Ta Vie – das Leben, eine Reise
Küchenchef Hideaki Sato kann bereits auf eine eindrucksvolle Karriere zurückblicken. Der 47-jährige Japaner versteht dabei vor allem denjenigen Moment als Wendepunkt seiner Karriere, als er sich – kulinarisch französisch ausgebildet – zum ersten Mal professionell der japanischen Küche zuwendet. Er tut dies unter niemand geringerem als Seiji Yamamoto aus dem Tokioter Drei-Sterne-Restaurant RyuGin. Dort kocht Sato drei Jahre lang, bevor er den (inzwischen geschlossenen) RyuGin-Ableger Tenku Ryugin in Hongkong leitet und zu zwei Michelin-Sternen führt. Sato bleibt in Hongkong und eröffnet 2015 sein eigenes Restaurant: Ta Vie. Im Jahr 2023 wird es mit drei Michelin-Sternen ausgezeichnet. »Ta Vie« bedeutet »dein Leben« auf Französisch und »Reise«, wenn es ein Japaner sagt. Das könnte kaum besser zu meinem Besuch passen.
Google Maps führt mich auf meinem kurzen Spaziergang zu einem Hotel, dem The Pottinger. Offenbar befindet sich das Restaurant hier drin, was mir jemand an der Rezeption dann auch bestätigt und mir den Weg zum Fahrstuhl zeigt.
Nur eine Etage weiter oben angekommen, steuere ich auf einen kleinen Empfangstresen zu. Eine rote Blumendekoration passt farblich zur Weihnachtssaison und zur Plakette mit den drei Michelin-Sternen.
Das Restaurant selbst überrascht mit einem etwas unübersichtlichen Grundriss und viel dunklem Holz. Gleich nach einem schmalen Flur folgen an einer Wand ein paar »Nischen«, wo sich auch mein Tisch befindet; weiter hinten schließt sich ein etwas größerer Bereich mit zusätzlichen Plätzen an, zwischen denen Raumtrenner wie Paravents, dekorative Säulen und Zimmerpalmen für Privatsphäre sorgen. Die kolonialen Stilelemente sind Inspirationen von Satos Reisen nach Thailand, wie er mir später erzählen wird.
Am dafür schlicht, französisch-elegant eingedeckten Tisch finde ich das heutige Menü und eine kleine gefaltete Pappkarte in Kartenspieloptik mit einigen Erläuterungen zur hausgemachten Butter und dem ebenfalls hausgemachten Brot. Dies wird aus mit Reiskleie fermentiertem Mehl hergestellt, ein Vorgang, den Japaner Nukazuke nennen.
Das Brot, die erwähnte Butter und noch etwas Frischkäse mit Olivenöl gelangen tatsächlich auch als erstes auf den Tisch. Das warme, geviertelte Brötchen ist wirklich wunderbar; hausgemachten Buttern kann ich dagegen selten etwas abgewinnen, vor allem, wenn sie weiß und schaumig sind. Da stippe ich das Brot lieber am Frischkäse vorbei ins Olivenöl.
Das Menü selbst ist laut Überschrift der Feiertagssaison gewidmet und »inspiriert von einem Trip in die Champagne«. Die Zutaten, die ich kursorisch überfliege, klingen mit Delikatessen wie Hokkaido-Seeigel, verschiedenen japanischen Muscheln, bretonischem Hummer, Wagyu-Rind und vielem mehr zunächst zwar nicht besonders champenois, aber mindestens genauso verführerisch. Was das alles kostet, steht, wie so oft in Asien, nirgends – vermutlich stand es in irgendeiner E-Mail im Verlauf des Reservierungsprozesses. Da musste ich auch schon 1 500 HK$ (ca. 175 €) anzahlen. (Das Menü wird später mit nicht unerheblichen ca. 460 € auf der Rechnung stehen.)
Ich beginne getränkeseitig mit einem Glas Champagner (2014 RSRV Blanc de Noirs, ca. 42 €) und freue mich auf die ersten Speisen.
Dabei finde ich es sehr erfrischend, wenn ein Menü, wie hier, einfach mit dem ersten Gang losgeht. Niemand benötigt eine Batterie sättigender Amuse-Bouches.
Hier geht es los mit einer Art Kuchen vom Hokkaido-Seeigel. Auf einem dünnen Tortenboden ist die goldgelbe maritime Köstlichkeit abwechselnd mit einem Püree von in brauner Butter confierten Karotten geschichtet. Diese passen mit ihrer würzigen Süße perfekt zur jodigen Nussigkeit des Seeigels. Als erfrischenden Gegenpol gibt es eine mit Schnittlauch gewürzte Sauce aus Weißwein, Schalotten und Jakobsmuschel. »Japan trifft Frankreich«, darf man feststellen, ist schon eine himmlische Kombination. (9/10)
Für gebranntes Lauch mit Kaviar und einer cremigen Vinaigrette wurden Lauch aus der japanischen Präfektur Yamanashi sowie französischer Kaviar verwendet. Auch hier ergibt die Mariage einen Gang von Weltklasse, mit mildem, nussigem Kaviar, cremigem, sehr aromatischem Lauch und einem kontrastierenden Biss der Croutons. Das Gericht kann dem Klassiker aus dem Epicure mühelos das Wasser reichen. Derweil habe ich dazu immer noch, und nach wie vor passend, den charmanten »Hafenbecken-Geschmack« des Seeigels am Gaumen. (9/10)
Und dann wird es richtig außergewöhnlich. Eine Scheibe Algen-Terrine mit Gurke und Sellerie ist beim nächsten Gang auf und in einer Archenmuschel platziert. Die kühle Kreation duftet elegant maritim, die Terrine schmeckt frisch und »klar«, die bissfeste, qualitativ herausragende Muschel ruft Erinnerungen an die besten japanischen Restaurants hervor. Eine appetitlich säurebetonte Schalotten-Vinaigrette schlägt dann wieder die Brücke zur französischen Küche. Es ist eine der eindringlichsten Kombinationen von japanischer und französischer Küche, die ich je probiert habe, eine Kombination, die prinzipiell nichts anderes kann als Großartiges hervorzubringen. (10/10)
Auch der nächste Gang bewegt sich in dieser Sphäre. Bereits die Auflistung der Zutaten im Menü verrät, um welche Aromen es hier geht. Es gibt Shirako (Fischmilch), weißen Albatrüffel und Blumenkohl. Wem die Zutaten geläufig sind, kann sich ausmalen, dass die mild-salzige Cremigkeit der Fischmilch, die intensiven, moschus- und knoblauchartigen Aromen des weißen Trüffels und die nussige, süße Erdigkeit des Blumenkohls eine bestechende Kombination sein müssen. So kommt es dann auch. Fischmilch und Trüffeln erzeugen eine Art Umami-Synergie, die für Komplexität und Tiefe sorgt, Trüffeln und Blumenkohl wiederum teilen sich die nussig-erdigen Aromen, und Fischmilch und Blumenkohl spielen durch ihre kontrastierenden Texturen spannungsvoll miteinander. Diese gesamte Kombination, die komponiert sein muss wie ein gutes Parfüm, zieht mich in den Bann – und ist in höchstem Maße befriedigend. (10/10)
Der Zufall will es, dass das von mir dazu gewählte Glas 2020er Château de Beaucastel blanc (ca. 30 €) mit seiner cremigen Vollmundigkeit ganz hervorragend dazu passt.
In angenehmem Tempo, aber in etwas bedächtiger Atmosphäre nimmt das fabelhafte Mahl seinen Lauf. Das folgende Gericht rankt um bretonischen, in der Pfanne gebratenen Hummer. Das Krustentier, dessen makellose Garung und Qualität sich schon optisch ankündigt, ist mit japanischer Wellhornschnecke, Klettenwurzel und Violettem Rötelritterling (Pied bleu) kombiniert. Dazu gießt der Küchenchef persönlich eine samtige Beurre blanc aus der Schale einer Wellhornschnecke an und platziert sie neben das Gericht zum Nachnehmen. Insgesamt ergibt sich durch die Balance von süßen und maritimen Aromen, der kontrastierenden Erdigkeit der Gemüse und der Texturvielfalt ein sehr wohlschmeckendes, komplexes und kurzweiliges Gericht. Und die Sauce, mit ihrer schlanken, »französischen« Säure, ist schlicht himmlisch. Zum Glück ist gerade niemand zugegen, um mir etwas davon nachzuschenken – ich mache so etwas immer viel lieber selbst und lasse auch keinen Tropfen übrig. (10/10)
Mit Kagoshima-Rind wählt Küchenchef Sato eine wenig überraschende, dafür aber überragende Zutat für den Fleischgang. Das Stück, das durch seine starke Marmorierung glänzt wie ein Diamant, wird vor dem Servieren auf einem kleinen Tischgrill präsentiert. Auf dem Teller landet es ganz pur, lediglich mit einer Arima-Pfeffer-Sauce überglänzt, dazu gibt es einige süße und bittere Gemüse mit Wintertrüffeln. Das Fleisch selbst präsentiert sich mit all seinen außergewöhnlichen Genussaspekten, das heißt am Gaumen schmelzend wie Butter, üppig und fettreich und mit karamellartig-süßen und nussigen Aromen. Die Pfeffersauce, die das Fleisch nahezu unsichtbar umhüllt, liefert dazu begeisternde, blumig-ätherische Kontraste. Jede weitere Sauce auf dem Teller wäre zu viel, nur eine kleine Nocke Rote-Bete-Senf steht noch – wohl bewusst weiter weg platziert – als unterstützende Würzung zur Verfügung. Die ansprechend knackigen Gemüse lockern den sehr reichhaltigen Fleischgenuss mit etwas Frische auf. Weltklasse. (9/10)
Ein kühler, blumiger Tee in einem kleinen Glasschälchen erdet die Geschmacksnerven, kann aber letztlich auch nicht anders als zu begeistern, bevor es mit dem ersten Dessert weitergeht.
In einer zerbrechlichen Sphäre präsentiert sich ein leichter, kühler Schaum von Rose und Erdbeere, Letztere wurde auch noch als samtiges Coulis aufgetragen. Die Rose bringt dabei zunächst, wie bei einer Kopfnote, eine florale Eleganz ins Spiel, während die Erdbeere sich als süße und saftige Herznote offenbart. Zusammen ergibt das ein harmonisches, sehr sinnliches Ensemble, das an einen Duft erinnert, nachdem man sich gerne noch einmal umdreht. Traumhaft gut. (10/10)
Dessert Nummer zwei kombiniert japanische Birne mit Frischkäse-Eis, Brioche und einer mit Bergamotte aromatisierten Sauce. Texturen und Aromen wurden auch hier wunderbar kombiniert. Die Birne, mit ihrer saftigen Konsistenz und delikater Süße, passt hervorragend zum üppig-cremigen Eis; die Bergamotte erinnert geschmacklich an Earl-Grey-Tee – eine Assoziation, die rein zufällig auch noch vortrefflich in diese Räumlichkeiten passt. Das Spiel mit der Rose, die an einen Baba erinnernde Brioche, die Zitrusnoten, all das macht auch dieses elaborierte und harmonische Dessert zu einem unscheinbaren, kleinen Meisterwerk. (10/10)
Das Menü geht, wie es gekommen ist: ohne großes Aufsehen. Keine Batterie an Petit-fours, keine Pralinen, stattdessen ein kleines Schälchen Panna cotta zum Auslöffeln. Die kühle, stichfeste Creme wurde mit Blättern von der Pandan-Palme aromatisiert, was nussige, leicht grasige, entfernt an Vanille und Kokos erinnernde Aromen offenbart (9/10). Auch das ist großartig – geschmacklich und in seiner Schlichtheit –, und dem ist auch nichts mehr hinzuzufügen.
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