Jade Dragon – feudal und feurig
Es ist kurz vor neun am letzten Mittwochmorgen des ausklingenden Jahres. Gerade sind viele Dinge die letzten des Jahres, nur eines glücklicherweise noch nicht: Essen.
Nach meinen turbulenten ersten nicht einmal zweiundsiebzig Stunden in Asien, die bereits vier Restaurantbesuche – davon drei mit drei Michelin-Sternen – und einen Tagesausflug nach Taipeh beinhalten, geht es heute Morgen nach Macau. Die Fähre dorthin ist praktischerweise fußläufig von meinem Hotel zu erreichen.
Die bizarre Sonderverwaltungszone der Volksrepublik China hat sich ganz dem legalen Glücksspiel verschrieben. Absurd große Einkaufszentren mit Hotels, Casinos und Repliken verschiedenster, meist europäischer, Wahrzeichen prägen die Kulisse. Nach einer kulinarisch durchaus ergiebigen Stippvisite vor vielen Jahren hätte mich eigentlich nie wieder etwas hierher geführt. Aber der Guide Michelin ruft, und zwar mit seiner Aufwertung des Restaurants Jade Dragon auf drei Sterne.
Nach einer Stunde Fahrt mit der Fähre, einem in Ermangelung an Fußwegen vergeblichen Versuch, mein Ziel vor Ort mit einem Spaziergang zu erreichen und einer dann doch erforderlichen Taxifahrt erreiche ich das Einkaufszentrum City of Dreams. Das Skurrilste an diesem gesamten Ort ist, dass er verwaist ist. Niemand ist auf den Straßen, niemand in den Gebäuden. Es fühlt sich an, als ich hätte ich eine Katastrophe verpasst.
Mutterseelenallein spaziere ich durch die Etagen und Flure der Shopping Mall auf der Suche nach dem Restaurant. Ausgeschildert war es schon irgendwo, ganz grob muss die Richtung also stimmen.
Irgendwann finde ich es, dann ist es nicht mehr zu übersehen. Ein großzügig gestalteter Eingangsbereich mit Empfangstresen und opulenten Raumtrennern mit Holzverzierungen signalisiert, dass man hier richtig ist. Ich bin noch etwas zu früh und nehme ein paar Minuten in einem Wartebereich Platz, der so groß ist wie ein Fußballfeld.
Als ich endlich das Restaurant betrete, werde ich sehr freundlich und englischsprachig empfangen. Es geht vorbei an einer offenen Küche mit offenem Feuer, hängenden, knusprigen Enten und geheimnisvoll gefüllten Gefäßen, dann hinein in den Speisesaal.
Der ist äußerst großzügig ausgelegt und hochwertig mit chinesischen Gestaltungselementen eingerichtet. Die Tische sind alle rund, groß und diskret voneinander entfernt; deckenhohe Raumtrenner, die teilweise auch als Servicestationen dienen, prägen die durchaus imposante Kulisse. Trotz einigem an Kitsch, fühlt man sich hier sofort wohl.
Auch der Tisch ist elegant eingedeckt. Hierfür setzt man ganz auf französisches Handwerk: Platzteller von Bernardaud, Essstäbchen von Christofle, Gläser und ein Glasdrachen von Lalique. Ich würde sagen, es kann losgehen.
Es gibt ein kühles Willkommensgetränk mit Rose; ich wähle dazu auch noch ein Glas Pol Roger (198 MOP, ca. 23 €) aus der offenen Karte, die nicht viele – und auch keine überragenden –, aber ausreichend gute Optionen aufführt.
Der Auswahlprozess des Essens gestaltet sich dann als besonders kurzweilig. Die sehr gut Englisch sprechende Dame aus dem Service geht diesbezüglich in einen Dialog mit mir, in dem einige Vorschläge, Präferenzen, eventuelle Abneigungen, Mengen usw. besprochen werden – alles, ohne die Speisekarte dafür aufgeschlagen zu haben. Einige Dinge bleiben dann noch als Überraschung offen, es ist in Summe ein sehr erfrischender Prozess. Das letzte Mal, dass ich so viel Spaß an einer Essensbestellung hatte, war im La Vague d’Or in Saint-Tropez, wo der legendäre Restaurantleiter Thierry di Tullio die Gerichte so charmant und persönlich mit einem besprochen hat, als bereitete er sie selbst für einen zu; es war herzergreifend.
Kaum etwas ist gastfreundlicher als die Frage, wonach einem beim Essen der Sinn steht. Das ist natürlich schwierig, wenn man die Speisekarte und Küche nicht kennt, aber mit etwas Führung kann so etwas wunderbar funktionieren, Vertrauen und Neugier vorausgesetzt.
Hier ist das jetzt aber eher Zufall als Konzept. Wer möchte, schaut einfach in die Speisekarte, die, wie bei chinesischen Restaurants üblich, in Produktgruppen unterteilt ist, von Dim Sum ab umgerechnet 4,80 € pro Stück, über Spezialitäten mit Geflügel, Reis, Rind, Fisch, Abalone usw. bis zu einem Gericht mit Fischblase für umgerechnet 1 856 € (sic!) für ein 150-Gramm-Exemplar – größere auf Anfrage und Vorbestellung. Das dürfte das teuerste Gericht sein, das ich je auf einer Speisekarte gesehen habe. Es gibt auch feste Menüs zwischen 100 € und 300 €. Was mein Essen kosten wird, weiß ich noch nicht, aber man wird mir schon keine Fischblase unterschieben.
Zum Start gibt es eine Einstimmung in Form eines Teigbällchens mit Fangschreckenkrebs und Kumquat-Gelee – warm, knusprig, saftig, sehr gut. (7,5/10)
Längst stehen auch schon die Saucen auf dem Tisch, wie bei Restaurants mit kantonesischer Küche üblich. Die pikant-würzige XO-Sauce und Douchi aus fermentierten Sojabohnen sind hervorragend, haben mir im Forum neulich sogar noch eine Nuance besser gefallen.
Mit drei Dim Sum, deren makelloses Handwerk man mühelos erkennt, geht es weiter. Es gibt Xiaolongbao mit Rosshaarkrabbe (Kegani), ein mit Schnittlauch grün gefärbtes Teigbällchen mit Hummer und Garnele, sowie eine gebackene Kreation mit schwarzem Pfeffer und Wagyu. Die Petitessen sind heiß, saftig, süffig und dabei trotz des jeweiligen Umami-Kicks elegant, vor allem wegen der exquisiten Zutaten. Das weckt Erinnerungen an die phänomenalen Dim Sum aus dem The Eight, ganz hier in der Nähe. Die Dim Sum werden später mit ca. 22 € auf der Rechnung stehen. (8,9/10)
Der nächste Gang ist eine heiße Suppe (»Hot and Sour Soup«, ca. 41 €), ein Klassiker der kantonesischen Küche, der in diversen Varianten existiert. Hier bildet ein dichter Hühnerfond die Basis, weitere Zutaten sind verschiedene edle Pilze, Krebsfleisch und Fischblase, die für noch mehr Bindung sorgt. Eine appetitliche, von der Verwendung von Essig herrührende, Säure steht geschmacklich im Vordergrund und wird elegant durch die milde Süße des Krebsfleischs ausbalanciert. Ein flaches »Band« aus Ei, das direkt in der Suppe gekocht wurde, integriert sich geschmacklich auf harmonische Weise und bringt noch mehr Tiefe ins Spiel, während weißer Pfeffer für Schärfe sorgt. Eine derart hervorragende Suppe habe ich selten gegessen. Am Ende kleben meine Lippen, die Nase läuft, und es ist großartig, etwas zu essen, das »etwas mit einem macht«. (9/10)
Zeit für ein neues Glas Wein. Die Sommelière bietet mir noch einen Wein außerhalb der Karte an, einen 2017er Pinot Noir »Réserve« vom österreichischen Weingut Bründlmayer (ca. 35 €), ein überraschender, aber guter Vorschlag.
Anschließend folgen drei kleine Fleischspezialitäten (ca. 38 €). Es gibt gegrillten und mit Honig glasierten Nacken vom Iberico-Schwein – wunderbar zart, süßlich-würzig und saftig –, über Lychee-Holz gegrillte, sehr saftige Gans mit knusprig ausgebackener Haut und Pflaumensauce, sowie knuspriges Ferkel auf einer Art süßlichem Kuchen mit Kaviar-Topping. Alle Kleinigkeiten sind qualitativ und handwerklich hervorragend. Geschmacklich wird hier eher ein süßlicher Grundgeschmack bedient als ein herzhafter, was mit diesen überschaubaren Portionen optimal funktioniert. So simpel der Teller erscheinen mag, sind derartige Zubereitungen in Europa so gut wie nicht zu finden. (8,5/10)
Es bleibt noch einmal fleischig. Wagyu »A4« aus der japanischen Kumamoto-Präfektur präsentiert man beim nächsten Gericht »flambé style« zusammen mit Karotten und Lauch in einem Päckchen mit Alufolie (ca. 70 €). Als das Gericht den Tisch erreicht, brennen drumherum noch kleine Flammen, die der Service durch das auseinanderfalten der Folie löscht. Das buttrige Fleisch ist optimal gegart, die Gemüse dazu, unter anderem eine französische Karotte, sehr aromatisch. Das Gericht ist eine hervorragende Produktschau – man könnte auch noch hinzufügen: aber nicht mehr. Gleichwohl genieße ich jeden Bissen. (8/10)
Was das Zurschaustellen von Produkten betrifft, bietet auch der nächste Gang Grund zum Staunen. Es gibt südafrikanische Abalone, die sich von den sonst allgegenwärtigeren japanischen Exemplaren deutlich unterscheidet, angefangen bei ihrer kleineren, muschelartigen Form, die an Conchiglie-Pasta erinnert. Das Schneckentier wurde gekocht, ist dadurch überraschend zart und dient hier als »Einlage« in einer dicklichen Suppe auf Basis von gelber Hainan-Chili. Die sorgt für ein extravagantes, blumig-fruchtiges Aroma, das exzellent zur Abalone passt. Ein grünes, spargelartiges Gemüse sorgt zwischendurch für texturelle Abwechslung und Frische, weißer Pfeffer und eine weitere, rote Chilisorte bieten unterschiedliche Schärfegrade und Aromen. Trotz der potenziell scharfen Ingredienzen übertreibt es das Gericht damit nicht, sondern ist elegant pikant, appetitlich heiß und fruchtig-maritim. Ich kann mich kaum von dem Teller lösen, so großartig schmeckt das. (10/10)
Eine Crême brûlée aus Mandelmilch mit Honig, marokkanischer Dattel und Vogelnest wird in einer Teekanne von unten mittels Trockeneis kaltgehalten. Das Mandelaroma und die charakteristische Knusperschicht gefallen mir gut, das Vogelnest als solches ist kaum identifizierbar und insoweit überflüssig. Es ist in Summe eine sehr wohlschmeckende und handwerklich makellos umgesetzt Crême brûlée. (7,5/10)
Einige Petit-fours danach sind allerdings nicht weiter erwähnenswert. (6,9/10)
Insgesamt war das ein ausgezeichnetes Mittagessen, welches mit hervorragendem Handwerk und raren Spezialitäten genauso begeistert hat wie mit der luxuriösen und freundlichen Atmosphäre. Am liebsten hätte ich mich durch die gesamte Speisekarte probiert, und ich habe keinen Zweifel, dass man hier unzählige grandiose Gerichte finden kann.
Und jetzt habe ich eine Fähre zu kriegen, mein Abendessen ist bestimmt schon irgendwo in der Mache. Wo genau, weiß ich gerade gar nicht.
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