La Marine – kulinarisches Seestück
Nicht ganz Bretagne, nicht ganz Bordeaux, nicht ganz Loire: Das Département Vendée an der französischen Atlantikküste ist irgendwo dazwischen. Wer die Speisekarten guter Restaurants aufmerksam liest, dem wird das Département vielleicht schon begegnet sein. Die Fische und Meeresfrüchte, die hier an Land gezogen werden, zieren die Speisekarten von einigen der besten Restaurants der Welt. Der »Steinbutt aus der Vendée«, zum Beispiel, ist ein Klassiker im Waldhotel Sonnora.
Mich hat die aktuelle Auszeichnung des Restaurants La Marine mit drei Michelin-Sternen in die Region gelockt, genauer an den Küstenort L’Herbaudière auf der Île de Noirmoutier. Salzfelder, Wind und die Gezeiten des sich immer in Sichtweite befindenden Atlantiks prägen die Landschaft.
Hier leben Céline und Alexandre Couillon ihr Lebenswerk. Sie betreiben neben dem besagten Restaurant auch noch ein kleines, schmuckes Hotel mit pittoreskem Garten, ein Bistro namens La Table d’Elise und ein Delikatessengeschäft gleich nebenan. Weitere Projekte sind in Planung.
Der Hafen ist direkt gegenüber. Küchenchef Couillon geht jeden frühen Morgen dorthin, um Fische und Krustentiere einzukaufen. Die Speisekarte des La Marine, die im Fenster des Restaurants ausgestellt ist, scheint eine der Hauptattraktionen des Ortes zu sein. Spaziergänger drücken sich dort staunend die Nase platt.
Es gibt auch viele Gründe, zu staunen, allem voran die Beschreibungen der Gerichte. Von den neun aufgeführten Gängen tragen fast alle den Titel eines Meerestiers. Dabei steckt der Teufel im Detail: le merlan ist nicht zu verwechseln mit le merlu, und mit la julienne sind keine Gemüsestreifen gemeint.
Das Restaurant selbst ist recht klein. Nur um die zehn Tische findet man vor, eine verspiegelte Wand vergrößert optisch den Raum. Durch kleine und dezent verhangene Fenster gelangen keine Blicke hinein und auch nur wenige nach draußen; den Ausblick aufs Meer erhält man hier mit einem Blick auf den Teller.
Am Nachmittag, im Halbschatten unter Obstbäumen, habe ich schon in der Weinkarte gestöbert. Sie enthält einige erstaunliche Raritäten – zu Preisen, über die man als Weinliebhaber schon mal länger nachdenken kann. Ins höchste Regal greife ich dennoch nicht, aber ein 2016er »Silex« vom Weingut Didier Dagueneau (225 €) ist ein guter Fund, passt in die Region, und wird jetzt abends am Tisch fortgesetzt. Zusätzlich macht ein 2006er Château Rayas (350 €) auf Empfehlung des Sommeliers bereits seit dem Nachmittag in einer Karaffe Atemübungen.
Das Menü führt neun Gänge zu 250 € auf. Man kann auch eine kleinere Variante mit nur sechs Gängen wählen (dann 160 €), aber ich reise nicht elf Stunden zu einem Restaurant, um dann ein Drittel der Küche zu verpassen.
Mit dem steinigen Sauvignon im Glas, der Vorfreude im Kopf und reichlich Appetit im Bauch fiebere ich dem ersten kulinarischen Eindruck des La Marine entgegen.
Alles beginnt mit einer Krabben-Infusion, die direkt am Tisch aus einer Kanne in einen kleinen Becher gegossen wird. Etwas Zitronenmelisse (aus dem Garten hinterm Haus) befindet sich noch in der Kanne, die das leicht süßliche Aroma der Infusion um etwas Frisches ergänzt. Die Hitze, das leicht Maritime und der fesselnde Eindruck des Mikrokosmos, aus dem alle Zutaten hier stammen, geht direkt ins Herz. (9/10)
Weitere Amuse-Bouches werden angerichtet. Sie sind augenscheinlich sehr präzise gearbeitet und offenbaren zunächst mehr vom Land als aus dem Meer – ein Hinweis auf die Subtilität, mit der Couillon das Maritime auf die Teller bringt. Wie bei einer Tartelette mit Taschenkrebs, weißem Spargel, Rosmarin und Rose, bei der florale Aromen zunächst im Vordergrund stehen wie die Kopfnote bei einem Parfüm. Erst dann setzt sich die maritime Geschmackswelt vom weißen, kühlen Fleisch des Krebstiers durch (8,5/10). Noch einprägsamer ist eine Algen-Tartelette mit Muschel-Chantilly, Pinienessig-Gel und kleinen Blüten. Der kleine Snack ist etwas säurebetonter, was hervorragend zum »Aperitif-Moment« passt, schmeckt ein wenig nach Senf und, nun eher zum Schluss, auch etwas blumig. Das Meer ist hier noch weit entfernt, aber sichtbar. Ob das sogar der Gedanke des Küchenchefs ist? (9/10)
Ein Teigzylinder mit Fenchel, Sardine und verschiedenen rohen Gemüsen und Kräutern ist immer noch sehr gut, schade nur, dass am Gaumen fast nur der Fenchel sowie der etwas zu knusprige Teig wahrnehmbar ist (7/10). Ein Cornet mit Daikon und geräuchertem Rogen wird ebenfalls im Ganzen verspeist. Insgesamt entsteht hier ein hervorragendes Geschmacksbild mit nachklingenden Assoziationen an Lagerfeuer (8/10).
Es bestätigt sich, dass Couillon nicht mit der Brechstange auf das maritime Thema losgeht, sondern mindestens genauso viel Wert auf die Pflanzenwelt legt. »Marine & végetale« ist nicht umsonst der selbstvergebene Untertitel seiner Küche. (Wer hier vegetarisch essen möchte, hat zwar eindeutig das falsche Restaurant betreten, würde aber dennoch nicht vor die Tür gesetzt, erklärt man mir auf – eher spaßeshalber gemeinte – Nachfrage. Vorgekommen sei das aber schon.)
Ein erster Probeschluck des mächtigen Château Rayas, der nun bereits Stunden an der Luft verbracht hat, offenbart leider eine viel zu hohe Temperatur: ich vermute, mindestens zwanzig Grad. Das ist nicht nur grundsätzlich ärgerlich, sondern auch insofern ironisch, als in der Weinkarte explizit der Hinweis zu lesen ist, dass die Weine dieses Châteaus »auf Wunsch des Erzeugers« nur mit einer vierundzwanzigstündigen Vorlaufzeit zwecks Karaffierens verkauft werden könnten. Dass eine solche Praxis lebensfremd ist, ist eine Sache, aber dass der Wein zu warm serviert wird, dürfte erst recht nicht im Sinne des Erzeugers sein.
Erst nach einigen (kostspieligen) Versuchen über die nächsten Gänge bekommt der Wein eine annehmbare Temperatur – und das auch erst auf meinen Hinweis hin, man möge die Karaffe bitte einfach ins Eis stellen. Das ist im Grunde inakzeptabel, sowohl für ein derartigen Wein als auch für den Weinservice in einem solchen Haus, aber es ist gerade nicht die Situation, um Probleme eskalieren zu lassen. Ich werde jetzt auch von angenehmeren Dingen abgelenkt.
Leuchtend grüne Petersiliensauce, dunkelrote Rote-Bete-Creme, mattgelbes Zitronengelee und ein schwarzweißer Kontrast von gegrillter Makrele starten das Menü visuell eindrucksvoll. Auch hier ist sie wieder, die Zurückhaltung. Die Makrele ist nicht etwa der zentral platzierte Star des Tellers, sondern so dezent an den Rand geschmiegt als zöge man sie gerade aus dem Wasser. Sie schmeckt auch so: überbordend frisch, saftig, heiß und durch Röstnoten akzentuiert. Ein weißes Rübchen, farblich zur Makrele passend, ist eine der besten, die ich je probiert habe. Das restliche »Beet« bietet teils fruchtig-süße, teils herbe, teils säuerliche Abwechslung, und ein kleiner Kräuterstrauß mit Vinaigrette erdet alles auf charmant französische Art. Das Zitronengel ist vielleicht eine Spur zu intensiv (und Gels gewinnen ohnehin nicht oft mein Herz), doch das rüttelt nicht an dem Weltklasseniveau dieses qualitativ überragenden Tellers. (9/10)
Gang zwei ist dann von einer Schlichtheit und Klarheit, wie sie in der westlichen Welt – auf diesem Niveau – eigentlich nur César Ramirez auf den Teller bringt. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass er manchmal genau diese Ware auch an den Hudson River geliefert bekommt (mit nur unwesentlicher Verzögerung). Die Rede ist von Hummer, einer Zutat, der man in diversen Restaurants rund um die Welt in allen möglichen Qualitäten begegnen kann, oft auch in ganz schlechter, Letzteres gerne in scheinbar elitärem Rahmen. Die Qualität dieses Hummers befindet sich am äußersten Ende der Skala in Richtung »hervorragend«, aber weit darüber hinaus. Man kann das in Teilen schon an der Farbgebung (Schneeweiß und Dunkelrot) und der Konsistenz erkennen, die im Falle dieser Qualitäten trotz der hummertypischen Festigkeit immer noch ein hohes Maß an Elastizität aufweist. Am Gaumen macht sich die Qualität in einem nussigen Aroma und einer bissfesten, aber nicht faserigen, Konsistenz dingfest. Die ausgelöste Hummerhälfte wurde hier in einem tiefen Teller auf einen flan platziert (anderenorts würde man auch chawanmushi dazu sagen), darum wurde eine leicht pikante, leicht ölige Krebsbouillon angegossen, und eine hauseigene Kaviar-Sorte von Kaviari sowie einige Algen runden diesen grandiosen Wohlfühlteller ab. (10/10)
Mit Wittling präsentiert die Küche den nächsten Meeresbewohner, der so behutsam gegart wurde, dass das Filetstück fast lebendig wirkt. Der Fisch schmeckt »klar« und frisch, schmilzt am Gaumen wie Butter und hat dennoch eine feste Textur. Auch dies ist eine Qualitätsoffenbarung. Doch auf dem Teller geht es noch um etwas ganz anderes. Höchst unkonventionell kombiniert Couillon den herausragenden Fisch mit frucht- und säurebetonten Mitspielern wie Erdbeeren und mariniertem Rhabarber. Eine Sauce mit Holunder und Frischkäse verbindet diese Welten, während Ackerbohnen, eine Stange Frühlingslauch und Kapuzinerkresse etwas klassischere Akkorde präsentieren. Auffällig ist auch die wunderbar unaufgeregte Anrichtweise, die man sich nur erlauben kann, wenn Qualitäten und Aromen so für sich selbst sprechen. Genau das macht auch die Größe dieses Gerichts aus, die selbst dann unstrittig ist, wenn man die Kombination von Erdbeere und Fisch nicht als die zugänglichste in Erinnerung behalten wird. (9/10)
Doch man scheint Überzeugungsarbeit leisten zu wollen. Auch der nächste Gang setzt auf Frucht und Fisch, ohne sich dabei zu wiederholen. Das fängt an beim Leng (julienne), einem Fisch, von dem ich mich nicht erinnern kann, ihn je probiert zu haben. Der längliche Fisch, dessen Filet dem eines Seeteufels sehr ähnlich sieht, findet auf diesen Teller mit Erbsen, Kirschen und einer leichten Buttersauce mit Fenchelstielen zusammen. Ein großes, gegartes Blatt Gartenmelde setzt einen dunklen Farbakzent. Der am Spieß gegrillte Fisch ist sehr saftig und hat eine überraschend zarte und »scheibenartige« Struktur (im Vergleich zum ähnlich aussehenden, aber homogen-fleischigen Seeteufel). Auch hier ist die Spitzenqualität offenkundig. Die Sauce sorgt zunächst – auch in Verbindung mit den hervorragenden Erbsen – für eine eher klassisches Geschmacksbild, das durch die Kirschen und die angenehme Leichtigkeit des Gerichts jedoch modern akzentuiert wird. Das ist weiterhin auf einem Niveau und von einer Einzigartigkeit, die die besten Restaurants zu dem machen, was sie sind. (9/10)
Der nächste Gang macht kurz eine maritime Pause. Es gibt eine Stange dunkel gerösteten weißen Spargels, der mit einer Reduktion aus fermentiertem Honig, Zwiebeljus und Eisenkraut lackiert ist. Die etwas zurückgenommene, aber präsente Süße passt exzellent zu den Röstnoten des knackig-bissfesten Gemüses. Dieser aromatisch breite Auftritt wird elegant mit einer Reduktion von Gartenkräutern und Blaubeeren kontrastiert, was etwas appetitliche Bitterkeit und ein ganzes Spektrum neuer Aromen mitbringt, wie hier vor allem im Fall der Kräutersauce. Es ist eine wunderbar reduzierte und geschmacklich mitreißende Komposition. (9/10)
Es folgt Steinbutt, den man vielerorts gerne als klassische »Gourmet-Zutat« versteht – ein Gedanke, der in Anbetracht aller bisherigen Qualitäten ad absurdum geführt wird. Keine Zutat begründet Qualität mit sich selbst, sondern nur mit Qualität an sich. So ist auch dieser Steinbutt, wie alle anderen Zutaten bisher, in dieser Hinsicht auf allerhöchstem Niveau, mit leichtem Schimmer, saftigem Erscheinungsbild und einer »lebendigen« Konsistenz. Der Fisch wurde sehr behutsam gegart, um ein Höchstmaß an Authentizität zu bewahren. Dieses Konzept zieht sich bisher als roter Faden genauso durch das Menü wie die vorsichtige Platzierung der Fische am Rand der Teller, fast so, als möge ihnen bloß nichts zustoßen. Das Zusammenbringen von Steinbutt mit einer dichten Sauce aus dem (besonders gelatinehaltigen) Kopf des Tiers, ist aber dann doch eine ganz hervorragende Idee. Die Sauce klebt an den Lippen, ist aromatisch dicht, salzbetont, aber nicht »salzig« – eher wie Salzkaramell – und erinnert mich unmittelbar an einen ebenso einprägsamen Gang mit Flunder im andalusischen Aponiente. Zu dem intensiven, kontrastreichen Erlebnis gibt es noch gegrillten Mangold, der lebendiges Grün beisteuert sowie eine weitere Sauce mit Rogen, die wie eine leichte Beurre Blanc fungiert. Dieser Teil des Tellers wirkt wie ein Puffer zwischen dem anderen, intensiveren Teil. Es ist ein aufwühlender Gang mit einem Steinbutt, den man qualitativ nur als Referenz bezeichnen kann. (10/10)
Couillons Kompositionen mögen sich kompositorisch ähneln, doch ihre Unterschiede sind frappierend. Auf den nächsten Teller, den letzten Fischgang, hat es ein Stück Pollack geschafft. Dessen gebratene Haut verspricht ein elegantes Knuspervergnügen, Pinienkerne und eine Pinien-Buttersauce Üppigkeit und ätherische Aromen. Alle Versprechen werden gehalten, und erneut ist der Fisch unwirklich gut. Karotte, gebraten im Ganzen sowie als Püree, ergeben dazu einen etwas klassischeren Dreiklang. Pinie und Karotte ziehen die Komposition dabei geschmacklich eher an Land als tief ins Meer. Erneut ist das von beeindruckender Schlichtheit und makelloser Ausführung. (9/10)
Mit einer Kreation um Gurke stellt die Küche dann ihren ersten Gang aus der Patisserie vor. Ein Holundersorbet befindet sich hier in einer schaumigen Wolke aus Gurke und ebenfalls Holunder; kandierte Zitronenzesten sorgen bei dem Gurkenvergnügen immer wieder für säuerlich-süße Abwechslung. Wenngleich mir der Schaum in seiner Portionierung eine Spur zu mundfüllendend ist, sind die Aromen von Gurke und Holunder grandios herausgearbeitet und so schlüssig präsentiert, als wäre Gurke die selbstverständlichste Dessert-Zutat. Auch handwerklich ist das eine Süßspeise, die man nur in einem Drei-Sterne-Restaurant erwarten kann. (9/10)
Es folgt noch ein Soufflé aus Buchweizen mit kandierten Zitrusfrüchten und einem mit Algen umwickelten Meringue-Stab. Handwerklich ist das ein sehr gelungenes Dessert mit behutsamem Bezug zum Meer; insgesamt ist jedoch der Buchweizen geschmacklich zu dominant. Die Zitrusfrüchte und die leicht knusprige Meringue bereiten mehr Freude, haben aber wenig Möglichkeiten, hier an die Oberfläche zu gelangen. (7/10)
Die Petit Fours trumpfen noch einmal auf. Ein Fencheleis schmeckt frisch und ätherisch und erinnert aromatisch an Anis; eine mit warmem Schokoladen-Flan gefüllte Blätterteig-Tartelette ist himmlisch gut und angenehm bitter; ein kandiertes Artischockenblatt bereitet Knusperspaß; und eine ganz weiche, weiße Lakritzschnecke sorgt regelrecht für kindliche Freude; ein Schokoladentaler begeistert mit einem aromatisch intensiven, eingearbeitetem Minzblatt; und auch ein Rote-Bete-Gelee sowie ein (nicht näher notierter) Macaron bereiten unbeschwerten Dessertgenuss auf höchstem Niveau. (9/10)
Mir ist jetzt schon klar, dass dieses Menü lange nachklingen wird. Die Fischqualitäten waren schlicht phänomenal, was das La Marine zu einer Pilgerstätte für Qualitätsfanatiker macht. Am Menü begeisterte mich zudem die Vielfalt, das konstant hohe Niveau und eine oft anrührende Zurückhaltung, sowohl bei der Präsentation der Gerichte als auch bei der Umsetzung des Leitmotivs Meer. Das französische Wort marine hat mehrere Bedeutungen, aber nur eine davon ergibt Sinn: das Seestück, ein Gemälde vom Meer. Genau das ist die Küche von Alexandre Couillon.