Tohru in der Schreiberei – kulinarische Haikus
Ich muss ein bisschen an Haikus denken, als ich die Speisekarte lese. Die kleinen japanischen Gedichte bestehen nur aus wenigen Silben, haben meist einen sehr plastischen Gegenwartsbezug und regen zum Nachdenken an. Das Menü weist zwar keinerlei prosaische Besonderheiten auf, dennoch lösen die Gerichte, die alle mit einer verheißungsvollen Hauptzutat übertitelt sind, große Vorfreude in mir aus. Ozaki-Wagyu, Hamachi, Kalbsbries, XO-Sauce, Beurre Blanc, Sauce Riche … Man kann meist schon vom Querlesen einer Speisekarte erahnen, was einen im besten Fall erwartet.
Ich habe auch schon wieder Appetit, und das, obwohl ich gefühlt schon den halben Tag hier in der Schreiberei verbracht habe. Am Mittag habe ich in dem brasserieähnlichen Konzept im Erdgeschoss – bei Austern, Schweinebauch und frittiertem Blumenkohl – schon genossen, geschwärmt und mir gewünscht, in Deutschland gäbe es mehr solcher unkomplizierten Lokale mit Anspruch.
Und jetzt am Abend, im Obergeschoss des jahrhundertealten Gebäudes, sitzt es sich noch bequemer. Hochwertige Materialien und Utensilien kontrastieren die alten Gemäuer, warmes Licht sorgt für eine stimmungsvolle Atmosphäre, und das Personal ist nahbar, freundlich und angenehm unkompliziert. Letzteres trifft wie eh und je auch auf Küchenchef Tohru Nakamura zu, wovon sich jeder Gast vor dem Essen bei einem kurzen Austausch in der Küche selbst überzeugen kann.
Vom Mittagessen unten im Restaurant empfängt mich hier oben noch der Rest eines 2017er Bourgonge Aligoté von der Domaine Jean-Claude Ramonet (205 €). Und dann geht die Reise auch schon los. Im Menü, das mit 280 € bepreist ist, sind alle Speisen gleichberechtigt aufgeführt. Zwischen etwaigen Einstimmungen und weiteren Gängen wird nicht unterschieden; das ist spätestens dann nachvollziehbar, wenn es so ausgeklügelt beginnt wie mit der Tarbouriech-Auster in zwei Varianten.
Auf dem umgeklappten Deckel der südfranzösischen Ausnahme-Muschel findet man ein Rettich-Röllchen mit in Sojasauce gebeizter und zerkleinerter Auster, dazu Rettichcreme und etwas Perilla. Der kleine Happen bietet Schmelz, Säure und Maritimes in perfekter Balance.
In der Austernschale darunter gibt es ein etwas frei interpretiertes Chawanmushi, das mit einem Austern-Pil-Pil kombiniert wurde. Letzteres besteht neben Austern-Abschnitten aus einer bodenständig-süffigen Kombination von Pinienkernen, Knoblauch, Schalotten und Schnittlauch. Das alles ergibt ein Wohlfühlgericht auf Weltklasseniveau, bei dem der seltene Drahtseilakt, dass eine verarbeitete Auster noch mehr Genuss bietet als eine frische, bravourös gelingt. Und dass man mit dem ersten Gericht auch schon etwas Warmes am Gaumen hat, ist befreiend unkonventionell und sehr angenehm. (9/10)
Es folgt eine Tartelette aus fein-knusprigem Reisteig, die laut Menü ein Tatar von gebeiztem japanischem Ozaki-Wagyu zum Leitmotiv erhebt. Das rare Rind des renommierten Züchters trägt seinen buttrigen Schmelz eindrucksvoll zur Schau, vor allem in Kombination mit einer Räucheraal-Rillette, die ein leichtes Grillaroma transportiert. Der wahre Star dieses Häppchens ist aber, eher unerwartet, eine Feige. Die Frucht, die man selten in erinnerungswürdiger Qualität erlebt, verzaubert hier mit einem blumigen, dichten, ausufernden Aroma. Als Freund feiner Düfte erinnert mich das an den Feigenduft Philosykos von Diptyque. Es gibt hier noch mehr zu entdecken, z. B. knusprig frittiertes Kapernblatt, verschiedene Kräuter, Tupfen mit Wasabi-Creme – fast schon zu viel, aber den Gedanken verwirft man schnell anlässlich des mundfüllend wohlschmeckenden Genusses und der faszinierenden Qualitäten. (9/10)
Da hilft schon regelrecht eine kurze »Begeisterungspause«, denn eine herzhafte Madeleine aus Marcona-Mandeln und pikanter Sobrasada ist deutlich zu massig, um dem auf Crème fraîche gebetteten Royal Belgian Caviar genügend Raum zu lassen. Insgesamt klingt alles eigentlich nach einer ausgezeichneten Idee, aber die Gewichtung der Komponenten ist nicht optimal. Durch die vergleichsweise große Teigportion blitzt zudem der Gedanke auf, dass die vielen weiteren Gerichte anspruchsvoll zu meistern sein könnten. Es ist wichtig, so etwas im Auge zu behalten. (7/10)
In idealer Balance zwischen Üppigkeit und Frische präsentiert sich danach ein Tatar vom Balfegó-Thunfisch. Sowohl Akami (magerer Thunfisch) als auch Toro (fettiger Thunfisch) wurde dafür verwendet, was für ein abwechslungsreiches Mundgefühl sorgt. Das schmelzige Vergnügen wird mit einer säurebetonten Vinaigrette mit Sanddornöl kontrastiert – ein sehr gelungener Gegenpol zu dem gehaltvollen Thunfisch. Bucheckern und Maronen in unterschiedlichen Zubereitungen fügen noch eine knusprige Genussebene hinzu. Das ist mehr als hervorragend. (8,5/10)
Auch die Anrichtweise betreffend spricht dieses Menü mit seinen in der Tellermitte fokussierten Kreationen eine Sprache von Welt – wie auch das nächste Gericht mit Jakobsmuschel. Die etwa pflaumengroße Kreation besteht unten aus einer ellipsoid geformten Jakobsmuschelfarce mit Kräutern (eine Art samtiger, würzig-maritimer Kloß), einem hauchdünnen, in Butter ausgebackenen Brotchip, einer dünnen Scheibe über Binchotan-Holzkohle gegrillter Jakobsmuschel und einem Potpourri verschiedener Muscheln, Chicorée und Kräuter. Das Ganze ist in einer Sauce angerichtet, die im Menü als »Caesar-Beurre-Blanc« bezeichnet ist, geschmacklich aber eher in Richtung einer Vinaigrette tendiert. Jakobsmuscheln sind, so qualitativ hervorragend sie auch sein können, eine Zutat, die schnell »zu viel« sein kann. Vor diesem Hintergrund gelingt es Nakamura hier geradezu virtuos, nicht den fleischigen Muskel der Muschel in der Vordergrund zu stellen, sondern eher ihre maritime Nussigkeit und nur ein wenig – gerade ausreichend – von ihrer Konsistenz. Das würde nicht mit allen Produkten funktionieren: ein milder Fisch würde in dem Arrangement untergehen. Auf jedem Löffel hat man dann immer die vielfältige, mild-würzige Muschelvariation sowie die fast bodenständig-süffigen Sauce. Großartig. (9/10)
Aus der Weinkarte habe ich zwischenzeitlich etwas Rotes ausgewählt. Ein 2006er Côte Rôtie »La Landonne« von René Rostaing (300 €) sprach mich, trotz meiner Präferenz für Burgund, am meisten an. Ich trinke ihn schon mal parallel zum Weißwein.
Das Menü fährt im gleichen Stil und auf selbem Niveau fort, was man dem nächsten Gericht schon ansieht. Da findet man drei Tranchen minimal gebeizten Hamachi (Gelbschwanzmakrele), angerichtet in einer Ponzu-Beurre-Blanc (Nakamura würde es kaum wagen, eine Sauce ohne Butter zuzubereiten) mit exotischem Poudre d'or-Gewürz. Weitere Mitspieler, jeweils nur behutsam dosiert, sind ein Quinoa-Blumenkohl-Salat, gegrillte Hamachi-Kiemenstücke sowie frischer, leuchtendgrüner Wasabi aus der Nagano-Präfektur. Das lässt mein Herz höher schlagen, denn derartigem Wasabi kann man in Deutschland so gut wie nie begegnen. Die Kreation ist erwartungsgemäß grandios und spielt erneut charmant mit der Reichhaltigkeit der französischen Küche und dem qualitätsbesessenen Purismus der japanischen. Das ist ein Teller mit Weltklassezutaten, den ich am liebsten noch einmal bestellen würde, aber ich reiße mich zusammen. Doch meinem Wunsch, noch etwas frisch geriebenen Wasabi an den Tisch zu bekommen, entspricht die Küche gerne. (9/10)
Brot wird dann als separater Gang zelebriert; ich vermisste bisher auch keines. Das Brot stammt von der Bäckerei Arnd Erbel aus Dachsbach und wurde hier rund ausgestochen und, natürlich, in Butter gebraten. Belegt ist es mit herzhaftem, dünn geschnittenem Bauchspeck und verschiedenen würzigen Kräutern. Leicht orientalische Aromen liefern Schabzigerklee, Anis und Kreuzkümmel, als »Aufstrich« bedient man sich einer besonders wohlschmeckenden Emulsion aus Eigelb und Schnittlauchöl. Das schmeckt gleichermaßen bayerisch wie elegant, offenbar kein Widerspruch. (8,5/10)
Langsam wird es etwas üppig, eine Folge der reichhaltigen Saucen und großzügigen Verwendung von Butter (auf die ich allerdings auch nicht hätte verzichten wollen). Ich kämpfe nicht, aber es wiegt alles ein bisschen – vielleicht der einzige Schönheitsmakel des ansonsten bisher begeisternden Menüs.
Wenig überraschend verzückt aber auch schon wieder das nächste Gericht. Ein großzügiges Stück Regenbogenforelle ist hier mit einer komplexen Zubereitung weiterer Meeresfrüchte getoppt – u. a. mit XO-Sauce bestrichenen, in Sake eingelegten und über Holzkohle gegrillten Jakobsmuscheln und Crevetten, sowie Forellenkaviar. Das Arrangement, das Temperatur- und Texturvariationen von gegart und heiß über halbegegart und lauwarm bis zu kühl und roh zur Schau stellt, ist auf einem indonesisch inspirierten Tomaten-Chutney und in einer Champagner-Beurre-Blanc angerichtet. Über das Gericht geträufeltes Öl der XO-Sauce setzt pikante, krustentierwürzige Akzente. Das Gericht, erklärt der Service, sei eine Hommage an ein Rezept von Syrco Bakker, dem ehemaligen Sous-Chef in Sergio Hermans Oud Sluis. Die hier nicht mehr wegzudiskutierende Üppigkeit nagt nur eine Nuance an diesem weiteren Weltklassegang. (8,9/10)
Aber für einen Geniestreich wie die nächste Kreation bin ich immer noch offen. Es gibt Owan, die Bezeichnung für einen Suppengang in der japanischen Kaiseki-Küche. Wie in Japan, ist auch hier die Basis ein Dashi, genauer ein zweifach aufgekochtes »Dashi double«, das einen etwas intensiveren Geschmack zutage fördert als man es bei authentischen japanischen Suppen erleben würde. Das passt zum aromenstarken Menü, und schließlich ist man hier auch nicht in einem japanischen Restaurant. In der aromatischen, heißen Brühe schwimmen dann auch alles andere als japanische Zutaten. Es gibt mehrere ausgelöste norwegischen Kaisergranate, dazu Steinpilze, Pfifferlinge, Krause Glucke und Kaiserlinge. Frisch gehobelte, blumig duftende Yuzu-Zesten vollenden das Gericht, das mich mit phänomenalen Produkten, einer sehr willkommenen »Klarheit«, leichter Schärfe, etwas Rauch und perfekt austariertem Salzgehalt sprachlos und glücklich macht. (10/10)
Und es funktioniert tatsächlich, die vom Service beschrieben Erleichterung, die man nach dem Genuss eines Owan verspürt. Die Suppe verschafft einem neue Kraft und neuen Appetit.
Ein Kalbsbries kommt da genau richtig. Es wird mir anstelle der Taube serviert, die derzeit regulär im Menü steht. Das Bries wurde in mehreren Schritten zubereitet: gedämpft, glaciert, gegrillt und ausgebacken. Begleitet wird das saftige, heiße und außen appetitlich knusprige Stück mit verschiedenen Zubereitungen von Artischocke – gegrillt, als Chips und als Püree –, und einem Kürbisgrissini. Eine Sauce Riche, die gehaltvolle, mit Gänseleber abgebundene Sauce, steht glücklicherweise auch noch einmal zum Nachnehmen am Tisch. Während Bries und Sauce wahrlich meisterhaft sind, wirken die weiteren Elemente auf mich aber etwas zu verspielt. Dennoch ein handwerklich, qualitativ und geschmacklich großartiges Gericht. (8,5/10)
Nach einem erfrischenden, nicht-alkoholischen Getränk auf Basis von Birnenessig, Pfirsich und Honig, geht es zum süßen Teil des Menüs weiter.
Die erste Kreation ist einem Wagashi nachempfunden, einer traditionellen japanischen Süßspeiseart, die meist aus einem gefüllten Teig und einer kreativen Dekoration besteht. Zutaten, die in diesem Zusammenhang genannt werden, sind eine Paste aus roten Bohnen (Azuki), Sesam, Käsekuchencreme und Chinakohl. Die Konsistenz des Teigs erinnert an Pancakes, der Rest bewegt sich irgendwo zwischen süß und herzhaft und erinnert geschmacklich an Buchweizen. Das ist handwerklich gekonnt, aber geschmacklich etwas weniger spannend. Dennoch sehr gut. (7/10)
Geradezu grandios ist dann die Interpretation eines Eiskonfekts in Form eines Sablés mit diversen Zubereitungen – u. a. Saketrester, weiße Schokolade und Trauben –, die am Gaumen luftig in sich zusammenfällt und mich an das Geschmacksbild von Schwarzwälder Kirschtorte erinnert. Hier stimmt alles: Menge, süßer Genuss, Texturen. (9/10)
Ein drittes Dessert folgt mit dem Thema Pflaume. Man entdeckt hier zum Beispiel ein Umeboshi-Sorbet, Zweschgen aus Franken, eine Cashew-Mohn-Creme sowie, durch ein warmes Gebäck unten auf dem Teller, abwechslungsreiche Temperaturkontraste. Das ist ohne Umschweife hervorragend (8/10), aber inzwischen einfach zu viel.
Und sogar ein viertes Dessert folgt noch. Die Kreation präsentiert verschiedene Zubereitungen mit Milchreis, Birne, Matcha, Zabaione, weißer Schokolade, Douglasie, Haferflocken und einem Verbenensorbet. Alles hieran ist hervorragend, vor allem der bissfeste Milchreis in Verbindung mit getreidigen und fruchtigen Aromen. (8/10)
Nach etwas über drei Stunden endet damit ein fulminantes Menü. Man darf sich auch nicht täuschen lassen: Es schwingt zwar hier und da ein japanischer Begriff mit, aber die Küche von Nakamura ist weder japanisch noch eine Cross-Over-Küche. Es ist eine moderne und leidenschaftliche französische Küche mit außergewöhnlichen Rohstoffen, meisterhaftem Handwerk und himmlischen Saucen. Es war nur etwas zu viel des Guten. Oder, um meinen ersten Haiku zu wagen:
Man isst bei Tohru
Hochgenuss und Freude satt
Das bin jetzt auch ich.