Chao Shang Chao – Chaozhou in Chaoyang
Es ist der letzte Tag des Jahres, und ich habe noch zwei Reservierungen in Drei-Sterne-Restaurants in meinem Kalender. Das erste heißt Chao Shang Chao. Den Namen hörte ich zum ersten Mal im Oktober, als der Guide Michelin die aktualisierte Ausgabe für Peking vorstellt – und das Restaurant mit drei Sternen auszeichnet. Zwei hat es da schon.
Meine anschließenden Recherchen fallen mager aus. Das Chao Shang Chao hat keine Website, keine Einträge in Google Maps, es gibt auch sonst kaum Informationen. Dagegen wirken die exklusivsten japanischen Restaurants wie Franchise-Ketten. Die scheinbare Geheimniskrämerei passt dagegen nicht zu den Fotos, die man finden kann – zum Beispiel auf der Michelin-Website –, die offenkundig ein großes, förmliches Restaurant in einem modernen Geschäftsgebäude zeigen. Vor Ort wird alles dann noch skurriler.
Als ich gegen elf Uhr an der gewünschten Adresse im Pekinger Bezirk Chaoyang abgesetzt werde, stehe ich an einer großen Hauptstraße, direkt vor einem gigantischen Komplex mit Bürogebäuden. Als ich den Kopf hebe, blicke ich direkt auf den CITIC Tower, eines der höchsten Gebäude der Welt, das ich bisher nur von meinem Hotelzimmer aus sehen konnte.
Und obwohl mich nur wenige Meter von dem Gebäudekomplex trennen, habe ich wegen einiger Absperrungen und Bepflanzungen Mühe, mich den Gebäuden zu nähern. Gut, dass ich eine halbe Stunde zu früh bin. In welches Gebäude ich mich begeben soll, weiß ich auch noch nicht. Menschen sind weit und breit keine zu sehen.
Daran ändert sich auch nichts, als ich mich vom nächsten Gebäudeeingang verschlucken lasse. Dort empfängt mich eine gigantische Eingangshalle – und sehr viel Leere. Leere Flure, leere Hallen und leere Gänge wohin ich Blicke. Der Zweck des Gebäudes bleibt völlig unklar. Irgendwo finde ich ein Café (ohne Kundschaft) und einen Angestellten, der mir schließlich, nach langer Diskussion mit seiner Kollegin, den Weg zu einem Fahrstuhl weisen kann.
In irgendeinem höheren Stockwerk angekommen, wiederholt sich das Ganze, diesmal mit noch weiteren Fluren. Hunderte Quadratmeter Fläche ohne erkennbaren Nutzen. Ob ich richtig bin, weiß ich immer noch nicht.
Irgendwann taucht ein Schild auf, und mehrere Ecken und viele leerer Flure weiter finde ich tatsächlich den – noch unbesetzten – Eingang des Restaurants. Kein Problem, sich hier noch etwas die Beine zu vertreten.
Als ich endlich hinein kann, werde ich direkt in ein separates Speisezimmer geführt. Einen allgemeinen, offeneren Essbereich sehe ich nur kurz aus dem Augenwinkel. In dem Raum steht ein einzelner Tisch am Fenster, elegant eingedeckt, mit Blick auf den unteren Teil des CITIC Towers und, etwas weiter dahinter, auf das architektonisch noch bedeutsamere CCTV-Gebäude. Es ist eine eindrucksvolle Kulisse.
Inzwischen hat man die Tür wieder geschlossen und überlässt mich meiner selbst. Ich nehme an, dass mir das Restaurant mit dem privaten Speisesaal einen besonderen Gefallen tun möchte. Ausländische Gäste dürften hier ein Rarität sein. Skurril ist die Situation dennoch.
Etwas Wasser wäre jetzt ganz nett, vielleicht auch ein Glas Champagner, aber für eine Weile kommt erst mal niemand. Dafür liegt ein Menüvorschlag bereits akkurat ausgedruckt neben mir, wie so oft ohne Preisangabe, aber mit drei Michelin-Sternen oben rechts in der Ecke.
Schmunzeln muss ich beim Lesen des Hauptgangs: Es gibt mit Haifischflosse gefüllte Taube. Wenn ich Zutaten benennen muss, die ich kategorisch ausschließe, dann genau diese zwei. Dass diese auch noch in einem Gericht zusammenfinden, ist vermutlich selbst in China unwahrscheinlich. Ich werde mich später um einen Ersatz bemühen.
Dann klopft es an der Tür. Es erscheinen ein freundlicher Restaurantangestellter mit Anzug, Drahtlos-Headset und guten Englischkenntnissen sowie eine junge Dame aus dem Service, deren Rolle als Bedienung offenkundig ist. Ich nutze die Gelegenheit, um Wasser und ein Glas Wein aus der kompakten offenen Auswahl zu bestellen, einen 2019er Bourgogne Blanc von Rémy Jobard für 140 CNY (ca. 18 €).
Man ist insgesamt sehr höflich und professionell. Richtig seltsam wird es dennoch, als der Herr den Speisesaal wieder verlässt und seine Kollegin im Raum verbleibt. Ihre Aufgabe ist es offenbar, jede Bewegung von mir zu beobachten und eventuelle Anliegen meinerseits zu antizipieren. Die Vorstellung, dass ich die nächsten Stunden derart beobachtet werde, ist etwas beklemmend.
Irgendwann verlässt die Dame ohne erkennbaren Grund den Raum. Ich vermute später, dass das Personal Anweisungen per Headset entgegennimmt. Immerhin befindet sich auch eine Kamera in dem Raum.
Wenig später treten die Dame und der Herr erneut ein und platzieren die erste Speise auf den Drehtisch. Es gibt zwei Stücke aus Mungbohnenpaste mit Chaozhou Phoenix Oolong tea. Chaozhou ist die Region, um deren Küche es hier im Restaurant grundsätzlich geht. Es ist eine der drei großen Kochrichtungen der im Ausland oft in einen Topf geworfenen kantonesischen (oder Guangdong-)Küche. Etwas dröge sind diese Bohnenküchlein trotzdem – einer hätte auch gereicht. (6,5/10)
Die junge Dame steht nach wie vor in der Ecke und blickt scheinbar durch mich hindurch. Ich glaube nicht, dass ich das den Rest des Essens über aushalte.
Meine Gedanken werde unterbrochen, als ein weiterer Teller gebracht wird. Er enthält sechs Stück mit Süßholz lackierter Birne. Diese hat eine feste, luftige Konsistenz, ein wenig wie japanische Nashi, und ein blumiges, einprägsames Aroma. Durch den Süßholzlack wird dieser Charakter hervorgehoben. Das ist so einfach wie wunderbar, aber nach drei Stücken mache ich eine kleine Pause. (7,5/10)
Und nachdem dann eine ganze kandierte Buddha’s Hand-Zitronatzitrone am Tisch präsentiert wird, von der sich einige dünne Scheiben in einem von drei Schälchen mit Condiments befinden, die man dann ebenfalls auf dem Drehtisch platziert, wird mir allmählich klar, dass ich mir mit den vorherigen Speisen ruhig ein bisschen Zeit hätten lassen können. Allesamt sind offenbar als Speisebegleiter während des Menüs gedacht.
Die folgende Kreation ist dann der erste »richtige« Gang. Es ist ein kühl serviertes Gericht mit Königskrabbe, getoppt mit Kaviarangerichtet auf einer ebenfalls mit Königskrabbe gefüllten Rolle aus dünnen Avocadoscheiben. Das Ganze thront auf einem Nest aus getrockneten Garnelenfäden sowie geriebenem Hartkäse. Das Ensemble ist so klar, frisch und authentisch, wie ich es von chinesischer Küche bisher nicht kenne – fast schon französisch. Das Krebsfleisch ist saftig und aromatisch, die knusprigen Garnelen betonen das Maritime, die Avocado und der Käse verleihen dem Ganzen Schmelz und Umami. Das ist souveränes Spitzenniveau. (9/10)
Ich nutze jetzt auch die Gelegenheit, dem Service zu erläutern, dass ich während des Essens gerne alleine bliebe. So ironisch es sich anhören muss, vom Service Abwesenheit statt ständige Abrufbereitschaft zu wünschen, ist mein Wunsch natürlich kein Problem, und ich werde fortan nur noch von der Kamera beäugt. Ich hoffe, die Dame denkt nicht, etwas falsch gemacht zu haben.
Eine Trilogie kleiner Speisen wird jetzt gebracht. Es gibt geschmorten Gänseflügel mit einer leicht kaubedürftigen Konsistenz und anisartigem Aroma – gut – (6,5/10), eine ätherisch-pfeffrige Rolle aus pikanter gelber Paprika mit frischer Walnuss – absolut hervorragend – (8,5/10), sowie gedämpfte Makrele mit Bohnenpaste. Der kühle Fisch begeistert mit üppigem Schmelz, zarter Textur und dem typisch maritimen Aroma, das mich sehr an japanische Küche erinnert (9/10). Alles ist handwerklich sehr akkurat umgesetzt.
Es geht übersichtlich weiter. Char siu, gegrilltes Schweinefleisch, kommt in Form von zwei kleinen Würfeln vom Iberico-Schwein. Sie weisen appetitliche Röstspuren auf, sowie einen Glanz, der von einer süßlichen Marinade mit Honig und Zitronatzitrone herrührt. Das saftige und aromatische Fleisch ist ein qualitatives Highlight, aber nicht ganz auf dem Niveau wie die unvergessliche Version aus dem Sazenka in Tokio. (8/10)
Dann folgt eine kleine Suppe auf Basis einer Hühnerbrühe, deren weißpfeffriger Duft sofort den Platz einnimmt. Sie wird über einem Teelicht heißgehalten und beinhaltet ein mit Bohnenblättern umwickeltes Stück Aal, sowie Stücke von Schweinemagen und Fischblase. So ungewohnt diese Kombination klingt, umso überzeugender schmeckt sie. Die Süße des üppigen Aals, der leicht animalische Geschmack des Schweinsmagens und die wachsartige Textur der Schwimmblase passen auf rätselhafte Art hervorragend zusammen, vereint durch die enorme Hitze und präsente Schärfe der aromatischen Brühe. Die chinesische Küche bringt regelmäßig großartige Suppen hervor – diese ist ein weiteres Beispiel. Ganz stark. (9/10)
Der nächste Gang ersetzt den ursprünglichen Hauptgang. Präsentiert wird ein seltener Barsch aus der Hainan-Provinz. Zwei kleinere Stücke davon sind auf einem Püree angerichtet, in dem unter anderem geschredderte Gräten verarbeitet wurden – eine traditionelle Zubereitungsart in der chinesischen Küche. Die Gräten sind als solche nicht wahrnehmbar und verleihen dem Püree, das auch noch Garnelen, Schalotten und weitere Aromen beinhaltet, Volumen und Schmelz. Auf dem zarten, saftigen Fisch befindet sich noch eine dunkle Zubereitung aus vier Jahre lang fermentierten Rübchen, die würzig, aber nicht aufdringlich schmeckt. All das ist in einer leichten Sauce angerichtet, die geschmacklich an Sojasauce erinnert (oder sogar auf einer solchen basiert). Es ist insgesamt ein zurückhaltender, aber hervorragender Gang mit tadellosen Zutaten, exzellenten Proportionen und spannenden Zubereitungsmethoden. (8,5/10)
Es geht weiter mit zwei kleinen, bonbonförmigen Fingersnacks. Die unscheinbare Kleinigkeit besteht aus einer in getrocknetem Tofu eingewickelten Farce aus Garnelen, Schweinefleisch, Foie Gras und Frühlingszwiebeln. Der heiße Snack begeistert mit einer überraschenden Fruchtigkeit, die zwischen der herzhaften Farce aufblitzt und von einem Kumquatpüree, in welches man den Snack stippt, in den Vordergrund gerückt wird. Eine filigrane Schärfe untermalt die Kreation, die sich handwerklich und geschmacklich auf einem Niveau befindet, dem man nur in den allerbesten Restaurants begegnen kann. (8,9/10)
Ein Sorbet aus grünen Chaozhou-Oliven mit einer Sauce aus Oolong-Tee ist danach eine angenehme Erfrischung zwischendurch – herb, aber nicht sauer, fruchtig, aber nicht süß. Exzellent. (8,5/10)
Trotz des kalten Intermezzos, das in westlichen Küchen meistens die Desserts einleitet, geht es hier herzhaft weiter. Der nächste Gang stellt Hummer in den Mittelpunkt, den man hier überraschenderweise aus der Bretagne bezieht. Dessen gegartes Fleisch wurde zu einer Rolle komprimiert, die wiederum auf einer Art samtigem Eierstich angerichtet ist. Das erinnert an japanisches Chawanmushi, hat aber eine etwas festere Konsistenz. Eine grüne Sauce auf der Basis von Hühnerfond, Thai-Basilikum und Sesam bringt dazu farbliche Kontraste, erweitert das Gericht aromatisch aber nicht signifikant. Eine aufwändig geformte Dekoration aus Hummerkarkassen sorgt für Knusprigkeit und Krustentieraroma. Das ist sehr fein, aber – auf hohem Niveau – nicht allzu aufregend. (8/10)
Geschmorter Kohl mit »getrockneten« Garnelen wird dann etwas rustikaler. Die Garnelen, die durch die Trocknung ein intensives Krustentieraroma und eine etwas bissfestere Textur entwickelt haben, sind für sich betrachtet etwas »sperrig«, leben aber in Kombination mit dem süffigen, heißen Kohl auf. Eine leicht pikante Sauce belebt das Gericht weiter, bei dem es besonders wichtig ist, alle Bestandteile gleichzeitig zu probieren. Interessant und sehr gut. (7/10)
Das Thema Fisch und Kohl wird auch vom nächsten Gang aufgegriffen, auch die Farbwelt ist ähnlich. In diesem Schälchen findet man nun Coral grouper, eine Barschart, in Form einer gedämpften Teigtasche neben einem Stück Chinakohl. Ein heißer, viskoser, aromatisch milder Fischfond wurde dazu angegossen, der trotz seiner geschmacklichen Zurückhaltung eine pfeffrige Schärfe liefert. Die fischartig geformte Teigtasche – saftig und appetitlich maritim – erinnert mich an das herausragende Dim-Sum-Handwerk im The Eight in Macau. (8,5/10)
Das erste Dessert ist eine Panna cotta aus Büffelmilch, die mit Mandeln, Pistazien und Reis garniert ist. Darüber gießt man nach eigenem Ermessen eine dickflüssige, fruchtige Sauce aus Taro und Mandarine. Die stärkehaltige Tarofrucht ist auch die Grundlage eines dazu servierten warmen Gebäcks mit einer ebenfalls tarobasierten Füllung, die etwas an Marzipan erinnert, dabei aber weniger süß ist. Das ist uneingeschränkt hervorragend, und der leicht italienische Einschlag – mit der Panna cotta anstelle eines sonst üblicheren Soja- oder Tofu-Puddings – wirkt zeitgemäß, aber nicht aufgesetzt. (8/10)
Ganz hervorragend ist dann zum Abschluss auch noch etwas Obst. Erdbeere, Kiwi und Sternfrucht schmecken nach der schwülen, parfümierten Luft eines Gewächshauses. Qualitäten dieser Art kenne ich bisher nur aus Japan. (8/10)
Das Essen – mit etwas offenem Wein – schlägt dann mit umgerechnet ca. 255 Euro zubuche, fair für die gebotene Qualität.
Wenngleich man hier nicht von der ganz großen kulinarischen Oper sprechen kann, hat mich die Küche hier sehr beeindruckt. Der leichte, puristische Stil war eine bereichernde Abwechslung zu vielen anderen Restaurants, die sich etwas allgemeiner der kantonesischen Küche widmen, meist mit opulenteren Aromen, mehr Fleisch und viskoseren Saucen. Das letzte Mittagessen dieses Jahres war also ein Highlight. Und das Jahr ist auch noch nicht vorbei. Neuneinhalb Stunden habe ich noch.
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