Hajime – 149/149
Vorgestern Tokio, gestern Kyoto, heute Osaka. Ich bin den ganzen Tag schon etwas angespannt, weil das heutige Abendessen einen Meilenstein meiner kulinarischen Passion darstellt. Mit meinem Besuch im Hajime werde ich alle der derzeit 149 Drei-Sterne-Restaurants besucht haben. Dass ich diesen Moment ausgerechnet in Japan erlebe, fühlt sich für mich schlüssig an – kein Land hat mich kulinarisch mehr geprägt.
Von meinem Hotel, dem brandneuen Four Seasons, sind es nur fünfzehn Gehminuten durch Osakas betriebsame Abendstimmung. Ich überquere den Tosahori-Fluss, der sich an dieser Stelle in zwei Läufe aufteilt, gehe noch einige Blocks weiter und biege schließlich in eine unscheinbare Straße ein.
Das Geschäftsgebäude, vor dem ich stehe, sieht weitestgehend geschlossen aus; nur ein grell beleuchteter Hauseingang weist den Weg. Ich trete ein, gehe in den Fahrstuhl und sehe dort auch das Schild: Hajime. Oben angekommen stehe ich in einem Büroflur und klopfe an eine Tür. So ganz kann ich mir nicht vorstellen, hier richtig zu sein, aber in Japan weiß man das nie so genau. Meine Skepsis wird schließlich von jemandem bestätigt: Ich bin im Büro des Restaurants gelandet. Der eigentliche Eingang befände sich tatsächlich unten im Erdgeschoss, genau dort, wo ich bereits stand.
Obwohl ich dann erneut direkt vor dem Gebäude stehe, muss ich zwei Mal hinsehen, um die Eingangssituation zu verstehen. Alles ist still, alles ist dunkel, aber tatsächlich lässt sich eine Tür öffnen. Ich entdecke eine Klingel. Wenig später öffnet ein Angestellter die Tür, und ich betrete das kreative Reich von Hajime Yoneda, gelernter Elektro-Ingenieur mit atemberaubendem Karrierewechsel. Sein französisch ausgerichtetes Restaurant Hajime, das er 2008 eröffnete, erhielt bereits im Folgejahr drei Michelin-Sterne – damals ein Rekord. Der dritte Stern erlosch dann wieder ein paar Jahre später, als Yoneda sein kulinarisches Konzept umkrempelte. Nun ging es nicht mehr um französische Klassik, sondern gleich um das ganze Universum, unseren Planeten sowie die Schönheit der Natur und deren Kreislauf. Im Jahr 2017 erreichte er auch damit wieder die Höchstwertung und hält sie bis heute.
Ausgerechnet an diesem Abend – das wusste ich bereits – ist der Küchenchef nicht im Haus, sondern auf dem Weg zum Kochwettbewerb Bocuse d’Or in Lyon, wo Yoneda in die Jury berufen wurde.
Die Atmosphäre im Restaurant ist eigenwillig, aber durchdacht. Der Raum ist in tiefes Dunkel gehüllt, nur einzelne Deckenspots tauchen die Tische in gezieltes Licht. Das Mobiliar ist minimalistisch, die Materialien kühl und hart – eine fast karge Ästhetik. An einer Stelle des Raumes steht eine beleuchtete Installation: ein halbtransparenter Planet oder Mond, der wie eine ferne, mystische Erscheinung wirkt.
Ich bestelle zur Feier des Tages zunächst ein Glas irdischen Krug-Champagner (14 200 ¥, ca. 90 €) aus der auf einem iPad präsentierten Weinkarte und studiere das Menü, das bereits in ausgedruckter Form vor mir liegt. Es steht unter dem Motto »Dialog mit der Erde 2025« und kostet umgerechnet ca. 460 €, was sich einem erst später auf Rechnung erschließt. Das freundliche Personal erläutert, dass für das heutige Menü über dreihundert unterschiedliche Zutaten Verwendung finden.
Als menübegleitenden Wein bestelle ich noch einen 2003er Echézeaux von der Domaine Vincent Girardin (ca. 400 €) und sehe damit, wie üblich, von der angebotenen Getränkebegleitung ab (die jedoch – u. a. mit japanischen Weinen, Sake und sehr gutem Burgunder – spannend klingt).
Die erste kulinarische Kreation trägt den Titel »mori / forest« und beinhaltet eine heiße Pilzessenz mit einer darin schwimmenden Steinpilzsphäre. Optisch soll das Arrangement an den Mond erinnern, der sich in einem See reflektiert, erklärt der Serviceangestellte. Die sehr heiße Essenz duftet intensiv nach Waldboden, klebt leicht an den Lippen und begeistert mit einer Balance zwischen feiner Süße, appetitanregender Säure und fleischigem Umami. Die Sphäre, die man erst zum Schluss »zu fassen« bekommt, bringt diese Eindrücke noch mal in komprimierter Form zur Geltung. Sehr eindrucksvoll und wohlschmeckend. (8,9/10)
Mit »iso / rocky coast« folgt ein aufwändig inszeniertes Sextett an Kleinigkeiten. Ein in einer Austernschale präsentiertes Arrangement mit Auster, Gurke, Alge und Joghurt – in cremigen und leicht knackigen Texturen – stimmt zunächst einen inzwischen sehr populären, aber mehr als hervorragend umgesetzten Akkord von jodigen und frischgrünen Aromen an (8,5/10).
Dass hier mit Trockeneis nachgeholfen wird, um milchigen Nebel über den Tisch kriechen zu lassen, wirkt ein wenig überinszeniert, aber es fügt sich stimmig in das Ambiente und das Küstenthema ein.
Eine (leider nicht näher verstandene) Muschel mit Paprika, Perilla (Shiso), Queller und Olivenöl schlägt mediterrane, italienische Töne an – unmissverständlich, ohne Fehlton und so treffend als klänge gerade der Nachgeschmack eines herzerwärmenden italienischen Essens am Gaumen aus (10/10). In einem Glas versteckt sich danach unter einem salzig-frischen Schaum eine Kombination aus cremigem Hokkaido-Seeigel und einer leicht bitteren Brokkoli-Creme – ein ungewöhnliches Duo, das Bitterkeit und maritime Jodigkeit überraschend großartig zur Schau stellt (8,9/10).
Eine kleine Praline mit geliertem Garnelentatar und Kaviar thematisiert dann wieder ganz klar marine Salinität – Jod, Salz, Frische und Kühle sind hier auf den Punkt gebracht (9/10). Der einzige warme Snack ist eine Art Teigbällchen mit Curry, das mit heißer Fischmilch (Shirako) gefüllt ist. Hier muss man wegen der Hitze etwas behutsam vorgehen, aber das Umami und der cremige Schmelz der Fischmilch in Verbindung mit dem leicht krossen Curry ist himmlisch (9/10).
Zu guter Letzt begeistert noch ein wolkig-leichter Cracker mit Hongkong-Zackenbarsch (Akou), Rogen (von leider von mir nicht verstandener Herkunft) und besonders maritim schmeckender Algencreme (9/10).
Es ist selten, dass derart aufwändige Arrangements ein so konsistent hohes Niveau bieten. Letzteres spiegelt sich nicht nur in den unverkennbar hohen Produktqualitäten wider, die hier überall exzellent zur Geltung gelangen, sondern auch in der Tatsache, dass trotz recht vieler avantgardistischer Verarbeitungen dennoch ein durchgehender Produktfokus und das Leitmotiv Küste klar erkennbar sind.
»Shuntou / spring waves« kombiniert Kaisergranat mit einer Reihe von grünen Gemüsen. Das erscheint ungewöhnlich, da Kaisergranat klassischerweise mit Aromen kombiniert wird, die seine natürliche Süße und zarte, fast buttrige Textur unterstreichen, anstatt diese mit vegetabiler Bitterkeit zu kontrastieren. Aber nach den ersten Bissen wird klar, dass es sich hier um ein unglaublich durchdachtes und vielschichtiges Gericht handelt.
Da ist einmal eine heiße, knackige Stange grünen Spargels, der die Frische des perfekt gegarten Krustentiers unterstreicht und eine leicht nussige Note ins Spiel bringt. Dann gibt es eine Apfelsauce, deren fruchtige Säure nach dem Prinzip der Kontrastverstärkung die Süße des Kaisergranats erst richtig zum Leuchten bringt. Ein halbes Stück Rosenkohl schmeckt schließlich wie eine Brücke zum Erdreich: seine Bitterkeit und Wärme verankern das Gericht. Man versteht, warum es im Titel um »Wellen« geht: Es ist ein Bild für das sensorische Auf und Ab von Süße, Säure, Bitterkeit, Wärme und Knackigkeit. Das ist ein Meisterwerk. (10/10)
Der folgende Gang heißt »chikyu / planet earth« und ist Yonedas wohl berühmtestes Gericht. Es ist ein aus neunzig Zutaten bestehender Salat, der üblicherweise vom Küchenchef persönlich am Tisch angerichtet wird, vermutlich in vergleichbarer Manier wie bei dem bekannten Dessert im Alinea. In Yonedas Abwesenheit soll das Gericht allerdings ohne diese Darbietung auskommen – offenbar ist es für den Küchenchef ein sehr persönliche Angelegenheit.
Salatgerichte mit dutzenden Zutaten sind nichts Neues – Michel Bras, Enrico Crippa (Piazza Duomo), Kei Kobayashi (Kei) und Shinobu Namae (L’Effervescence) sind nur einige der Protagonisten mit vergleichbaren Gerichten –, und doch entdeckt man in ihnen stets etwas anderes. Faszinierend finde ich hierbei immer die Nennung aller Kombinationsmöglichkeiten der Zutaten. Bei diesen neunzig Zutaten ließen sich über 1,2 Quadrilliarden (1 237 940 039 285 380 274 899 124 223) Gabeln zusammenstellen. Meine wenigen sind alle herausragend – unwahrscheinlich also, dass ich ausgerechnet das Dutzend gute gefunden habe. Bemerkenswert ist auch, dass das Gericht warm ist. Die höhere Temperatur sorgt für eine andere Aromenentwicklung und für eine geschmeidigere Verbindung der einzelnen Komponenten. Kontraste werden »geglättet«, Säure, Wärme, Erde und Frische bilden eine Einheit. Großartig. (9/10)
Ein skurriles Problem kommt jetzt dazwischen. Ich verschlucke mich derart heftig an etwas Wasser, dass ich den Raum verlassen muss, um nicht nur meinen Husten, sondern auch einen daraus resultierenden Schluckauf in den Griff zu bekommen – das dauert einige Minuten.
Als ich zurück komme, steht das nächste Gericht bereits an meinem Platz. Es präsentiert sich in auffällig leuchtenden Orangetönen und beinhaltet Amadai (Zackenbarsch) mit krosser Haut, serviert auf einer Karottencreme in einer Safransauce mit Chrysanthemenöl. Die Farbgebung soll den sich im Meer widerspiegelnden Sonnenuntergang symbolisieren, erläutert der Service. Der saftige Fisch ist qualitativ und handwerklich hervorragend; etwas Bitterkeit und Säure aus den Saucen sorgen für eine anspruchsvolle Spannung zu der süßen Karotte. Das ist geschmacklich, sensorisch und qualitativ erneut große Klasse, aber es fehlen dem Gericht einige wichtige Grad Temperatur, um an das bisherige handwerkliche Niveau anzuknüpfen. Das Gericht hätte man wegen des unglücklichen Timings leider neu zubereiten müssen. Zumindest hervorragend bleibt es dennoch. (8/10)
Nach wie vor im Thema Meer verortet, folgt eine heiße Brühe mit Abalone, Wachskürbis, Chinesischer Weichschildkröte, Hanabiradake (ein Schwammpilz) und Ackerbohne. Beim Servieren des Gerichts sind mir die Zutaten gar nicht alle bewusst – ich nehme nur den maritimen, erdigen Duft wahr, der sich mit den floralen, orangenartigen Aromen einer Zitrusfrucht mischt. Das ist wundervoll; ich muss die Augen schließen und den Duft tief einatmen. Die Brühe ist umami-geladen und collagenreich, der erdige Schwammpilz und der gurkenartige Wachskürbis bieten eine spannende Gegenbalance zur Meeresmineralität der Abalone. Konzentration, Hitze, Umami und Florales – daran kann ich mich ganz verlieren. Als ich wieder bei Sinnen bin, ist das Schälchen leer. (10/10)
Die kulinarische Reise geht weiter mit einer Art Toast mit pochiertem Kürbis, »ethischer« Foie Gras, Haselnusscreme und knuspriger Karamellschicht. Was nach einem bekannten Geschmacksbild klingt (Foie Gras mit Frucht und Süßem) entpuppt sich hier als überraschend kurzweilige Kreation mit zurückhaltender Süße, einem Fokus auf intensive Haselnussaromen – ebenfalls nicht zu süß – und dem feinfruchtigen, aromatischen Kürbis. Ein ätherischer, intensiver Pfeffer unterstreicht die Schlankheit des knusprigen, leicht gekühlten Snacks. (9/10)
Den Hauptgang leitet ein Piniensorbet ein. Das ist kalt, saftig, adstringierend und waldig-aromatisch. (8/10)
Darauf folgt »mother earth«, Mutter Erde, mit einem Stück Miyazaki-Rind im Mittelpunkt eines Tellers mit einem ganzen Garten an weiteren Zutaten. Ich bin kein großer Befürworter von Gerichten, die flächig mit zig Zutaten und Saucentupfen angerichtet sind, aber dieser Teller strahlt durch die sehr mit Bedacht gewählten Komponenten, die das Fleisch begleiten, eine narrative Kraft aus, die mit einer manierierten Anrichtweise nichts zu tun hat. Die ästhetische Harmonie dieses Tellers ist so fragil wie die Natur selbst, scheint das Gericht auszudrücken.
Ich taste mich voran, kombiniere das butterzarte Rind mit leicht nussigem Straußenfarn, knackig süßen Zuckerschoten und erdigen Rübchen, mit intensiven Kräutern und mit einem Stück weißer Erdbeere, deren dezente Fruchtigkeit sich nahtlos in das Ensemble einfügt. Ein makelloser, klassischer Jus und eine Sauce aus Sobanudeln (!) erlauben immer wieder auch »klassisches Schlemmen«. Und während all das meisterhaft komponiert ist, fehlt mir persönlich ein letzter, kleiner Salz-Akzent auf dem Fleisch. So bleibt es bei einer großartigen, nahezu perfekten Komposition, die die Zerbrechlichkeit und Schönheit der Natur widerspiegelt – großartig! (9/10)
Das Motto »haru matsu / longing for spring« verkörpern dann zwei Desserts. Das erste ist eine Kreation mit Olivenölstaub, Frischkäse, Aprikose und Asiatischer Pestwurz – cremig, kühl und mit Aromen, die entfernt an Popcorn erinnern. Die ungewöhnliche Pflanze gibt es auch noch separat als kleinen Shot zum Trinken – mit milder Süße und feiner Bitterkeit. In Summe alles mehr als hervorragend. (8,5/10)
Teil zwei des Wunsches nach Frühling ist dann noch etwas deutlicher im Winter verankert. Hierzu wurden an »Packeis« (so der Titel des Gerichts) erinnernde, kantige Meringue-Stücke auf einem Mandelgel angerichtet. Der Gag dabei: Es ist ein konstantes Knistergeräusch wahrzunehmen, das man auch am Gaumen in Form eines Prickeleffekts wahrnimmt – höchstwahrscheinlich aufgrund einer »Imprägnierung« der Meringue mit Kohlendioxid. Im Gegensatz zur Optik, die arktische Kälte suggeriert, hat das Gericht eher Raumtemperatur und schmeckt – ebenfalls überraschend – nicht zuckersüß, sondern nur zurückhaltend lieblich, mit leichter Bitterkeit von der Mandel und sogar einigen maritimen Noten. Skurril und hervorragend zugleich. (8,5/10)
Ein erneut kunstvoll angerichtetes Dessert mit Himbeere und Erdbeere in diversen Zubereitungsarten ist schließlich die Krönung der Patisserie hier. Durch die in Japan erhältlichen, geschmacklich fast überzeichnet wirkenden Früchte der Superlative erinnert dieses Dessert frappierend an das Geschmacksbild der Eissorte Ed von Schleck aus den 1980er-Jahren. Natürlich ist hier alles deutlicher feiner und qualitativ eine andere Liga, aber wer den sahnig-erdbeerigen Geschmack dieses Eises gedanklich abrufen kann, weiß, wie dieser Teller schmeckt: zum Dahinschmelzen. (10/10)
Sechs optisch wirkungsvoll inszenierte Petit Fours machen dann noch mal die dunkle Kulisse des Restaurants besonders plausibel: Vor dem schwarzen Hintergrund gelangen alle Zutaten besonders kontrastreich – regelrecht leuchtend – zur Geltung. Einige der Zutaten, die ich von der Beschreibung des Arrangements verstehe und hastig notieren kann, beinhalten Zuckerwatte mit Hinoki-Aroma, Mascarpone cheesecake, Apfel, Lychee, Popcorn und vieles mehr. Jede der Petitessen ist mindestens hervorragend, zwei sogar überwältigend gut. (8,9/10)
Dar war’s! Ich lasse mir noch etwas Zeit, um den Rest des großen Burgunders zu genießen und diesen Meilenstein zu feiern. Dass das in diesem Fall ausgerechnet alleine in einem stillen und dunklen Restaurant geschieht, ist schlicht der Verkettung einiger Zufälle geschuldet, aber schon morgen geht es zurück nach Tokio in illustre Gesellschaft. Denn eines ist sicher: Nach der Reise ist vor der Reise.