100/200 – … und einen im Sinn
Im 100/200 Kitchen ist es in letzter Zeit – und auch in Retrospektive – immer so, dass man nach dem Essen den Eindruck nicht los wird, dass es noch besser war als das Mal davor. Das ist kein Zufall, sondern ein Hinweis darauf, dass ein konstantes Niveau hier mit Stillstand gleichgesetzt wird. Die zwei Michelin-Sterne nimmt man hier wörtlich: Sie sind ein »Umweg« auf Kurs zu einem noch höheren Ziel.
Thomas Imbusch und Sophie Lehmann arbeiten dabei an genau den richtigen Stellschrauben. Während sich – für die Sterne unerheblich, aber dennoch schlüssig – auch das gastronomische Gesamtkonzept immer runder anfühlt, wird hier vor allen Dingen auch kulinarisch Bemerkenswertes geleistet. Schon zu Zeiten des Madame X im Off Club hatte ich mir gewünscht, dass Imbusch nur einmal Zugriff auf außergewöhnliche Rohstoffe bekommen müsste, um mit seiner unprätentiösen, auf Geschmack und Handwerk optimierten Küche Bahnbrechendes zu leisten. Inzwischen fischt er beim Beschaffen einiger Zutaten schon in denselben Becken wie einige der größten Köche Europas. Sein Fischhändler fährt auch schon mal persönlich nach Norwegen, um unterarmlange Kaisergranate aus dem Wasser zu ziehen.
Ich bin an diesem Samstag von Freunden zu einem unkonventionellen Mittagessen im 100/200 eingeladen, wo zu meiner Überraschung nicht das derzeitige Menü, sondern einige Gerichte im Snack-Format zu verschiedenen Champagnern eines Lieferanten serviert werden. Es gibt keine festen Sitzplätze; es ist ein ungezwungenes Get-together. Ich habe zunächst Bedenken, das Kulinarische könnte dabei unter den Tisch fallen, doch mit den ersten Snacks löst sich meine Sorge in Wohlgefallen auf.
Eine filigran gearbeitete Tartelette, die man direkt am Pass serviert, ist mit einer mit Fischleber abgebunden Crème Rouennaise und Lachsrogen gefüllt, Nelke und Zwiebel spielen auch noch eine Rolle. Der Rogen ist von einer Qualität, wie ich sie sonst nur von den besten Gunkan-Maki aus Japan kenne – mundfüllend und straff –, der maritime Geschmack reißt einen mit wie eine Welle, ohne dass man untergeht (8,9/10). Snack Nummer zwei ist eine »Tartelette ›Schlachtfest‹« mit Schmorfleisch in Aspik, dazu Rettich, Senf und Pfeffer – eine großartige Erhebung von bodenständiger Küche auf ein Spitzenniveau. (8,9/10)
Der nächste Happen, den ich genüsslich im Stehen probiere, ist ein Stück Thunfischbauch, das in einer mit Kaviaröl geklärten und (ausschließlich) durch Kühlung gelierten Consommé double angerichtet ist – eine luxuriöse Würz-Methode, die ich erst kürzlich im Le 1947 von Yannick Alléno genießen konnte, dort zu Blinis mit Kaviar. Letzterer rundet auch diese Kreation ab, deren Schlüssel letztlich aber der gelierte Kalbsfond ist. Mit seiner angenehmen Kühle »reguliert« er die Üppigkeit des sehr gehaltvollen Fischs und hat dazu eine Art ummantelnden Effekt, wie eine Art Schalldämpfer. Das Gericht schmeckt als würde man einen Raum mit guter Musik kurz verlassen, um an die frische Luft zu gehen: erleichternd, heiter und lebensbejahend. Etwas Kardamomöl verleiht dem Gericht noch einen letzten Schliff durch weitere Komplexität und aromatische Wärme. Großes Handwerk, große Qualitäten. (8,5/10)
Es geht weiter mit einer Jakobsmuschel-Variation. Die erste Komposition präsentiert den gebratenen Rogen in einer warmen, herzhaften Pilzbrühe und mit gehobeltem Wintertrüffel von herausragender Qualität. Auf letzteren Umstand weisen schon die tiefbraune Farbe, das ädrige, kontrastreiche Muster und der Duft nach feuchtem Waldboden hin. Der Rogen an sich ist per se nicht die spannendste Zutat, gleichwohl ist seine Verwendung in dieser Variation – und im Rahmen einer vollwertigen Verwertung eines exzellenten Grundprodukts – nur schlüssig. (8/10)
Noch viel eindringlicher wird das Ganze, wenn das tatsächliche Muskelfleisch ins Spiel kommt. Dies wurde in »schwarzer Butter« gebraten, ist in einem ganz ähnlichen oder identischen Sud angerichtet und zusammen mit winzigen, in Muscovadozucker marinierten Buchenpilzen und, nun eingelegtem, schwarzem Trüffel serviert. Die Entscheidung, in diesem Fall auf (selbst-)konservierte Ware zurückzugreifen, ist eine rein kulinarische, denn der Trüffel kann auf diese Weise noch etwas dicker geschnitten werden und dabei dennoch elastisch bleiben. Die Qualität der Muschel ist phänomenal, das ist einfach großes kulinarisches Kino. (9/10)
Für den nächsten Snack richtet Imbusch einen über Holzkohle gegrillten Kaisergranat von stattlicher Größe in einem silbernen Cocktailglas an. Er ist als Fingersnack konzipiert, man zieht ihn durch einen Mix mit filigranen, quietschfrischen Kräutern, eingelegten Algen und etwas mit Dillöl verfeinerter Chilimayonnaise. Das Krustentier ist erneut von einer selten erlebbaren Güte, heiß und saftig gegart – nicht glasig – und begeistert mit rustikalen, spannenden Grillaromen, die sich zur natürlichen, nussigen Süße mischen. Die grünen Komponenten steuern eine herbe, erfrischende Komplexität bei, und die Mayonnaise – bedächtig, nicht plump, portioniert – betont den ungezwungenen Charakter der Kreation. (8,9/10)
Der nächste Snack ist der »Liebesknochen«, schon ein Klassiker hier. Das kleine »Brötchen« in Eclair-Form mit saftigem Knochenmark, kühlem, salzigem Kaviar, pikantem Schnittlauch und Crème fraîche ist die Proportionen betreffend (mit etwas mehr Präsenz des Schnittlauchs) noch eine Nuance besser als zuletzt. (8/10)
Es folgt ein hier ebenfalls gerne wiederholt genossenes, in Butter gebratenes, quaderförmiges Toast mit Deichkäse und frisch gehobeltem, dicht aufeinandergeschichtetem schwarzem Trüffel. (Normalerweise verwendet Imbusch hier sehr aromatische Champignons.) Diese, nennen wir sie einfach mal »Referenz« auf den Klassiker von Björn Frantzén muss in diesem Rahmen nicht unbedingt beim Namen genannt werden, wer es weiß, weiß es eben. Schön, dass einem dieser Genuss einfach auch mal in Hamburg unter die Nase läuft. Das selbstgebackene, luftige, buttrige Toast in Kombination mit dem Umami des Deichkäses und der kühlen, erdigen, ätherischen Frische des zu knackigen Lagen gefalteten Trüffels ist auch in den Händen von Imbusch Weltklasse. (9/10)
Eine Krustentierbisque mit Estragon und kleinen Stücken des eben genossenen Kaisergranats ist etwas »lässiger« konzipiert, buttrig, ätherisch, schaumig, herausfordernd nah an der Salzgrenze, aber exzellent; dazu gibt es einen Tartelette – erneut sehr fein gearbeitet – mit einer Creme von verbranntem Kohl, Safran und geräucherter Marone. Abermals hervorragend, vielleicht etwas rustikaler. (8/10)
»Rind und Kräuterbutter« ist dann die profane Beschreibung eines Stücks gereiften Uckermärker Rindfleischs, serviert mit einer warmen, zerlaufenden Kräuterbutter. Das Fleisch ist hervorragend gegart, hat einen authentischen Geschmack und eine magere, aber saftige Textur – das perfekte Gegenteil eines Stücks Wagyu-Rind. Das ist so gut, dass ich um eine weitere Portion bitte. (8/10)
Eine Opéra- und eine Kürbisschnitte besiegeln das Mahl auf einem etwas solideren Niveau – aber sehr gut, für das, was es jeweils sein soll. (7/10)
Mehrere Dinge sind nach diesem Mittagessen festzuhalten:
Erstens: Ein so legeres Essens-Format auf einem derart hohen Niveau hat man in dieser Stadt ganz sicher noch nie gesehen.
Zweitens: Thomas Imbusch verblüfft mit einer handwerklichen Authentizität, die ihresgleichen sucht. In einer Zeit, in der – gerade junge – Köche oft falschen Vorbildern hinterherlaufen, im schlimmsten Fall einer »Instagram-Optik«, ist Imbuschs Fokus auf gewissenhaftes Handwerk eine Offenbarung.
Drittens: Kann man Teller im »Snack-Format«, die also nicht für das reguläre Servieren am Tisch konzipiert sind, so hoch bewerten? Man kann, und ich halte solche Formate regelmäßig für unterbewertet. Ein Restaurant wie das Burnt Ends in Singapur beispielsweise, das ähnliche Portionen à la carte serviert, ist mit einem Michelin-Stern maßlos unterbewertet. Meine Bewertungen mögen teilweise mit einer kleinen Prise Vorschusslorbeeren gespickt sein, aber die Justierungen, die hier nötig sind, sind fast zu vernachlässigen.
Viertens: Hier wird nichts kaschiert. Imbusch lässt die Zutaten sprechen und versucht – gegen alle Widrigkeiten in dieser Stadt – Zutaten zu beschaffen, die nicht nur ausreichend gut sind, sondern außergewöhnlich.
Fünftens: Bei allem Respekt, den Imbusch der französischen Küche entgegenbringt, lässt er Bezüge an deutsche Geschmacksbilder nie ganz aus den Augen. Dass man eine Schlachterplatte in Tarteletteform bringt, ist Imbusch hoch anzurechnen und steht in direktem Zusammenhang zu seiner Wertevorstellung von gewissenhaftem Handwerk.
Sechstens: Wer die drei Michelin-Sterne im Blick hat, muss sich nicht nur auf Authentizität, auf Handwerk, auf Produktqualitäten und auf die fortwährende Optimierung von bereits Hervorragendem besinnen. Das ist alles Fleißarbeit. Viel schwieriger ist die Suche nach einer Handschrift. Und die hat Imbusch längst gefunden.
Mit all diesen Dingen ist Thomas Imbusch im Begriff, Innovator und Vorbild zu werden, jemand, der Andere inspiriert. Das Toast im Stil von Björn Frantzén ist ironischerweise nicht einmal ein Widerspruch dazu, weil Imbusch nicht kopieren muss, um zu reüssieren. Er kann das aber, zumindest heute, an diesem Samstagmittag, weil so ein Toast einfach herrlichen Genuss bereitet und es manchmal einfach nur darauf ankommt.
Aber Mittag ist es inzwischen auch gar nicht mehr. Meine Uhr zeigt halb sieben. Fünfeinhalb Stunden habe ich jetzt hier verbracht und könnte glatt wieder von vorne beginnen. Die Frage heißt jetzt nur: Wo geht es zum Abendessen hin?