Da Vittorio – Shanghai, Lombardei, Hauptsache Italien!
Die italienische Küche hat schon von Haus aus wenig Potenzial, anzuecken. Italienische Restaurants in Weltmetropolen sogar noch weniger. Sie sind sogar oft ein Garant für großen Genuss und souveräne Spitzengastronomie. Der Grund ist eine Kombination aus den in Weltmetropolen vorherrschenden hohen Qualitätsstandards, dem damit verbundenen hohen Maß an kulinarischer Konkurrenz, dem Zugang zu hochwertigen, frischen Zutaten aus der ganzen Welt, der Beschäftigung passionierter und erfahrener Köche sowie einem kulinarisch versierten internationalen Publikum mit hohen Erwartungen.
Ich kann nur davon abraten, in Städten wie New York, L.A., Tokio – oder eben Shanghai – italienische Restaurants auszuklammern, nur, weil man »das auch zu Hause haben kann«. Kann man nämlich nicht – nicht mal in Italien. Und so war es für mich völlig klar, in meine eigentlich schon maßlose kulinarische Agenda dieser Reise noch das Da Vittorio in Shanghai zum Mittagessen einzubauen. Immerhin zählt das gleichnamige Hauptrestaurant in Brusaporto in der Lombardei zu einem meiner ganz großen Genusserlebnisse.
Das im Mai 2019 eröffnete Schwesterrestaurant in Shanghai befindet sich auf einem von Norman Foster gestalteten Geschäftskomplex am Bund. Allein das wäre eigentlich schon eine Reise wert. Auf derselben Etage des Da Vittorio befindet sich auch eine Filiale der renommierten Restaurantkette Xin Rong Ji, die ich in wenigen Tagen in Peking besuchen werde (Bericht folgt). In dem Gebäude sind noch weitere Restaurants unterbracht. Keines davon ist für Laufkundschaft ausgelegt und vermutlich trotzdem immer voll – typisch für die Fine-Dining-Szene einer boomenden asiatischen Metropole.
Der Speisesaal ist hochwertig und »klassisch europäisch« eingerichtet. Von so gut wie jedem Tisch aus genießt man den Ausblick auf den Huangpu-Fluss und die Skyline des Stadtbezirks Pudong. Das Personal ist zu einem großen Teil italienisch, und es macht Freude, dem charmanten englischen Akzent zuzuhören.
Als erste Amtshandlung des Restaurants präsentiert man eine Box voller knollenselleriegroßer Alba-Trüffeln. Da steigt die Laune, vor allem, wenn man dazu schon ein Glas Champagner auf dem Tisch stehen hat (Henri Giraud »PR18-90«, ca. 95 €).
Die Speisekarte hält die Laune hoch, denn es gibt – neben mehreren Überraschungsmenüs – einen A-la-carte-Teil, der sich so appetitlich liest, dass man die Gerichte nicht einmal probieren muss, um über sie zu schwärmen. Entsprechend schwierig ist eine Auswahl, aber mit etwas Unterstützung vom Service steht schließlich mein Mittagessen.
Beim Wein gehe ich glasweise vor und lasse mir als Übergang vom Champagner einen italienischen Weißwein aus dem Piemont empfehlen. Das ist ein 2020er Derthona Montecitorio von Vigneti Massa (ca. 48 €), ein schlanker mineralischer Wein aus der Rebsorte Timorasso. Die glasweisen Preise, die ich erst später auf der Rechnung sehe, sind happig.
Erste Amuse-Bouches erreichen den Tisch. Es gibt einmal ein üppiges Stück geräucherten Lachs, der mit seinem Schmelz, seiner Dichte und elegant rauchigen Aromen sehr an den berühmten Balik-Lachs erinnert. Eine präzise gearbeitete Ummantelung aus Champagnergelee steuert abwechslungsreiche Frische hinzu. Großartig. (9/10)
Auf einem zweiten Teller findet man unter anderem eine Tartelette mit Rindertatar und hauchdünn gehobeltem weißem Alba-Trüffel. Solchen Qualitäten begegnet man in Deutschland in der Regel nicht, daher ist der Edelpilz für mich ein ganz besonderer Genuss. Seltsamerweise ist der Eindruck der Tartelette am Gaumen insgesamt etwas trocken – das Rindfleisch hätte man mutiger und saftiger würzen können. Damit hätte sich auch der intensive Trüffel gut verstanden. Dennoch sehr gut. (7/10)
Ein kugelförmiges Blätterteiggebäck mit einer cremigen Füllung aus Edelschimmel-Béchamel-Sauce ist danach warm, wohltuend und wunderbar. (8,5/10)
Eine weitere kalt servierte Vorspeise kommt in Form von einer kleinen Kaviardose, in der eine Speise in mehreren Schichten angerichtet ist. Unter einer Schicht mit Kaviar findet man in Milch marinierte Forelle, darunter ein Chawanmushi. Der knackige Salzkick des Kaviars in Kombination mit der leicht rauchigen Forelle, die mit eleganten Zitrusnoten abgeschmeckt ist, und dem cremigen, umamireichen Chawanmushi, ergibt einen Wohlfühlgang auf höchstem Genussniveau. (10/10)
Die erste von mir gewählte Speise vollendet Küchenchef Stefano Bacchelli gleich persönlich am Tisch. Es gibt Ei »cereghin« mit Kartoffelpüree und frisch gehobeltem weißem Alba-Trüffel (ca. 126 €). Das Kartoffelpüree ist samtig und gehaltvoll wie bei Joël Robuchon, das Spiegelei heiß und cremig, und der intensive Trüffel hebt das Gericht auf eine luxuriöse Ebene, ohne die warme, einladende Aura von Hausmannskost zu überstrahlen. Dazu ein Schluck Weißwein, der Blick auf die Uferpromenade, und gegen die wohlige Gänsehaut kann ich mich nicht mehr wehren. (10/10)
Über sieben Jahre ist es her, dass ich den Klassiker Paccheri pasta »Vittorio style« in Italien probiert habe. Ich habe mich seitdem unzählige Male an dieses kanonische Gericht zurückerinnert, das ebenfalls eine Ode an die Einfachheit ist. Es steht auch hier in Shanghai auf der Karte und ist mit umgerechnet ca. 32 € sogar das mit Abstand günstigste Gericht. Die Kunst liegt hier in einer perfekten Zubereitung von einfachen Zutaten (in gleichwohl hoher Qualität) zu einem besonders harmonischen Ganzen. Dabei sind bissfest gegarte Röhrennudeln in einer Sauce aus drei Tomatensorten angerichtet. Letztere wird tableside in einer Warmhaltevorrichtung mit umbrischem Olivenöl, etwas Pfeffer, Chili und Parmesan vollendet, was der Sauce eine cremige, samtige Textur verleiht. Die Pasta wird dabei behutsam mitgeschwenkt, sodass diese komplett von der Tomatensauce ummantelt ist.
Das Ergebnis, das man in einem neuen, warmen Teller anrichtet, ist eines der wohltuendsten Pastagerichte, die man überhaupt genießen kann, mit einer sämigen Sauce, die Süße, Salz und Umami perfekt vereint. Die Hartweizenpasta hat einen perfekten Biss, ein wenig wie Tintenfisch. Als charmantes Detail am Rande hängt man mir während des Essens ein Lätzchen um. »Oggi sono goloso« steht darauf, was in etwa »ich schlemme heute« bedeutet. Dem habe ich nichts entgegenzusetzen. (10/10)
Im Glas dazu ist inzwischen ein 2019er Gevrey-Chambertin von der Domaine Joseph Roty (ca. 58 €) aus der exzellenten offenen Weinauswahl.
Für den Hauptgang fiel meine Wahl auf ein Gericht namens »Double duck« (ca. 66 €). Doppelt ist die Ente, weil sie in Form von zwei Zubereitungen serviert wird. Die erste ist ein Gericht mit einem länglichen Bruststück, das in einer glänzenden Entenreduktion angerichtet ist. Dazu gibt es verschiedene Zubereitungen mit Kürbis. Das Stück Ente hat eine knusprige und dabei etwas dickere Haut, die mit Salz und Pfeffer gewürzt ist, darunter eine appetitliche, schmelzende Fettschicht und saftiges, sehr aromatisches Fleisch, das an keiner Stelle mehr blutig ist.
Es ist das beste Stück Ente, das ich je probiert habe. Die intensive Sauce, der süßliche Kürbis und eine ebenfalls grandiose Consommé mit Enten-Tortellini machen die doppelte Ente zu einem weiteren Gang aus dem Schlaraffenland, in dem ich mich bereits damals in Brusaporto sah. (10/10)
Den verführerischen Käsewagen, der an meinen Tisch gerollt wird, muss ich leider aus Platzgründen verschmähen. Ein paar Pralinen und ein caffè würden mir jetzt reichen, aber man lässt das so nicht auf sich beruhen und serviert noch ein Tiramisu.
Es handelt sich dabei um eine kreative Interpretation des Dessertklassikers, dessen Komponenten in eine zapfenförmige, hauchdünne Zuckerschicht eingebracht wurden. Eine wolkige Mascarpone-Creme, Karamellschaum, Espressopulver und weitere verführerische Zubereitungen machen dies zu einem der besten Desserts, die ich je probiert habe. (10/10)
Auch die Pralinen, die noch folgen, und zu denen ich mir noch ein Glas chinesischen Süßwein empfehlen lasse (2017 Domaine Franco Chinois, ca. 25 €), sind göttlich. (10/10)
Wenn ich bedenke, was man hier noch alles bestellen kann – von traumhaft klingenden weiteren Pasta-, Fisch- und Krustentiergerichten bis zu einem 1,3 kg-Stück Wagyu »M9« Ribeye mit italienischen Gemüsen zum Teilen – bleibt nur die Feststellung, dass man nicht besser essen kann, nur anders. Beschwingt, deutlich zu satt und fest entschlossen, eine lose Reservierung in meinem Hotelrestaurant (Il Ristorante by Niko Romito) heute Abend nicht mehr wahrzunehmen, spaziere ich in den Nachmittag hinein durch Shanghai.
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