King’s Joy – königlich vegetarisch
Es sind viele erste Male mit diesem Restaurantbesuch verbunden. Ich bin zum ersten Mal in Peking, es ist mein erster Tag in Chinas Hauptstadt, und mein erstes Abendessen hier steht auch bevor. Mein erstes Essen in Peking ist es nicht, weil ich mich nach meiner Ankunft aus Shanghai am Mittag noch mit ein Paar kleinen Gängen in meinem Hotelrestaurant Il Ristorante by Niko Romito gestärkt habe.
Zudem ist das King’s Joy, vor dem ich am frühen Abend stehe, das erste vegetarische Restaurant, das mit drei Michelin-Sternen ausgezeichnet wurde.
Das Restaurant befindet sich auf einem eindrucksvollen Grundstück in der Nähe des Yonghe-Tempels. Auch das Restaurant wirkt tempelartig, mit mehreren, ebenerdigen Gebäudetrakten und akkurat gepflegten Gartenanlagen. Küchenchef ist der erst 34-jährige Gary Yin, der das Restaurant seiner Familie seit 2018 leitet.
Das Interieur ist auch bemerkenswert. Anstatt eines einzelnen Speisesaals findet man verschiedene Bereiche mit weit auseinander stehenden, elegant eingedeckten Tischen vor. Durch unterschiedliche Fußbodenhöhen und raumtrennende Gestaltungselemente bietet jeder Tisch viel Privatsphäre und, trotz der Größe, Gemütlichkeit.
In der Mitte des Restaurants sorgt eine Harfenspielerin für musikalische Untermalung. Dieses Detail passt nicht so ganz zum ansonsten eher modernen Rahmen, aber die Klänge sind entspannend. Es sind eher der sehr förmliche Service und die sprachlichen Barrieren, die die Atmosphäre insgesamt etwas steif wirken lassen. Dennoch fühle ich mich rundum wohl am Tisch.
Ich verschaffe mir erst mal einen Überblick über Speisen und Wein. Das Menü, das man hier offenbar für mich vorgesehen hat, liegt bereits in Form einer kleinen Papierrolle neben mir. Es ist ohne Preisangabe verstehen und wird später mit 1 399 CNY (ca. 182 €) auf der Rechnung stehen. In der offiziellen Speisekarte gibt es noch weitere Menüs, sowohl günstigere als auch deutlich teurere, inhaltlich aber alle sehr ähnlich. Da ich das Restaurant über einen Kontakt vor Ort reserviert habe, lasse ich einfach alles so laufen, wie vorgesehen.
Die Weinkarte ist ansprechend, mit schlüssigen Rubriken und einem ausreichenden Umfang mit vielfältigen Jahrgängen. Meine Wahl fällt auf eine Flasche 2017er Pommard »Les Vieilles Vignes« von der Domaine Vincent Girardin (ca. 142 €), dann lehne ich mich zurück, lausche der Harfe und harre der Dinge, die gleich kommen.
Als Auftakt des Essens wird zunächst ein Getränk serviert, das aus unterschiedlichen, achtzehn Monate lang getrockneten Früchten hergestellt wurde. Es schmeckt so wie es aussieht, irgendwie zwischen Sherry und Kombucha, also eher herb – ganz angenehm. Dazu werden zwei Erdbeeren serviert. Sie sind gut, aber nicht vergleichbar mit den süßen, perfekten Exemplaren, die man in Japan finden würde. Aufgrund eines nicht weiter gravierenden Servicefehlers bekomme ich die Erdbeeren, nachdem sie abgeräumt wurden, gleich noch ein zweites Mal.
Vier Erdbeeren später gelangt der erste Gang an den Tisch. Es gibt eine bunte Variation unterschiedlicher Gemüse, die theatralisch, aber optisch wirkungsvoll in einem Trockeneisnebel angerichtet ist. Es gibt mehrere sehr merkwürdig anmutende, aber angenehm nach Wald und Erde schmeckende Pilze (schwarz und leuchtend gelb), rohe, junge Walnuss, verschiedene Rettichsorten, »glitschige« Okra, Kürbis und in einer Cashewcreme angerichtete Lilienblüte. Die Produktschau ist spannend und schmackhaft, auffällig ist vor allem die »Präsenz« und Klarheit aller Zutaten. Hervorragend. (8/10)
Es folgt ein Trio von drei kleinen Kreationen. In vielen anderen chinesischen Restaurants wären das jetzt verschieden Stücke Fleisch (wie z. B. kürzlich im Jade Dragon); hier gibt es stattdessen säuerlich eingelegte Lotuswurzel, die nach Kino und Popcorn schmeckt, einen weichen und blumigen »Avocadosalat« sowie frittierten Klebereis mit einem umamibetontem Pilzgel. Die Petitessen sind atemberaubend gut, präzise gearbeitet, sehr aromatisch und abermals sehr klar. Weltklasse. (9/10)
Ein heißes Süppchen vom Matsutake-Pilz steigert weiter die Temperatur. Die Essenz schmeckt elegant nach Nadelbäumen, Zimt und Erde. Ein Kännchen hält noch weitere Portionen bereit, aber nach dem fünften Becher sehne ich mich nach Abkühlung und Abwechslung. Aber zweifellos ein hervorragendes Elixier. (8/10)
Der nächste Gang präsentiert kleine knusprige Zylinder mit Comté-Käse und Weißdorn, dazu gibt es chinesische Yamswurzel, Brombeeren und weitere fruchtige Zutaten. Die »straßenartige« Anrichtweise wirkt zwar etwas verkopft, doch die Kreation ist fantastisch. Ohne alle Komponenten im Detail identifizieren zu können, ergeben sich hier Geschmackseindrücke zwischen Rose, Pommes frites und Döner (!), irgendwie exotisch-orientalisch und mit sehr appetitlichen Texturen. Ein rotes Gel, auf dem alles angerichtet ist, schmeckt spannend nach blumigem chinesischem Tee. Klingt kurios, ist aber großartig. (9/10)
Es geht weiter mit einer Tartelette mit Gorgon-Frucht, eine Wasserpflanze, von der die gerösteten, kugelförmigen Samen Verwendung finden. In der Tartelette sind diese zusammen mit Erbsen auf einem Cashewpüree angerichtet. Der Snack, den man im Ganzen verspeist, ist mundfüllend und etwas trocken, vergleichbar mit einer großen Portion Kichererbsen. Insgesamt ist das eine etwas massige Angelegenheit, die leicht nussig, aber größtenteils neutral schmeckt. (6,5/10)
Die nächste Spezialität ist deutlich spannender. Es gibt Bamboo pith (Tropische Schleierdame), ein Pilz, für den ich mich kürzlich bereits im Restaurant Forum in Hongkong begeistern konnte. Für dieses Gericht wurde ein solcher Pilz kurz in der Pfanne frittiert und mit sehr dünnen Spargelspitzen gefüllt. Die delikate Kreation schmeckt leicht süßlich, ist luftig knusprig, und der sehr aromatische Spargel frischt alles auf. Ein konzentrierter Trüffeljus macht aus der kleinen Speise ein luxuriöses Highlight. (9/10)
Der Pilz ist auch eine gelungene Überleitung zu einer Pilzsuppe, die jetzt in einem kleinen Tontopf serviert wird. Die Suppe ist dicht, heiß und viskos, duftet nach Wald und Erde. In der Suppe findet man »wertvolle Pilze« – Genaueres erfahre ich nicht – und Lotuswurzel. Die Suppe, die an meinen Lippen klebt wie ein stark reduzierter Hühnerfond, ist mit ihren komplexen, intensiven Pilz- und Waldaromen schon eine Sensation, aber ein Hauch Passionsfruchtessig, der laut dem Service ebenfalls Verwendung findet, belebt das heiße Elixier durch die Andeutung einer fruchtigen Säure. Das ist zweifellos die beste Pilzsuppe, die ich je gegessen habe. Ein grandioses, intensives Gericht. (10/10)
Ein weiterer Pilz findet auch bei der nächsten Kreation Verwendung. Bei der geht es jedoch primär um über Holzkohle gegarten Tofu, was ihn mit appetitlichen Röstnoten ausgestattet hat. Der Tofu ist auf einer Scheibe Lotuswurzel platziert und mit einem dunklen Pilz belegt, offenbar derselbe, der auch zu Beginn in der rohen Gemüsevariation serviert wurde. Ein Gelee aus für mich undefinierbaren Zutaten fügt dem Ganzen eine weihnachtliche Süße hinzu. Die teils knusprigen, teils weichen Texturen sind ebenfalls spannend. Erneut ganz hervorragend. (8,5/10)
Dann folgt eine bildhübsch präsentierte Speise, bei der eine Morchel auf grünem, mangoldähnlichem Gemüse angerichtet ist. Eine weitere, wesentliche Zutat – malaysischer Sarawak-Pfeffer –, ist zwar nur bei genauem Hinsehen erkennbar. Doch der Duft des Pfeffers nimmt sofort den Raum um mich herum ein. Er duftet belebend und subtil floral, erinnert an Blüten und tropische Gärten mit hoher Luftfeuchtigkeit. Verschiedene zitrusartige Aromen vermengen sich in dem Duft, was auf seine Schärfe hinweist. Trotz dieser frischen Noten ist alles in einer erdigen Basis fundiert, die Tiefe und Wärme ausstrahlt. Ich könnte minutenlang an dem Gericht schnüffeln. Wie gut, dass es sich auszahlt, es auch zu probieren. Die aromatische Morchel, ebenfalls erdig und leicht nussig, ist genauso eine Offenbarung wie das knackige Gemüse mit einem »kofferartigen« Aroma, das mich an Seeigel erinnert. Unvergesslich! (10/10)
Ein Reisgericht deutet auf das langsame Ausklingen des Mahls hin. Eine schlichte Holzschale mit funkelndem, duftendem Reis ergänzt man eigenständig mit in Pfirsichharz geschmorten Pilzen, frischer, aromatischer Gurke und Koriander. Der Reis ist leicht klebrig, die Gemüsemischung pikant und fleischig-umami. Davon hätte es sogar noch etwas mehr sein dürfen. In Summe ein hervorragendes Gericht, hinter dem deutlich mehr Handwerk steckt als es den Anschein hat. (8/10)
Und da mich die Küche hier so begeistert (und sie naturgemäß auch sehr leicht ist), frage ich noch nach einem zusätzlichen Gang. Vor skurrilen tierischen Zutaten muss man sich hier glücklicherweise nicht fürchten.
Die Küche beantwortet meinen Wunsch mit einem weiteren Pilzsüppchen. Mit Matsutake, Morcheln und abermals dem seltsamen Bamboo pith – hier in flachen, nudelförmigen Streifen – hat man einige der edelsten chinesischen Pilze in dem Gericht verarbeitet. Ihre unterschiedlichen Konsistenzen und Aromen zu probieren – einzeln wie im Zusammenspiel – ist bei dem Gericht besonders spannend. Die Hitze der Suppe, die waldigen Aromen, all das ist abermals köstlich und trotz einiger wiederholter Zutaten nicht repetitiv. (9/10)
Und dann komme ich auch nicht mehr um die Desserts herum. Gegen 20 Uhr ist das Restaurant inzwischen seltsamerweise auch fast leer. Das weitläufige, angenehm beleuchtete Ambiente sorgt dennoch für eine gemütliche Stimmung.
Das erste Dessert ist ein Milchpudding. Natürlich nicht irgendein banaler, sondern ein Imperial Osmanthus Milk Pudding. Osmanthus bezeichnet »Frühlings-Duftblüte«, eine weiße, duftende Blüte eines Ölbaumgewächses, die hier als Tee mitverarbeitet wurde. Noch spannender als das nicht zu süße und leicht florale Aroma der Creme ist ihre Konsistenz, die stichfest und schmelzend zugleich ist. Das ist so schlicht wie hervorragend. (8,5/10)
Zwei weitere Speisen erreichen noch den Tisch. Ein Mung Bean Cake, ein süßes Konfekt aus Mungobohnenpaste, ist ein chinesischer Dessertklassiker, aber mit seiner etwas »trockenen« Konsistenz eher mäßig spannend. Ähnliches gilt für einen Reiskuchen mit einer Füllung aus Walnuss und roten Bohnen – etwas schwer und monoton (beides 6,5/10, wenngleich die Speisen vermutlich kaum besser umgesetzt werden können).
Dass man vegetarisch auf Spitzenniveau essen kann, muss nicht diskutiert werden. Jeder, der sich für gute Küche interessiert, wird früher oder später Gemüsegerichten begegnen, die eine Offenbarung sind. Dass sich ein Restaurant mit höchsten Ambitionen so festlegt, ist dennoch selten. Ob nun berechtigt oder nicht, finde ich es in China sogar noch außergewöhnlicher. Zu sehr ist die Küche des Landes mit unzähligen, oft auch obskuren, tierischen Delikatessen verbunden. Insoweit ist es erfreulich, dass man hier so weit gekommen ist. King’s Joy? Nicht nur. Die Freude war ganz auf meiner Seite.
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