Taian Table – Stiller berauscht
Ein Tresen-Restaurant in einer Hafenstadt, mit drei Michelin-Sternen, deutschem Küchenchef und dem Wort »Table« im Namen: Wo bin ich? Noch ein paar Tipps: Das Licht ist schummerig, die Atmosphäre gelöst und quirlig; zwanzig Gäste sitzen um den Tresen herum, weitere in kleinen »Nischen« hinter mir, und es gibt ein umfangreiches Degustationsmenü mit weltläufigen Zutaten. Richtig, ich bin im Taian Table in Shanghai.
Das Restaurant führt der gebürtige Hildesheimer Koch und Gastronom Stefan Stiller, der bereits seit zwanzig Jahren in China lebt. Dass man von ihm bei uns zulande nicht viel hört, ist wegen der Distanz und fehlender Berührungspunkte zwar erklärbar, aber eigentlich ein Unding. Immerhin ist Stiller der einzige deutsche Koch, der derzeit Restaurants mit insgesamt sechs Michelin-Sternen betreibt (neben dem Taian Table in Shanghai noch das gleichnamige, bereits zweifach besternte Taian Table in Guangzhou sowie, ebenfalls dort, das einfach besternte Stiller). Ob das überhaupt jemals ein Deutscher geschafft hat, dürfen gerne Andere recherchieren, aber mir fällt auf Anhieb niemand ein.
Heute Abend stehe ich endlich vor dem Eingang, den ich zunächst etwas suchen muss. Als Teil eines modernen Gewerbegebiets ist das ebenerdige Restaurant zwar nicht versteckt, aber der Eingang befindet sich hinter einem unauffälligen Windfang. Die richtungsweisende rote Michelin-Plakette finde ich erst dahinter.
Der Name Taian Table stammt aus der Gründungszeit des Restaurants, das im Jahr 2016 in der Taian Road eröffnete und wegen bürokratischer Themen schon wenige Monate später umziehen muss. Einen Michelin-Stern hat es da schon, der zweite folgt 2019, der dritte 2021.
Das Menü und die Weinkarte liegen inzwischen vor mir, und es ist nett, auf dieser Reise zur Abwechslung mal auf Deutsch ins Gespräch zu kommen. Stillers rechte Hand im Taian Table ist Küchenchef Christiaan Stoop.
Die Speisekarte ist spannend konzipiert, denn das achtgängige Basismenü gilt es, mit entweder zwei oder vier weiteren Speisen aus einem A-la-carte-Teil zu ergänzen. Dass das keine Option ist, sondern Konzept, verstehe ich erst auf Nachfrage. Mit zwei zusätzlichen Gängen kostet das Menü dann insgesamt entweder 2 588 CNY (ca. 337 €), mit vier zusätzlichen Gängen 2 888 CNY (ca. 376 €). Dieses Prinzip finde ich sehr ansprechend, da es beide Welten – die Überraschung eines kreativen Degustationsmenüs und den Spaß an einer A-la-carte-Auswahl – miteinander kombiniert. Bei Jan Hartwig in München (JAN) ist das ähnlich, wenngleich dort die zusätzliche A-la-carte-Auswahl nicht verpflichtend ist. Im Wesentlichen ist das Ganze natürlich nichts anderes als ein großes Menü mit einigen Optionen.
Irgendwann steht dann meine Auswahl – ich wähle die geringfügig kürzere Version –, und ein erstes Glas Wein steht auch schon auf dem Tisch. Es ist ein 2020er Chassagne-Montrachet »Les Pierres« von der Domaine Olivier Leflaive, der mit ca. 77 € pro Glas deutlich zu forsch berechnet ist, was mir aber erst hinterher auffällt – die ungewohnte Währung sei Dank. Aber ich bin nicht zum Erbsenzählen nach Shanghai geflogen und bestelle noch eine Flasche 2018er Pinot Noir »Herrenberg« des Weinguts Jean Stodden von der Ahr (ca. 302 €) aus der bemerkenswerten Auswahl deutscher Spätburgunder. In der gelösten Atmosphäre teile ich sie mit dem Team.
Erst kürzlich schrieb ich noch, dass ich keine Batterie an Amuse-Bouches vor einem längeren Menü benötige. Das bleibt zwar wahr, doch wenn sie so sind, wie die folgenden, bestätigen Ausnahmen die Regel.
Zuerst begeistert ein wohltuend heißes Pilzsüppchen mit Nussbutterschaum und einer Shiitake-Duxelles mit einer besonders appetitanregenden Balance zwischen Säure und Umami. Das ist so schlicht wie großartig. (9/10)
Als Trio folgen weitere Amuses. Ein mit Brokkoli, Passionsfruchtcrème und Pistazien gefüllter Algenzylinder bietet ein ungeahnt harmonisches Genusserlebnis. Die fruchtigen Aromen von Passionsfrucht und Pistazie passen hervorragend zusammen, während eine leichte Süße charmant die maritimen Aromen der Alge kontrastiert. Große Klasse. (9/10)
Ein mit Sardinenmousse gefüllter Choux mit Melone und Blüten setzt dann noch einen drauf und präsentiert sich am Gaumen als eine stark verdichtete Zusammenfassung von unbeschwertem mediterranem Genuss. Zum Träumen. (10/10)
Eine Tartelette mit üppigem Thunfischbauch, ausbalancierendem Kalbstatar und nussig-jodigem Kaviar bleibt auf diesem sagenhaften Niveau. Ein Hauch Bottarga-Abrieb und Perilla perfektionieren das Erlebnis zwischen säurebetontem Kalbstatar und maritimem Umami vom Thunfisch. Erneut ist das absolut grandios. (10/10)
Es folgt eine weitere Einstimmung. In einem eiförmigen Gefäß sind Chawanmushi, Krebsfleisch und ein transparenter Tomatenschaum geschichtet. Das Gericht spielt mit harmonischen Kontrasten von Texturen und Aromen, während ein feines Basilikumaroma, das sich später noch hinzugesellt, die mediterranen Anklänge fortsetzt, die in einigen Kreationen bereits aufblitzten. (10/10)
Dass derart perfektionierte Speisen die Amuse-Bouches ausmachen, hat Seltenheitswert und schraubt die Erwartungen für den Rest des Menüs nicht gerade herunter.
Der nächste Gang ist dann schon der erste aus dem A-la-carte-Teil. Mit Austern »La Bourriche No. 2«, Tapioka, Algen und Spargelsalat (celtuce) in einem kühlen, würzig abgeschmeckten Joghurtdressing auf Dashi-Basis erlebt man die perfekte Verkörperung eines Gerichts, das man mit einem Meeresspaziergang assoziiert. Brandung, Gischt, kurzes Untertauchen, Kühle, Salz, Wind und Jod, alles ist dabei und trifft mich so kraftvoll, als hätte ich so etwas zum ersten Mal probiert. (10/10)
Auch die nächste Kreation hat hier zwar niemand erfunden und erinnert mich sehr an eine vergleichbare Version von Joshua Skenes, als der noch im damals dreifach besternten Saison in San Francisco kochte. Ein säuerliches, mariniertes Stück Sauerteigbrot mit Seeigel aus der Koreabucht ist abermals großartig. Eine dünne Apfelscheibe auf dem Seeigel unterstreicht die Säure vielleicht eine Nuance zu betont, um direkt ins Herz zu treffen, aber das souveräne Weltklasseniveau wird hier nicht verlassen. (9/10)
Die Atmosphäre ist derweil ähnlich lebhaft wie an einer gut besuchten, trendigen Bar. Man könnte hier fast Gefahr laufen, sich ganz der Atmosphäre hinzugeben und die Gerichte beiläufig zu verspeisen.
Aber das ist kaum möglich. Für den folgenden Gang wurde Gelbschwanzmakrele mehrfach, unter anderem mit Yuzu, mariniert und dann in einer grünen Rhabarber-Vinaigrette mit Kombuöl angerichtet. Dünne Scheiben der Pflanze Wasserreis (water bamboo) bedecken das Sashimi wie Fischschuppen. Das Gericht lebt von einer kühlen, schlanken Säure; eine milde Süße, die von der saftigen, exotischen Pflanze ausgeht, steuert behutsam, aber spannungsvoll dagegen. Texturen, Temperaturen und Spitzenprodukte rauschen hier auf höchstem Niveau an einem vorbei. Spätestens jetzt dürfte jeder dem Essen wieder volle Aufmerksamkeit schenken. (10/10)
Beim nächsten Gang fallen Seeigel und ein Basilikumschaum als erstes ins Auge. Sie sind auf einer Art Tintenfisch-Salat mit mariniertem Brot und mediterranen Gemüsen angerichtet, ganz im Stil einer Panzanella, dem italienischen Brotsalat. In Summe wird man hier mit einem betont italienisch-mediterranen Geschmacksbild überrascht, bei dem Tomate und Basilikum die »Kopfnote« und der jodigen Seeigel die nachhallende »Basisnote« ausmachen. Eine weitere kleine Sensation. (10/10)
Etwas ungläubig ob der gebotenen Genüsse, sehe ich der nächsten Kreation mit Spannung entgegen, während ich mich immer wieder vom buten Treiben mitreißen lasse. Das Tempo stimmt auch, der Service ist humorvoll und souverän, die Musik lässig. Nur etwas stickig ist es inzwischen geworden – weniger mein Fall.
Es folgt Kaisergranat aus Neuseeland, eine Herkunft, der man in Europa nicht so oft auf dem Teller begegnet. Das perfekt gegarte, ausgelöste Krustentier ist hier in einer aufgeschäumten, mit Kaffernlimette abgeschmeckten Vin-Jaune-Sauce angerichtet, die eine süffige Säure zum Leitmotiv des Gerichts erhebt. Ganz unten auf dem Teller sorgt eine Brunoise von fruchtig süßer Karotte, noch süßeren Erbsen und herzhaftem Speck für Knusperspaß und Kontraste. Der Teller spielt reizvoll und auf höchstem Niveau mit Exotik und Klassik. (9/10)
Zehn Stunden sous-vide gegarter und anschließend gegrillter Oktopus präsentiert sich beim nächsten Teller mit wundervollem Schmelz; die legosteinartigen, exponierten Saugnäpfe bereiten am Gaumen zusätzlichen Spaß. Drei mundgerechte Teile des Mollusken sind zusammen mit maritimen, luftig-knusprigen Algenchips, einer mit Sake abgeschmeckten Misosauce und einem »Uni-sotto« serviert, ein Wortspiel, das sich auf eine risottoähnliche Zubereitung aus Tintenfisch, Seeigel (uni) und Algen bezieht. Das ist alles zweifellos hervorragend, aber hier hat man es zum ersten Mal im Menü mit einem etwas geerdeterem Genuss ohne allzu große Überraschungen zu tun. (8/10)
Aber dann: Orientalisch, exotisch und extrovertiert tritt ein Gang mit gebratener Foie Gras auf. Eine große Tranche der Leber wurde goldbraun gebraten, auf einer indischen Dal Makhani-Linsenzubereitung platziert und mit einer knusprigen Mischung aus gerösteten Pistazien und Puffreis getoppt. All das ist von einem Saucen-Duo umgeben. Eine leicht schaumige Curry-Sauce mit hausgemachtem Vadouvan-Gewürz unterstreicht bereits mit ihrem Duft die warme Exotik des Gerichts, während ein aromatisch konzentrierter Hühnerjus das Ganze klassisch erdet. Pflaume gelangt als frisches Element auch zum Einsatz. Die Foie Gras ist qualitativ herausragend, mit buttrigem Schmelz und nussig-karamellartigen Aromen. Die Herausforderung, dass ein solches Gericht nicht überfrachtet wirkt, meistert man hier perfekt. Trotz aller Üppigkeit wirkt es frisch und leicht, und selbst der indische Einschlag wirkt authentisch. Ein besseres Gericht mit gebratener Foie Gras habe ich noch nicht gegessen. (10/10)
Der kontinuierliche Nachschub an großartigen Gerichten ist nach wie vor kaum zu glauben. So gibt es als nächstes Steinbutt aus der Shandong-Provinz, angerichtet als dicke Tranche in einem aufgeschäumten Bouillabaisse-Sud mit Chorizo. Dass die Saucen hier alle auf einem Weltklasseniveau sind, hält man inzwischen längst für selbstverständlich. Aber auch hier hat man mit der charmant pikanten Chorizo wieder einen »Twist«, ein Element, das alles konzeptionell etwas auflockert. Zucchini, ein winziger Salat mit Sardellen und Oliven sowie, in dem Sud versteckt, Spinat aus Okinawa bringen teils mediterrane, teils grüne Noten ins Spiel. Erneut makellos, köstlich und kurzweilig. (9/10)
Und dann darf man einmal kurz verschnaufen, nicht den Genuss, aber die Herzhaftigkeit betreffend. Ein Sake-Sorbet mit Kiwi und angegossenem Nigori-Sake kühlt Gaumen und Nerven – und ist nebenbei noch eines der stimmigsten, besten Sorbets, die ich je probiert habe. Die Kiwi ist charmant süß, ohne jegliche Bitterkeit, die der Frucht oft innewohnt; vermutlich kommt sie aus Japan, wo man ihr solche Flausen ausgetrieben hat. Ein bananenartiges Aroma kommt vom Sake; es passt wunderbar. (9/10)
Der letzte herzhafte Gang setzt ein über Holzkohle gegrilltes Stück Wagyu-Sirloin mit einer üppigen Nocke Kaviar, Sauerkraut und Sauerkrautschaum in Szene. Dazu lehnen noch drei Tranchen Räucheraal (unagi) am Fleisch, und eine klassische Demiglace wurde zum Schluss noch angegossen. Mit dem Sauerkraut greift die Küche gewitzt die Herkunft des Patrons auf. Es ist ein Gericht, das stilistisch auch gut in die Küche von Sven Elverfeld (Aqua) passen könnte, man kann aber nur feststellen, dass man hier produktseitig in einer anderen Liga spielt. Der üppige, maritime Schmelz des Aals geht Hand in Hand mit der buttrigen Konsistenz des Ausnahme-Rinds, und das Sauerkraut ergänzt mit seiner Säure und senfartigem Aroma die Komposition perfekt. Der Gang ist in jeder Hinsicht grandios und wird mir zweifellos lange in Erinnerung bleiben. (10/10)
Dass es dann noch auf diesem Niveau weitergehen soll, ist weder glaubhaft noch erforderlich. Doch es kommt, wie es kommt. Ein Törtchen mit gebrannter Brioche, Brioche-Parfait, Piña-Colada-Schaum, Kokoseis und mit Rum karamellisierter Ananas ist eines dieser perfekten karibischen Desserts, die nach lauer Tropenluft, leiser Gitarre und dem Duft von Rum schmecken. (10/10)
Ein Dessert um Birne, Fourme d’Ambert und Dulce de Leche in unterschiedlichen Zubereitungen begeisert danach fast genauso (9/10), und ein Quartett von Petits-Fours – mit Canelé, Schokolade-Kirsch- sowie Passionsfrucht-Kokos-Pralinen und einem kleinen Blutorangen-Baba – ist vom ersten bis zum letzten Bissen Stoff aus der süßen Abteilung des Schlaraffenlands. Nicht eine einzige Kreation ist bloß »hervorragend«, oder »sehr gut«, alle sind kleine Meisterwerke (10/10).
Es gibt noch weitere Pralinen, aber die möchte ich jetzt eigentlich nur noch beiläufig essen. Ich brauche keine weiteren Wunderwerke, muss von nichts mehr überzeugt werden. Aber es will mir nicht gelingen. Wer im Taian Table etwas Unauffälliges essen möchte, hat nur eine Option: das Restaurant zu verlassen. Und das tue ich auch gleich.
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