Sühring – kulinarisches Exil

Das Offensichtlichste gleich vorab: Dass zwei Deutsche, die Berliner Mathias und Thomas Sühring, erst ins fernöstliche Exil auswandern müssen, um dort ihre Vision einer deutschen Hochküche umzusetzen, spricht natürlich Bände. Über die Spitzenküche in Deutschland in Summe, über Erwartungen von Gästen, über die Bereitschaft, Risiken einzugehen, aber auch über das Potenzial, deutsche Küche neu zu definieren.

Vielleicht führte auch nur ein Zufall zum anderen, dass das derzeit wohl international meistbeachtete Spitzenrestaurant mit deutscher Küche in Bangkok ist und nicht in Berlin. Aber so ist es nun mal – und zusammen mit dem Sorn ist das Sühring einer meiner kulinarischen Ankerpunkte auf der Agenda eines kleinen End-Jahres-Trips in wärmere Gefilde.

Das nach den Zwillingsbrüdern benannte Restaurant befindet sich in einer wohnhausähnlichen Villa. Die Plaketten von renommierten Mitgliedschaften (Les Grandes Tables du Monde, Relais & Châteaux) und zwei Michelin-Sterne in goldener Optik verzieren den Eingangsbereich – es wäre noch Platz für einen dritten.

Einmal angekommen, weisen gleich mehrere Dinge auf einen möglichen deutschen Hintergrund hin, doch man muss genauer hinsehen. Die akkurat gerahmten Schwarzweißfotos und Zeichnungen, die deutsche Architektur und Landschaften zeigen, zum Beispiel. Überhaupt die akkuraten Holzrahmungen. Und nicht wenige der Gesichter, in die ich blicke, kommen mir ebenfalls bekannt vor. Tatsächlich stellt sich heraus, dass einige der Angestellten hier eine gemeinsame Zeit mit den Sührings im Aqua in Wolfsburg teilen. Doch »typisch deutsch«, was auch immer das sein könnte, ist hier nichts – vielleicht zur Überraschung mancher (einheimischer) Gäste.

Das Menü im Sühring (»Erlebnis«) kostet in der umfangreichsten Variante 9.800 THB (ca. 277 €) und zählt damit zu den teuersten in Bangkok. Einige Extras wie zusätzlicher Kaviar und ein Gang mit Kagoshima-Rind ermöglichen erweitertes Schlemmen. Der Service schlägt mir vor, alle Entscheidungen der Küche zu überlassen, worauf ich mich gerne einlasse. Aber nicht, ohne vorher in der Weinkarte zu stöbern, in der ich einen 2021er Spätburgunder »Frauenberg« vom Weingut Keller entdecke (ca. 254 €) – wenn schon deutsch, dann richtig.

Zu den Einstimmungen serviert man, inklusive großzügigen Nachschenkens, einen 2015er »Bulles de blancs« Champagner von Brocard Pierre.

Die erste Kleinigkeit, die dann den Tisch erreicht, ist eine »Murmel« aus Lauchmousseline und Périgord-Trüffel in einem Chip aus verbranntem Lauch – eine Hommage an Eckart Witzigmanns legendäre Kombination zu Kalbsbries. Die flüssige Praline zerplatzt am Gaumen und offenbart puren Hochgenuss, feinziselierte Lauchfäden bringen elegante Knusperkontraste. Ganz groß, wenn auch nur ums Eck gedacht deutsch. (10/10)

Auch der nächste Happen begeistert. Eine rohe, kurz abgeflämmte Tartelette mit Scheiben von Jakobsmuschel – nussig, fleischig und unverkennbar aus Hokkaido – ergibt mit Kürbis, Dill und Yuzuabrieb frischen, vollmundigen Genuss. Kaum auszudenken, dass Gäste denken könnten, das wäre in Deutschland so Usus. (9/10)

Mit Brathering folgt dann die erste »richtige« Reminiszenz an deutsche Küche. Der Fisch wurde gebraten und drei Tage mariniert, er ist auf einem Petersilienchip angerichtet und mit einem Gelee aus Senfkörnern und Gurke ummantelt. Am Gaumen ergibt sich fast explosionsartig ein an Rollmops erinnerndes Geschmacksbild – säuerlich, umami, salzig und frisch –, sogar Shisoblüten wirken hier nicht deplatziert, sondern erinnern in diesem Kontext eher an Pfefferminztee als an Exotisches. Das ist eindringlich großartig – man glaubt eigentlich kaum, dass man so etwas in Deutschland nicht findet. (10/10)

Es geht weiter mit einer Praline um geräucherten Fasan. Eine (natürlich bestmöglich hausgemachte) Trüffelmayonnaise, frischer Périgord-Trüffel und konzentrier Dill bieten eine an Wald und Wiesen erinnernde Abwechslung auf höchstem kulinarischen Niveau. (9/10)

Mit Labskaus schwenkt man wieder nach Norddeutschland, sehr sympathisch, erspart dem Gast aber die berüchtigte Optik und Konsistenz des kulinarisch verwahrlosten Klassikers. Hier sitzt auf einem halbrunden Stück gerösteten Brots eine Tasche aus Corned Beef, gefüllt mit roter Bete und Kartoffeln. Den traditionellen Rollmops ersetzt eine Nocke Kaviar. Das Ergebnis ist knusprig, üppig, fleischig und salzig – geschmacklich hätte ich die Kombination jedoch nicht unmittelbar der Seemannsdelikatesse zugeordnet. Hervorragend, keine Frage, aber bei allem Genuss auch etwas »linear«. (8,5/10)

Für den nächsten Gang wird zunächst ein schlankes, sehr hohes Glas aufgetischt, in das ein mit Aprikose aromatisierter Trinkessig des Pfälzer Erzeugers Doktorenhof eingeschenkt wird. Dieser begleitet einen Klassiker des Restaurants, eine quaderförmige Entenlebertafel, kurz Enleta – eine augenzwinkernde Referenz zu Hanuta. Foie Gras findet man hier zusammen mit Aprikosengelee zwischen zwei knusprigen Waffeln. Eine ideal kühle Temperatur balanciert die natürliche Üppigkeit der Entenleber aus, der Essig kontrastiert noch einmal deutlicher, wenngleich man diesen eher als kurzweilige Getränkebegleitung wahrnimmt denn als Teil der Speise. Gleichwohl ist das alles mehr als hervorragend. Der Vergleich zwischen Hanuta und Enleta fällt eindeutig aus. (8,5/10)

Die letzte Einstimmung ist vergleichsweise generisch, aber großartig. Die Kombination von Krebsfleisch, hier von der Blauen Schwimmkrabbe, ihrem gelierten Fond, Kaviar und Shisoblüten ist eine sichere Bank. Es kommt mir zumindest so vor, als hätte ich diese herausragende Kombination, die es ohne César Ramirez wohl auch hier nicht gäbe, so oder so ähnlich bereits in diversen Spitzenrestaurants probiert. Die kühle Temperatur unterstreicht den maritimen Charakter der Speise, der Krebs ist von bemerkenswerter Qualität. (9/10)

Das Menü beginnt dann offiziell mit einer Kreation um gekochten, milden Räucheraal. Von dem hat man dünne Scheiben zu hochkant stehenden Zylindern verarbeitet und mit Hechtrogen und Dillblüten kombiniert. Das Gericht ist eine Interpretation des Berliner Klassikers »Aal grün« und setzt hier, anstelle der im Original verwendeten schweren Sahnesauce, auf eine leichte Begleitung mit Gurkenwasser und Dillöl. Das Gericht erreicht eine bemerkenswerte Balance zwischen Frische, Cremigkeit und Salz, stets untermalt von den anis- und fenchelartigen Aromen vom Dill. Neben dem Kontext spricht auch die kleinteilige Anordnung inklusive der Dekoration mit Blutampfer eindeutig die deutsche Sprache, jedoch keinesfalls auf Kosten des Genusses. Erneut Weltklasse. (9/10)

Zwischendurch serviert man eine – sehr gute – hausgemachte Brotauswahl mit bretonischer Beurre Bordier – kein Grund, dogmatisch zu bleiben.

Dass das Menü nicht um jeden Preis deutsch bleibt, könnte man – eine entsprechende Erwartungshaltung vorausgesetzt – enttäuschend finden. Ich finde es abwechslungsreich, vor allem, wenn es so genussbringend umgesetzt ist wie beim folgenden Gang. Es gibt eine geschichtete Terrine von getrüffelter Entenleber und Taube, letztere sowohl dry-aged als auch in Form von geräucherter Taubenbrust. Ein feiner Streifen (nicht zu süßes) Portweingelee schließt die aufwändige Zubereitung ab. Das Ganze wird begleitet mit einer feinen Tranche von in Rotweinreduktion marinierter Feige von außergewöhnlicher Qualität. Das ist Klassik pur, handwerklich auf höchstem Niveau umgesetzt, geschmacklich äußert fein zwischen Süße und Bitterkeit ausbalanciert und mit vollmundigem Schmelz ausgestattet. Eine der besten Foie-Gras-Terrinen, die ich je probiert habe. (10/10)

Gekonnt zwischen Üppigkeit und Leichtigkeit schwenkend, geht es mit einem Gang um Saibling weiter. Der wurde in geräucherter Butter pochiert, hat hierdurch eine cremige Konsistenz und ist mit frittiertem weißem Seetang getoppt. Am Tisch wird noch eine warme Tobinambur-Consommé angegossen. Das Gerichtet duftet verhalten, aber geheimnisvoll nach den Gerüchen eines japanischen Sushi-Restaurants, in dem sich die säuerlichen Aromen von Hölzern, Fisch, Sojasauce und Reis zu etwas Verheißungsvollem mischen. So schmeckt das Gericht auch: unaufgeregt, mild, »fließend«, perfekt justiert. Ziemlich groß. (9/10)

Die kulinarische Erlebnisreise, die bisher in äußerst angenehmer Atmosphäre stattfindet, fährt fort mit Hummer. Von allen Krustentieren ist Hummer nicht mein liebstes, aber diese Qualität aus der Bretagne lässt keine Fragen offen. Der ausgelöste Schwanz präsentiert sich perfekt gegart, mit schneeweißem, gerade nicht mehr glasigem Fleisch, festem Biss und nussigem, mild-süßem Geschmack. Dazu passt ein Saucenduo von einer leuchtend orangeroten Krustentierbisque und Vanilleöl, gekonnt vorsichtig, aber doch so dosiert, dass der Zusammenhang zwischen der natürlichen Süße des Hummers und der Vanille nicht übersehen werden kann. Ein Stück kühle, sehr aromatische Kaki sorgt für fruchtige Frischeakzente, und ein Steckrübenpüree mit einer Teigtasche mit Hummerscherenfleisch bringt dazu noch einmal einen anderen Teil des Krustentiers zum Leuchten. Der Clou ist aber eine ganz leichte Rauchnote, die das Gericht untermalt, offenbar von der Garung des Hummers über Holzkohle. Das ist in seiner ganzen Perfektion – qualitativ, aromatisch und handwerklich – ergreifend. (10/10)

Mit Spätzle wird es dann wieder deutsch, zumindest teilweise, denn eine nicht unwesentliche Hauptzutat ist ein faustgroßer Périgord-Trüffel. Der wird großzügig über die handgemachten Eiernudeln gehobelt, die in einer cremigen Sauce aus Bergkäse mit etwas mildem Kräuteröl angerichtet sind. Der Teller hält, was er verspricht: schwelgerisch cremigen Genuss, trotz allem mit dem nötigen Biss, mit herzhaftem Umami, nussiger, ätherischer Erdigkeit vom Trüffel und etwas geschmacklicher Frische vom Kräuteröl. Separat serviert man dazu noch ein Schälchen Röstzwiebeln, mit denen man nach Belieben knusprige, fettige Akzente setzen kann. Ein klassisches Gericht zum Lächeln, Augenschließen und Reinlegen. (10/10)

Obwohl der Service scherzt, man bräuchte eigentlich nur ein Löffel für den nächsten Gang mit Ente, soll man zunächst ein Messer des Solinger Herstellers Nesmuk auswählen. Die Ente wurde bereits vor dem Hummergang kurz am Tisch in einer Cocotte präsentiert. Sie stammt von der Klong Phai Farm, einem renommierten Zuchtbetrieb aus dem Südosten Bangkoks, und wurde gepökelt, zehn Tage lang trockengereift und anschließend gebraten und gegrillt.

Eine knusprig anmutende, goldbraune Scheibe aus der Brust des Tiers ziert dann denn Teller. Sie ist auf einem dunkelroten Duo von Rote-Bete-Pulver und mit Kirsche aromatisiertem Entenjus platziert; eine heiße Praline mit Geschmortem und weitere Rote-Bete-Zubereitungen begleiten das Ganze. Das Gericht duftet weihnachtlich und fruchtig, man kann die knusprige Kruste und das zarte Fleisch förmlich riechen. Tatsächlich habe ich selten ein derart perfekt knuspriges, saftiges Stück Ente genossen – der üppige Fettgehalt des Fleischs und das intensive Aroma zeugen von höchster Qualität. Zusammen mit den eleganten Kirscharomen und subtilen Rauchnoten ist das ein ziemlich perfektes Gericht. Trotz der unverkennbaren französischen Handschrift geht das Gericht, gerade jetzt zu Weihnachten, durchaus auch als deutsch durch. (9/10)

Ein Pré-Dessert mit einem Sorbet einer (nicht notierten) japanischen Zitrusfrucht, deren Saft, einer Mandelcreme und einem Hauch Amaretto ist dann nicht weniger als herausragend. Der erfrischende Zwischengang kombiniert geschmackliche Kindheitserinnerungen an Cuja Mara Split mit einer leichten, rätselhaften Schärfe und einer essigartigen Säure. Ganz groß. (10/10)

Das eigentliche Dessert, das auf »Bratapfel« hört, vereint dann alle (klischeehaften) Aromen eines deutschen Weihnachtsmarkts in einem kompakten Dessert mit Vanilleeis, Zimt, geschichtetem Bratapfel und Marzipan. Apfelcrumble liefert dazu ein bisschen Knusperspaß, und ein Verjusgelee steuert ganz leicht mit etwas schlanker Säure entgegen. Das Gericht wirkt stark auf der assoziativen Ebene und ist gerade deswegen so wundervoll. (10/10)

Die Pralinen sind kaum weniger begeisternd. Es gibt u. a. Rumkugel, Linzer Stange, Nusskipferl und dazu einen Schuss Eierlikör aus einem eisgekühlten Becher – alles, inklusive des Likörs, auf sehr hohem Niveau (8,5/10). Das Rezeptbuch von Sührings Großmutter legt man – als Kopie – gleich mit dazu. Als deutschsprachiger Gast ist das ein besonders Vergnügen: Überschriften wie »Sommerfrischer Salat amerikanischer Art«, »Feuerzangenbowle« und »Räucherfisch« mit detaillierten, handschriftlichen Arbeitsschritten zeugen davon, dass das Küchenhandwerk in der Familie liegt.

Nach dem Essen gibt es noch eine kleine Tour durch die geschmackvoll eingerichtete Villa, und irgendwann steht man wieder draußen in der Hitze Bangkoks, 8 600 Kilometer entfernt von der Heimat. Sie hätte im Sühring kaum näher sein können.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Sühring (→ Website)
Chefs de Cuisine: Mathias Sühring, Thomas Sühring
Ort: Bangkok, Thailand
Datum dieses Besuchs: 26.12.2024
Guide Michelin (Thailand 2025): **
Meine Bewertung dieses Essens: 9 (Was bedeutet das?)
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