Atlantic Restaurant – neuer Kurs
Zum Hotel Atlantic, dem vielleicht berühmtesten Hotel Hamburgs, habe ich so gut wie keinen Bezug. Man könnte das jemandem, der selbst in Hamburg lebt, nachsehen, andererseits fühle ich mich in der gehobenen Hotellerie in meiner Heimatstadt durchaus zu Hause. Das hat in den meisten Fällen gastronomische Gründe.
Vom früheren Jacobs Restaurant im Hotel Louis C. Jacob über diverse einstige und aktuelle Hotspots wie meatery im Side Hotel, THEO’S im Grand Elysee, Bar und Restaurants im The Fontenay bis hin zum gastronomischen Großkaliber Vier Jahreszeiten mit Haerlin und Nikkei Nine: Ich bin oft und gerne in den Hotels meiner Stadt. Nur im Atlantic nicht.
Das hundertvierzehn Jahre alte Hotel, das nur eine fünfspurige Straße von der Alster trennt, hatte bisher gastronomisch und atmosphärisch wenig zu bieten. Man hat in den vergangenen Jahren viel renoviert, neueröffnet, zwischendurch die Hotelklassifikation verloren und wieder nachgebessert, aber auch den Start des Restaurants Atlantic Grill & Health nahm ich damals nur enttäuscht zur Kenntnis.
Seit zwei Monaten hat auch das »eigentliche« Hotel-Restaurant wieder geöffnet. Wegen der Pandemie und weiteren Renovierungsarbeiten war es drei Jahre geschlossen. Davor genossen hier, so sagt man, Gäste wie Rod Stewart, Goldie Hawn und die Rolling Stones Hummersuppe und Seezunge im Ganzen. Den Guide Michelin beeindruckt das schon lange nicht mehr. Seit vielen Jahren ist die Gastronomie des Atlantic dem Restaurantführer nicht einmal eine Erwähnung wert.
Das will man jetzt offenbar ändern und hat einen neuen Küchenchef verpflichtet: Alexander Mayer. Der kochte zuvor unter anderem in einem Steigenberger-Hotel bei Bonn und im Brenners Park-Hotel in Baden-Baden. Ich sage mal so: Das Ritz-Carlton in Wolfsburg hatte damals mit Sven Elverfeld auch den richtigen Riecher.
Das Atlantic Restaurant betritt man direkt im Erdgeschoss von der großen Lobby aus. Mein Tisch ist direkt in der ersten Reihe am Fenster; nur hier sind heute Abend auch Tische besetzt. Man beginnt behutsam, so die Aussage der teilweise schon seit Jahrzehnten hier agierenden Servicemitarbeiter. Deren erfrischende Mischung aus Professionalität und Humor lockert das Ambiente etwas auf. Dass das Restaurant fast vollständig neu gestaltet wurde, muss man aber gesagt bekommen. Die Zielgruppe schätzt offenbar eine gediegene Farbskala mit vielen Braunschattierungen, schweren Sesseln und stoffbespannten Wänden. Dass – heute vielleicht zufällig – nur Männer im Service sind, unterstreicht den konservativen Charakter des Hauses.
Mein Blick gilt zunächst der Weinkarte, die für ein Grandhotel einen eher mäßigen Umfang hat. Man streckt die Karte stattdessen lieber mit unnützen Beschreibungen der Zusammensetzungen der Weine. So erfährt man zum Beispiel, dass das Bordeaux-Weingut Château d’Armailhac im Jahrgang 2004 18 % »Cabernet France« [sic] in seiner Cuvée verwendet hat. Da sich solche Cuvées regelmäßig ändern, dürfte das bei Aktualisierungen der Weinkarte eine unnötig aufwändige Prozedur werden. Das passt dazu, dass die gesamte Karte wie ein zusammengewürfelter Resteverkauf wirkt. Warum sonst sollte es ausgerechnet nur einen 2004er d’Armailhac, einen 2003er Le Bon Pasteur, aber 2006 und 2013 Grand-Puy-Lacoste geben? Einige Optionen bietet die Karte trotzdem. Meine Wahl fällt auf einen 2019er Chassagne-Montrachet »Les Caillerets« von der Domaine Jean-Marc Pillot (179 €).
Mit dem Burgunder im Glas und der Alster (hinter den Bäumen) im Sinn wende ich mich der Speisekarte zu. Sie führt zwei Menüs auf. »Identité« mit vier bis sieben Gängen (129–159 €) sowie die vegetarische Variante »Flora«, die 30 € günstiger ausfällt. Alle Gerichte sind auch mit A-la-carte-Preisen ausgezeichnet; ein Hinweis darauf, dass man hier flexibel ist. Ich wähle sechs Gänge aus dem ersten Menü.
Zum Aperitif kommen luftig-feine, warme Gougères mit einer Bärlauch-Estragon-Creme auf den Tisch. Der Teig ist sehr gelungen, die Creme aromatisch gut ausbalanciert. Das macht Spaß. (7/10)
Besonders erwähnenswert ist das Brot, das nun serviert wird. Ein Dinkel-Sauerteigbrot von der Hamburger Bäckerei- und Café-Kette Schmidt & Schmidtchen ist mit seinem luftigen, sehr aromatischen Teig und einer dünnen, knusprigen Kruste eines der besten Brote, die mir in dieser Stadt je begegnet sind, alle in Restaurants selbstgebackenen eingeschlossen. Zusammen mit einem Olivenöl von Moulin Cornille aus Les Baux-de-Provence, einer meiner favorisierten Herkunftsorte von Olivenöl, könnte mich das schon glücklich über den Abend bringen.
Parallel folgt der nächste Snack. Als Interpretation einer Gazpacho gibt es ein Olivenöleis mit Pimentón-de-La-Vera-Schaum, Olivenöl, kleinen Gurkenwürfeln und knusprigen Brotkrumen. Das erfrischt mit angenehmer Kühle und einem gut getroffenen mediterranen Geschmacksbild. (7/10)
Die mediterrane Richtung des Menüs wird mit einem Stück gegrillter Aubergine fortgesetzt. Diese ist angenehm warm, mit appetitlichen Röstnoten ausgestattet und auf einer Auberginencreme platziert. Koriander frischt das alles auf, während ein Sesamöl mit Limette exotische Aromen ins Spiel bringt. Das ist sehr harmonisch, und das Aroma der Aubergine ist gut herausgearbeitet. So etwas ist man in Hamburg sonst eher von Wahabi Nouri aus dem Piment gewohnt. (7/10)
Ich bin nicht der größte Freund von in die Länge gezogenen Grüßen aus der Küche, daher ist das jetzt ein stimmiger und auch erhoffter Moment für den ersten Gang. Das Thema ist eine Vichyssoise; damit bleibt man im frankophilen Duktus. Im Mittepunkt des Gerichts steht ein leichter Kartoffelschaum, um den ein Lauchsud mit Dillöl angegossen ist. Nussiger Kaviar, pikante Frühlingszwiebel und herzhafter Koji runden diese schlüssige Interpretation eines Klassikers gekonnt ab. Kühl, schlank, gewitzt an der Salzgrenze balanciert, sehr gut. (7/10)
Es geht weiter mit Beelitzer Kaninchen. Von diesem findet man Stücke vom Filet und Rollbraten in einer aufgeschäumten Vin-Jaune-Sauße, begleitet von weißem Spargel, Morcheln und Erbsen. Eine pikant mit Togarashi gewürzte Gebäckstage sorgt für etwas texturelle Abwechslung. Das Gericht ist konzeptionell stimmig, überzeugt dagegen nicht bei der Umsetzung. Tatsächlich wäre das Gericht ein gutes Beispiel dafür, wie sehr ein und dieselbe Komposition mit deutlich besseren Produkten völlig unterschiedliche Ergebnisse liefern könnte. Morcheln, Spargel und Erbsen sind potenziell famose Gemüse, die man hier jedoch nur in mittleren Qualitäten und Zubereitungen erleben kann. Das Kaninchen selbst ist recht trocken, die Vin-Jaune-Sauce etwas fad. Man schießt hier etwas über seine Möglichkeiten hinaus. (6,5/10)
Die anfängliche Schlichtheit ist inzwischen etwas aufwändigeren Kompositionen gewichen, wie beim nächsten Gang mit Adlerfisch. Ein kross aus der Haut gebratenes, quaderförmiges Filetstück ist hier in einer hellen Sauce angerichtet, dazu gibt es Ackerbohnen, ein »Sepia-Segel«, Eisenkraut, Blüten und zu Röllchen geformte Karotten – ein Manierismus, mit dem man ein Gericht rein optisch schon treffsicher in Deutschland verorten kann. Das Gericht steht aber vor anderen Herausforderungen: Die an sich mit hohem Genusspotenzial ausgestatteten Zutaten verschwimmen insgesamt in einer Homogenität von Textur, Temperatur und einem Qualitätsniveau im unteren Mittelfeld. Daraus ergibt sich ein solider, guter Bistro-Charakter bei vermutlich höheren Ambitionen. (6,5/10)
Die nächste Hauptzutat beantwortet etwaige Qualitätsfragen schon mit sich selbst. Es gibt Wagyu aus einer Präfektur in Japan. Der im »internationalen Fine-Dining-Kontext« etwas überstrapazierten Zutat begegnet man in Hamburg dagegen deutlich seltener, daher ist das hier eine willkommene Gaumenfreude. In diesem Fall finden zwei Zubereitungen den Weg auf den Teller: ein geschmortes Schulterstück und ein kurzgebratenes Stück Roastbeef. Verschiede Pürees, u. a. von der Adzukibohne, ein »Orangen-Nuta« sowie unterschiedliche Zwiebelzubereitungen und eine im Ganzen gegarte – und auch so essbare – Topinambur-Knolle ergänzen das Fleisch. Bei diesem Gericht ist alles deutlich differenzierter gekocht, was mit der exzellenten Fleischqualität dann schon für eine sehr gute »Basis« sorgt. Darüber hinaus gelangt das Gericht aber aus kompositorischen Gründen nicht: Geschmortes Wagyu ist zwar vollmundig und aromatisch, aber nicht gerade die überzeugendste Präsentation dieses Fleischs; auch das Stück Roastbeef erinnert eher an ein (sehr gutes) secreto vom Iberico-Schwein als an klassisches Wagyu. Das ist beides sehr gut zubereitet, schöpft nur das eigentliche Potenzial dieser Zutat nicht aus. Hinzu kommen die weiteren Komponenten, die zwar ebenfalls für sich gelungen sind, aber für viel Ablenkung auf dem Teller sorgen, besonders die etwas bearbeitungsbedürftige Knolle. Insgesamt aber auf sehr gutem Niveau. (7/10)
Als Käsegang ist ein Stück geschmolzener Brie de Meaux gedacht, der zusammen mit einem kleinen Salat mit »Périgord-Trüffel-Vinaigrette« und anderem, frisch gehobeltem Sommertrüffel angerichtet ist. Der viele Trüffel trägt hier kaum zum Genuss bei, da es sich bei dem Périgord-Trüffel in der Vinaigrette offenkundig um konservierte Ware handeln muss, was nicht negativ ist, hier aber in einer winzigen Dosierung kaum zur Geltung gelangt. Der andere Trüffel ist leider erwartungsgemäß überflüssig. Man muss das so klar formulieren, denn in einer absoluten »Nicht-Trüffel-Zeit« mit Trüffeln zu werben, funktioniert auch nur im Rahmen einer bestimmten Klientel. Zieht man den Trüffel ab, bleibt ein mächtiger Käse mit appetitlich angemachtem Salat – zusammen mit etwas von dem köstlichen Brot ist das wieder auf gutem Bistro-Niveau. (6,5/10)
Das erste Dessert ist eine mit Erdbeerschaum gefüllte Sphäre aus weißer Schokolade, die in einem Erdbeercoulis angerichtet ist. Weitere Zubereitungen aus und mit Erdbeere stehen hier im Mittelpunkt. Die Kreation ist viel zu süß und ähnelt eher industriellen Erzeugnissen als einem guten Dessert, aller Arbeit hier zum Trotz (6/10). Ein dann folgender Ring aus Matcha und Kokos it einem Himbeer-Lotos-Sorbet bietet aromatisch etwas interessantere Möglichkeiten; leider ist der Ring so stark durchgekühlt, dass man ihn kaum mit dem Löffel essen kann (6/10).
Das Atlantic ist ein internationales Grandhotel mit höchster Hotel-Klassifizierung und muss sich daher auch an höchsten Standards messen. Das an vielen Stellen sehr gute, an anderen wiederum optimierungsfähige Menü wird sicherlich viele Hotelgäste begeistern. Ob sich hieraus noch mehr entwickeln kann (und soll), bleibt abzuwarten. Es ist aber erfrischend zu wissen, dass sich in dem Haus, in dem kulinarisch noch nie etwas Spannendes passiert ist, etwas regt.