Sorn – die Glut im Geiste
Da hatte ich wirklich Glück. Als ich das Sorn reservierte, hatte das Restaurant noch zwei Michelin-Sterne. Heute, als ich endlich vor der Tür stehe, sind es drei. Es ist das erste Mal, dass der Guide Michelin ein thailändisches Restaurant mit der höchsten Auszeichnung geehrt hat.
Sorn ist die Kurzform des Vornamens von Inhaber und Küchenchef Supaksorn Jongsiri, der aber von Freunden und in der Branche oft nur »Ice« genannt wird. Jongsiri wurde in Bangkok geboren, studierte und arbeitete in den USA und kehrte irgendwann nach Thailand zurück. Mithilfe seiner Großmutter, die ihn auch das Kochen lehrte, eröffnete er zwei Restaurants, darunter auch das Sorn in Bangkok im Jahr 2018.
Eine Reservierung hier gilt derzeit als eine der schwierigsten weltweit, mit unterschiedlichen Prozessen für einheimische und ausländische Gäste. Glücklicherweise konnte ich einen Kontakt bemühen, der mir diese Zitterpartie erspart hat.
Als ich ankomme, ist von einer selektiven Attitüde jedoch nichts zu spüren. Stattdessen überall freundliche Gesichter und eine entspannte und sehr ästhetische Atmosphäre mit hochwertigen Materialien und geschmackvoller Dekoration. Das Sorn befindet sich in einer Villa, die sich dezent in eine Gartenanlage integriert. Große Glasfronten lassen Innen und Außen miteinander verschmelzen.
Am Tisch liegt schon das Menü bereit, das gestalterisch ansprechend in einem aufklappbaren Umschlag präsentiert ist. Es sind dutzende Speisen aufgeführt, mit aufregenden und teils mysteriösen Zutaten. Das Menü kostet 7 200 Baht, umgerechnet ca. 200 Euro. Das ist fast schon als großzügig zu bezeichnen; bei der Buchungslage könnte das Restaurant vermutlich einfach den Preis verdoppeln.
Die Weinkarte liest sich ebenfalls sehr kurzweilig. Vorweg bestelle ich aus der erfrischend umfangreichen glasweisen Auswahl einen 2016er »Roc d’Aubaga« Rosé von Terroir al Limit aus dem Priorat (ca. 30 €), eine selten spannende Option für eine glasweise Selektion. Für den Rest des Dinners wird es eine Flasche 2021er Chardonnay »Les Noisetiers« vom Weingut Kistler aus Kalifornien (ca. 170 €).
Da es im Sorn um außergewöhnliche und auch für vielreisende Esser teils unbekannte Zutaten geht, steht man hier vor der Herausforderung, dem Gast einiges erläutern zu müssen. Dafür braucht es ein intelligentes Konzept, da nichts lästiger ist als lange Lektionen oder umfangreiche Texte über jeden Gang. Hier löst man das Thema geschickt. Dazu ist jedem Tisch ist eine Art »Hauptkellner« zugewiesen, der den Abend über derselbe bleibt und die Gänge kurz erklärt.
Ebenfalls eine gute Idee: Zu jedem Gang werden die unverarbeiteten Hauptzutaten des jeweiligen Gerichts auf dem Tisch präsentiert. Beim Amuse-Bouche geht es hauptsächlich um Rosenberggarnele (Tapi River prawn), eine besonders große Garnelenart mit hummerartigen Scheren, die die sonst deutlichen Unterschiede zwischen Garnelen und Hummerartigen deutlich schrumpfen lässt. Das Scherenfleisch des über Holzkohle gegrillten und mit Garnelenöl lackierten Tiers serviert man zusammen mit Jasminreis und diversen Gewürzpasten auf einem Sago-Cracker. Mein allererster Happen aus einem thailändischen Restaurant in Thailand ist dann gleich ein Feuerwerk für die Synapsen. Warm, weich und doch knusprig, scharf, süß, herzhaft und mit einem klar identifizierbaren »Thai-Aroma« schließe ich kurz die Augen und lasse alles so lange wie möglich wirken. Die nachhaltige Schärfe, die man auf Anfrage auch für das gesamte Menü reduzieren kann, ist erfrischend ungewohnt für eine so elaborierte Küche, rüttelt wach und weckt Emotionen. Grandios! (10/10)
Auch die zweite Zutatenpräsentation ist eine Augenweide, insbesondere die noch lebendige, handgetauchte Abalone. Mit diesem Gericht beginnt der achtgängige Auftakt des Menüs. Das delikate Schneckentier wurde zusammen mit Mangostane, getrockneten Algen und grüner Mango zu einer quaderförmigen, kühlen Kreation verarbeitet. Schon das ist wunderbar, da es das Feuer der vorherigen Speise bändigt und mit einer fruchtigen, grünen Frische ausbalanciert. Die bissfeste Konsistenz der Abalone mit ihrem nussig-maritimen Aroma trägt weiter zu meiner unhaltbaren Begeisterung bei. (10/10)
Es geht weiter mit Nördlichem Wittling (silver sillago) aus den Gewässern um Phuket. Der Fisch wurde so frittiert, dass von ihm nur noch die knusprige Haut übrig geblieben ist; Blätter von der Ming Aralia-Pflanze ragen aus ihm heraus, die genau so frittiert sind wie das Jakobsmuschelpüree, in das die Blätter eingesteckt wurden. Die Kreation, die in einem Kurkumapüree befestigt und als Fingersnack konzipiert ist, um sie im Ganzen zu verspeisen, erscheint wie eine Mischung aus einer Skulptur und einer Atomkatastrophe. Es ist ein fesselndes Stillleben, das einen einzelnen Moment einzufangen scheint. Am Gaumen spürt man Wärme, Knusprigkeit, eine leichte Schärfe, würzig-röstige Knoblaucharomen und das Salz des Meeres. Ein Snack wie aus einer anderen Welt. (9/10)
Mit »Der Ozean« folgt dann eines der vielleicht am schönsten präsentierten Arrangements von Meeresfrüchten, die ich je gesehen habe. Drei Teller mit unterschiedlichen Blauschattierungen präsentieren in Sojasauce und Ingwer marinierte Blaukrabbe mit Kumquat-Granité – kühl und frisch –, rohe Languste aus Phuket, mit Mango-, Melone und Koriandersauce – sehr kalt und leicht pikant – sowie gekochte Babylonia-Meeresschnecke mit Thai-Chili. Hier packt die Schärfe jetzt richtig zu und lässt die kühl servierten, qualitativ bemerkenswerten Meeresfrüchte regelrecht heiß wirken. Da versteht man, warum im Englischen scharf und heiß dasselbe Wort sind. Das ist völlig aufwühlend. (10/10)
Man bleibt in den Tiefen des Meeres. Dunkel und mysteriös gibt sich dazu passend ein Stück Tintenfisch. Es ist mit einer Farce aus Aubergine, Hummer und Kräutern gefüllt und tiefschwarz mit der Tinte gefärbt. Rote Scheibchen Thai-Chili kontrastieren den Snack wie die leuchtenden Augen einer mysteriösen Tiefseekreatur. Die Speise, die man von einem kleinen Spieß herunter isst, ist warm, kräuterig, lakritzig – eher weniger maritim – und hält das Schärfeniveau hoch. Dennoch sind Aromen und Texturen sehr harmonisch, anregend exotisch und erneut einfach nur großartig. (9/10)
Ein Sorbet aus einer thailändischen Zitrusfrucht, die ich nicht verstanden habe, vielleicht Kaffernlimette, beruhigt danach kurz den Gaumen. Das Sorbet ist kühl, zurückhaltend süßlich und angenehm erfrischend. Etwas Abrieb von der sehr aromatischen Frucht bringt punktuell noch etwas mehr Säure und »Produktnähe« ins Spiel – mehr als hervorragend. (8,5/10)
Das nächste Gericht ist ein Klassiker des Sorn. Beim Crab stick präsentiert man ein gedämpftes und gegrilltes Hinterbein von einer (männlichen) Krebssorte aus Surat Thani, das mit Rogen des gedämpften (weiblichen) Tiers garniert ist. Als Bindeglied für die beiden Zutaten dient eine Chilipaste mit besonders scharfer gelber Chili. Die verschiedenen Pasten, die hier in diversen Gerichten zum Einsatz gelangen, sind in der thailändischen Küche so essenziell wie Fonds in der französischen oder Reis in der japanischen. Chilisorten, Gewürze, Mahlgrade, Mahlintensität, sogar die Richtung des Mahlens steuern die Pasten in unterschiedliche Richtungen.
Den mundfüllenden Snack lutscht man von dem Krebsbein ab, an dem man die Speise zum Mund führt. Am Gaumen nimmt man das feine Krebsfleisch mit seinen jodigen, nussigen, süßlichen Aromen wahr, der Rogen unterstreicht das Maritime. Und dann schlägt die Schärfe ein wie eine Bombe. Obwohl mein Gaumen jetzt in Flammen steht, kann ich noch wahrnehmen, wie hervorragend die fruchtigen Aromen der Chili zu der Krebs-Kombination passen.
Recht zügig serviert man im Anschluss eine Kokosnusssuppe mit Kokosmilch, Kokosfleisch, Garnelenpaste und einigen Tropfen Jakobsmuschelöl. Das Fett der Kokosnuss – und die hier ganz abwesende Schärfe – lindern das Feuer ein wenig. Die Suppe selbst balanciert angenehm zwischen Süße und Salzigkeit.
Als ich die Suppe (recht zügig) geleert habe, kehrt die Schärfe zurück. Ich kann kaum sprechen wegen des Feuers am Gaumen, habe Schweißperlen auf der Stirn, meine Nase läuft, die Augen tränen. Der Service schätzt die Situation richtig ein und schlägt einen kleinen Zwischengang vor, der dem Inferno ein Ende setzen soll. Es handelt sich um ein Kokossorbet, eher ein gefrorenes Puder. Kaum habe ich den ersten Löffel von dem Löschschaum probiert, klingt alles ab. Die Kälte in Kombination mit dem Fett der Kokosnuss eliminiert jegliche Schärfe wie ein Feuerlöscher. Und wenngleich es sich gerade um drei unterschiedliche Gerichte handelte, kann ich dieses eindrucksvolle Lodern von Aromen und Schärfe nur im Zusammenhang mit 10/10 bewerten. Unvergesslich und intensiv.
Das Erlebnis geht weiter mit einer Interpretation von Gor Lae, klassischerweise ein Spieß mit in Currypaste mariniertem Huhn oder Rind. Hier verwendet man Herzmuschel und verfeinert den reduzierten Snack mit frischem Abrieb von kostbarer, getrockneter Abalone. Am Gaumen macht sich eine tiefe, exotische Würze bemerkbar, die von einem eleganten Zitronengrasaroma aufgelockert wird. Eine leichte Süße spielt dazu mit den maritimen Aromen von Muschel und Abalone. Das ist ein perfekter Happen zum Augenschließen und Innehalten. (10/10)
Es folgt Khao Yum – Reissalat. Dazu kombiniert man gepufften, mit Kurkuma gewürzten Jasminreis mit diversen Mitspielern wie Pomelo, Gurke, Ingwerblüte, Sprossen, Chili und einer Budu-Sauce auf Basis von fermentierten Sardellen. Das Mischen der Zutaten erfolgt in einer kurzweiligen Präsentation direkt am Tisch.
Auffällig ist immer, wie angenehm zurückhaltend sich das Personal verhält. Es geht hier nicht um Show, sondern um eine respektvolle Behandlung der Zutaten – und der Gäste. Der Salat schmeckt knusprig, würzig und frisch; die geschmacklich tiefe und viskose Sauce steuert dazu eine wohlschmeckende Dosis Umami bei. Auch das ist so großartig, dass ich eine ganze Schüssel davon verspeisen könnte. (9/10)
Doch es geht dann weiter mit dem Hauptgang. Dabei handelt es sich nicht etwa um ein einzelnes Gericht, sondern um Reis als zentrale Zutat, zu der immer wieder neue »Beilagen« serviert werden.
Die erste Besonderheit ist der Reis an sich. Von mir bereits den ganzen Abend durch die gläserne Architektur zu beobachten sind Köche an einer Station, die sich ausschließlich der Zubereitung von Reis widmen. Hier im Sorn bedient man sich dazu einer Methode, bei der der Reis mit einem Mineralwasser aus der Ranong-Provinz in Tongefäßen über Holzkohle gegart wird. Gelingt dies perfekt, erklärt der Kellner, stehen die Reiskörner am Ende der Garung senkrecht in dem Topf – kaum zu glauben, und doch klar erkennbar. Eine erste Portion davon wird auf dem Teller platziert.
Die Beilagen beinhalten Som Hoak-Chilipaste, Schweinekruste, karamellisierte Garnelen und getrocknetes gelbes Curry. Ebenfalls auf dem »Beilagenteller« befindet sich eine Kombination von wachsweichem Eigelb, frischer grüner Chili, hauchdünn geschnittenem Knoblauch und Schalotten – die erste Kreation, die man zusammen mit dem Reis kombinieren soll. Bereits das bereitet ungeahnte Genüsse, ist umamiwürzig, heiß, scharf und cremig. Der Reis dazu ist wahrhaftig bemerkenswert: luftig, »rein« und körnig. Dazu kombiniere ich immer wieder verschiedene Beilagen.
Recht schnell werden immer weitere Kreationen aufgetischt. Es gibt knusprige Haut vom Rotflossen-Antennenwels mit gelbem Curry und »Stinkbohne«, wenngleich ich keinen Gestank feststellen kann, sondern nur eine würzige Frische. Dazu zupft man (nicht näher notierte) Blätter von einem Strauch, die die Schärfe des Currys ausbalancieren. Auf dem Teller baut sich auf diese Weise nach und nach eine Vielfalt von Aromen auf – komplex, würzig und intensiv.
Ein knusprig gebackenes Omelette mit Tigergarnele, Thai-Basilikum und Schalotten erreicht als nächstes den Tisch und wird vom Servicepersonal gewissenhaft tranchiert. Dazu gibt es als weitere Beilage leicht öligen, knusprig gebratenen Wasserspinat (Morning Glory) mit getrockneter Jakobsmuschel und einer Sauce aus Abaloneleber. Durch die Kombination der vielfältigen Speisen mit immer wieder neuen Currypasten, macht sich inzwischen abermals eine heftige Schärfe am Gaumen bemerkbar, die der noch immer heiße Reis nur marginal bändigt.
Es folgt eine geschmorte, butterzarte Rinderrippe von alter Kuh mit scharfer grüner Curry-Sauce und Roti, ein in der Pfanne gebackenes Brot. Alle Zubereitungen und Qualitäten sind auf höchstem Niveau, die Aromen exotisch und überbordend. In Verbindung mit der höllischen Schärfe begebe ich mich in einen wahrhaftigen Essrausch, aus dem mich erst wieder das Servieren einer milden Fischsuppe aus Rochen mit einer eingelegten Pflaume wieder herausholt, die diesen »Hauptgang« offiziell beendet. 10/10 für diesen Rausch.
Es ist der perfekte Moment, um kurz den Platz zu verlassen. Auch der Rest des Restaurants ist sehr ästhetisch eingerichtet. Der massive Holzfußboden und eine gedeckte Farbpalette erinnern ein wenig an Kolonialstil – wenn auch ganz ohne einen solchen Hintergrund.
Als ich zurückkomme, geht es zum süßen Teil des Menüs über. Ich bin gespannt, da ich nicht weiß, was mich erwartet.
Das erste Dessert setzt sich zusammen aus schwarzem Klebereis, Kokosnusssorbet, einem Cashew-Cracker und einer marzipanähnlichen Masse aus Taro. Die auf den ersten Blick etwas unzusammenhängende Kreation fügt sich am Gaumen schließlich zu etwas Wunderbarem zusammen. Das Eis schmeckt unerwartet salzig und zitrisch, der Reis hat blumige Aromen und eine cremige Textur, der Cracker ist knusprig und nussig. Zum Begeistern gut! (9/10)
Die zweite süße Speise geht auf die Erinnerungen des Küchenchefs an dessen Studentenzeit in den USA zurück, wo sich Jongsiri oft nur Dosenfrüchte aus Thailand leisten konnte – für ihn immerhin eine Reminiszenz an seine Heimat.
Die Früchte hier sind natürlich nur spaßeshalber unter einer Dose serviert. Nimmt man sie ab, entdeckt man Wassermelone in verschiedenen, scheibenartigen Zubereitungen, u. a. als Granité und als Gelee, die auf einem Ananaseis angerichtet sind. Beide Früchte sind so ungemein aromatisch – konzentriert, nicht zu süß, intensiv exotisch –, dass ich jetzt, am Ende des Menüs, wirklich emotional werde. (10/10)
Aufgewühlt und satt bekommt ein Wagen mit Petits Fours auch noch meine Aufmerksamkeit. Es gibt zum Beispiel ein himmlisches, mit Milchreis gefülltes Gebäckstück, eine Praline, die ätherisch nach Birnenschnaps schmeckt, eine Gelee-Ecke mit fruchtigen Aromen wie Quitte – alles wunderbar, neuartig und köstlich. (9/10)
Ein Gebäck, das an eine Madeleine erinnert und ein Chrysanthementee sind dann die letzten Darreichungen aus dem Sorn, diesem grandiosen Restaurant, das ich äußerst ungerne in dem Wissen verlasse, es so schnell wohl nicht wieder zu besuchen. Jedem Gast hier dürfte klar sein, warum ein solches Restaurant »eine Reise wert« ist – die Definition von drei Michelin-Sternen. Bei einer so intensiven, aufregenden und anregenden Küche verblasst vieles, das man aus unseren Gefilden kennt. Das hier ist fantastische Gastronomie, mit herzlichem Service, elegantem Ambiente und einer begeisternden, zutiefst bewegenden Küche.
Das Feuer der Speisen glimmt noch ein bisschen nach – am Gaumen und in meinen Gedanken. Es wird nicht viel brauchen, vielleicht nur ein Pfefferkorn, um es wieder auflodern zu lassen. Ich kann es kaum erwarten.