendgrünem Wasabi. Der Fisch, der von einem jungen Tier stammt, erinnert wegen des Fettgehalts an Ōtoro, kommt aber anstelle des buttrigen Schmelzeffekts mit etwas mehr Biss. Die skurrile Textur der Yamswurzel passt überraschend gut dazu. Der Wasabi rundet das Ganze mit seiner frischen Schärfe perfekt ab. Ein spannendes Sashimi, handwerklich meisterhaft und mit bemerkenswerten Zutaten umgesetzt. (8,9/10)

Dann macht sich Küchenchef Sasaki an die Zubereitung von Nigiri-Sushi – so souverän, als täte er das so regelmäßig wie die großen Sushi-Meister. Das erste Stück mit Makrele (Sawara), das Sasaki direkt von seiner Hand in die Hand des Gasts serviert, muss sich, wenig überraschend, nicht weit hintenanstellen. Der Reis ist eher mild, aber mit nicht ganz so ausgeprägtem Korn, sondern mit mehr Cremigkeit, die vom handwarmem, leicht süßlichen Fisch unterstrichen wird. Mundfüllendes Umami. (8,5/10)

Das zweite Stück ist ein weiterer Gaumenschmeichler: Nun gibt es Ōtoro, fetten Thunfischbauch, der hier interessanterweise parallel eingeschnitten wurde – eine Methode, die bei Thunfisch eher unüblich ist. Das sorgt für eine etwas heterogenere Textur, die den Fettanteil noch intensiver wirken lässt. Die recht große Menge Wasabi wird davon regelrecht neutralisiert, sodass nur noch dessen grüne Frische übrigbleibt. Hervorragend, aber auch spürbar weniger »durchoptimiert« als die Nigiris der Kollegen aus Tokio. (8/10)

Inzwischen ist es in der offenen Küche betriebsamer geworden. Ein halbes Dutzend Köche und weiteres Personal schwirrt teilweise umher; der gut gelaunte Küchenchef ist stets konzentriert, aber oft auch in einem Austausch mit den Gästen involviert. Ich selbst bemühe gelegentlich meine Übersetzungs-App, um eine Botschaft kundzutun. Jetzt gerade halte ich die Übersetzung für den Satz »Vielen Dank, dass ich Ihr Gast sein darf – ich genieße es sehr!« in die Höhe. Man freut sich.

Der nächste Teil der Schneekrabbe folgt. Es gibt das faserige Körperfleisch, das festere, aus den Beinen ausgelöste Fleisch sowie eine Sauce aus Kanimiso, den grünlich-bräunlichen Innereien des Tiers. Die Sauce schmeckt mild, nussig und leicht süßlich, mit wenig Bitterkeit, und stellt sich als spannungsvoller Begleiter zum nussig-süßen Krebsfleisch dar. Das ist ein Qualitätsschauspiel der Extraklasse. Selten hat man zudem – außerhalb von darauf spezialisierten Restaurants – die Möglichkeit, so viel vom Krebs auf einmal zu probieren. (8,5/10)

Dem nächsten Gericht eilt ein rauchig-würziger Duft voraus. Es handelt sich um einen siedend heißen Eintopf (Nabe), in dem verschiedene Gemüse und ein zunächst undefinierbares, dünn geschnittenes Fleisch garziehen, das optisch an Rind erinnert. Am Gaumen erweist es sich als recht zäh und etwas faserig, mit ausgeprägtem Eigenfett. Erst später erfahre ich, dass es sich um Walfleisch handelt.

Natürlich bin ich davon nicht begeistert, aber die Vorstellung, als westlich geprägter Gast hier jetzt demonstrativ Empörung zu zeigen – wie es einige Leser sicherlich erwarten – wäre nicht nur wirkungslos, sondern auch lebensfremd. Es würde nur jedes Vorurteil bestätigen, das man über westliche Besucher ohnehin schon hat. In einem Omakase-Menü können unterschiedlichste und manchmal auch befremdliche Zutaten auftauchen – darauf lässt man sich vorher ein oder eben nicht. Es wäre aber respektlos (und Verschwendung), nicht auch solche Speisen zu würdigen. Das Gericht schmeckt jedenfalls – so viel Ehrlichkeit muss sein – sehr gut, mit rauchigen Aromen, packender Hitze, schmeichelndem Schmelz und lebhafter Frische. (7,5/10)

Und dann folgt Bratreis mit Schneekrabbe, das letzte Gericht mit dieser feinen Zutat und auch der letzte herzhafte Gang. Der Reis ist himmlisch – luftig und körnig, mit frischen Gemüsen und dem mild-süßlichen Krebs. Es ist eines der besten Reisgerichte, die ich je probiert habe, besser noch als so grandiose Reisgerichte wie im Kashiwaya Osaka Senriyama oder Ishikawa, die ich selbst nach Jahren noch im Kopf habe. (9/10)

Das Dessert ist ein Shortcake mit verschiedenen Erdbeeren. Auf dem weichen Kuchen findet man weiße Erdbeeren aus Fukuoka, in der Sauce rote Erdbeeren aus Kyoto. Selbst die weißen Früchte sind zuckersüß und ungemein aromatisch. Ein »Deckel« aus luftiger Meringue bringt knusprige, zeitgemäße Leichtigkeit in das köstliche, regelrecht französisch anmutende Dessert. (9/10)

Es sind genau diese stilistischen Kniffe – in Verbindung mit dem offenen Ambiente –, die das Gion Sasaki so modern wirken lassen. Die Küche ist zwar unmissverständlich in Kyotos Traditionen verortet, wirkt aber nicht dogmatisch – das zeigt schon die junge Generation an Köchen, nebst europäischer Köchin.

Das Mahl steht am Ende mit 66.900 ¥ (ca. 425 €) auf der Rechnung, und es war jeden Cent davon wert. Der Küchenchef begleitet mich noch persönlich vor die Tür, händigt mir seine Visitenkarte aus und mahnt, mich bei meinem nächtlichen Fußmarsch zurück zum Hotel nicht zu verlaufen. Ich glaube, ich habe einen guten Eindruck hinterlassen.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Gion Sasaki
Chef de Cuisine: Hiroshi Sasaki
Ort: Kyoto, Japan
Datum dieses Besuchs: 22.01.2025
Guide Michelin (Kyoto/Osaka 2024): ***
Meine Bewertung dieses Essens: 8,5 (Was bedeutet das?)
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