Le Gabriel – Kokon im Achten
Im noblen 8. Arrondissement von Paris, einen Steinwurf vom Elysée-Palast entfernt, befindet sich in einem ebenfalls palastartigen Bau aus dem 19. Jahrhundert das Boutique-Hotel La Réserve Paris. Das Haus wurde im Jahr 2015 von Unternehmerschwergewicht Michel Reybier ins Leben gerufen und beherbergt neben weiterer kurzweiliger Gastronomie das Gourmetrestaurant Le Gabriel. Es wurde bereits kurz nach seiner Eröffnung mit zwei Michelin-Sternen ausgezeichnet.
Der bretonische Küchenchef Jérôme Banctel arbeitete zuvor in einigen der renommiertesten Häusern, unter anderem war er zehn Jahre lang Souschef in Bernard Pacauds L’Ambroisie. Seit einiger Zeit hört man Banctels Namen öfter, wenn es um Spekulationen bezüglich neuer drei Sterne geht. Bisher sind es Spekulationen geblieben, aber ich möchte dem Ganzen einmal auf den Zahn fühlen.
Der Speisesaal des Le Gabriel ist elegant, aber gemütlich; der freundliche Service und eine insgesamt unerwartet informelle Atmosphäre sorgen an diesem Freitagabend für einen entspannten Rahmen.
Angeboten werden zwei Menüs unterschiedlichen Umfangs und unterschiedlichen Stils. Das kleinere Menü (»Virée«, 278 €) ist der bretonischen Heimat der Küchenchefs und jodigen, maritimen Zutaten gewidmet, das größere ist eine Rundreise ohne definierte Grenzen (»Périple«, 338 €), dessen Zutaten mich heute Abend ein wenig mehr reizen.
Zum Aperitif mache ich da weiter, wo ich am Nachmittag an der Bar Le Gaspard zu einigen sehr guten asiatischen Snacks begonnen habe, mit einer Flasche 2015er Cos d’Estournel Blanc (377 €). Das berühmte Weingut in Bordeaux befindet sich ebenfalls im Besitz der Eigentümerfamilie des Hotels, entsprechend umfangreich ist die Weinkarte damit ausgestattet.
Erste Snacks kommen in Form von Pommes soufflées mit Piment d’Espelette, federleicht und mit angenehmen Räuchernoten vom pikanten Paprikagewürz (7,9/10), sowie einem Wachtelei mit gepufftem Buchweizen auf einer senfbetonten, cremigen Vinaigrette – mit exzellent integriertem »Getreidegeschmack« und appetitlicher Säure (8,5/10).
Ein kleines Miniatur-Focaccia mit Bärlauchpesto im Anschluss ist warm, weich und herzhaft, aber eine Nuance zu trocken (7/10), und eine herzhafte Tartelette mit geschmortem Schweinskopf erfreut mit einem erfrischenden, an Minze erinnernden Aroma, ist dabei aber etwas massig (7/10). Eine zurückhaltende Portionierung ist gerade bei Amuse-Bouches unerlässlich, um nicht zu schnell einen sättigen Eindruck zu hinterlassen.
Ein fünftes Amuse folgt noch. Es gibt Taschenkrebs mit verschiedenen Zubereitungen von Fenchel, unter anderem eingelegt und als kühlendes Gel. Sancho-Pfeffer peppt die maritim-kühle Kombination mit blumigen, ätherischen Noten auf. Das ist exzellent, aber in Hinblick auf neun Gänge, die noch die Speisekarte zieren, kommt bei mir nun auch der Wunsch auf, dass das eigentliche Menü beginnt. Nicht ist ärgerlicher, als den Hauptgang nicht mehr genießen zu können. Ich bin für die Thematik in letzter Zeit etwas sensibler geworden. (7,9/10)
Den nächsten Wein betreffend bin ich ebenfalls fündig geworden. Wenn man berücksichtigt, dass man in diesem Hotel für eine Übernachtung in jedem Fall einen vierstelligen Betrag loswird, ist die Karte vergleichsweise fair kalkuliert. Sogar im Bereich von unter einhundert bis zweihundert Euro sind sehr gute Weine zu finden – auf diesem Niveau in Paris keine Selbstverständlichkeit. Im Austausch mit dem Sommelier fällt meine Wahl schließlich auf einen 2018er Morey-Saint-Denis 1er Cru »Les Chaffots« von der Domaine Lucien Le Moine (350 €).
Das Menü beginnt dann offiziell mit einer Variation um das Thema Karotte. Die in Tellermitte täuschend echt aussehende Rübe besteht tatsächlich aus einer Art Karottenhülle, bei der ein Garprozess mit Kalk eine Rolle spielt. Die Hülle ist mit einer weiteren Zubereitung aus Karotte farciert und mit Estragon dekoriert. Weitere Zubereitungen des Gemüses zieren den Teller, unter anderem eine Karottensauce mit säuerlich mariniertem Ingwer und Schnittlauch. Durch den Einsatz letzterer beiden Zutaten gewinnt das Gericht enorm, weil eine markante Säure mit leichter Schärfe vom Ingwer im Mittelpunkt stehen – und nicht etwa triviales Karottenaroma und dessen Süße. Eine kleine Brioche, die eher an einen Berliner erinnert, hilft dabei, auch den letzten Rest der Sauce aufzunehmen. Geschmacklich und handwerklich ist das hervorragend, wenngleich Konstruktionen von Zutaten, die so aussehen als wären sie echt und sich dann als etwas aus ihnen Hergestelltes entpuppen, mich immer nur in Grenzen begeistern. Eine wahrhaftige, etwas weicher gekochte Karotte hätte hier mindestens dieselbe Berechtigung gehabt. (8/10)
Es geht weiter mit Jakobsmuschel. Man findet sie auf dem Teller horizontal geteilt, also in Form zweier etwas flacherer Stücke. Banctel serviert sie fast roh, ohne jegliche Röstnoten, um ganz offenkundig die Ausnahmequalität des Produkts für sich sprechen zu lassen. Und anstatt die Muschel aromatisch zu kontrastieren, bleibt die Kreation auch bei den weiteren Zutaten aromatisch im Hintergrund. Geschabter Daikon schlängelt sich neben die Muschel und ist mit einer leichten, mit korsischen Zitrusfrüchten behutsam aromatisierten Vinaigrette angemacht. Die Proportionen verwundern etwas, da der Rettich im Vergleich zur Muschel deutlich überrepräsentiert ist. Wenn schließlich nur noch der Rettich auf dem Teller ist, wird die geschmackliche Zurückhaltung des Gerichts irgendwann ein wenig langweilig – ohne den Kontext eines gleichwohl hervorragenden Gerichts zu verlassen. (7,9/10)
Der nächste Gang bleibt produktfokussiert. Eine prächtige, bissfest gegarte Stange weißer Spargel wurde mit dünnen Tranchen von geräuchertem Aal belegt. Das sorgt für ein eindringliches, aber dennoch elegantes, Lagerfeueraroma sowie für geschmackliche Tiefe. Eine samtige Sauce auf der Basis von schwarzer Olive fügt einen Hauch Mittelmeerassoziation hinzu, die noch durch einen mit Zitrusfrüchten angemachten Spargelsalat weitergetragen wird. Ein schlichter und doch bisher hervorstechender Gang. (8,5/10)
Die Kompositionen bleiben bemerkenswert reduziert. Gerade einmal drei Komponenten zieren den folgenden Gang, bei dem Kaisergranat im Mittelpunkt steht. Das ausgelöste Exemplar sieht makellos aus, fast unberührt, die zweifarbige Palette mit Altweiß und Blassrosa deutet auf eine behutsame Garung hin. Tatsächlich ist das Krustentier bis auf eine im Kern noch leicht glasige Garung völlig unbehandelt. Weder Salz noch Röstaromen sollen von dem authentischen Produkt ablenken. Probiert man dazu der Abwechslung halber (man traut sich kaum) eine der beiden anderen Zubereitungen, »lackierte« Mango sowie mit yuzukoshō aromatisierte Passionsfrucht, macht sich jedoch ein Ungleichgewicht bemerkbar. Die Betonung des Kaisergranats mit exotischen Aromen und straffer Säure steht im Widerspruch zu seiner fragilen, fast hilflos erscheinenden Natürlichkeit, die aber ihrerseits nach einigen Bissen etwas langweilig wird. Zu wenig hier, zu viel dort – damit fällt das Gericht auf ein immer noch »sehr gutes« Niveau zurück, schade nur, dass man aus derart exzellenten Rohstoffen und mit einem offenkundig sehr präzisen Handwerk nicht mehr herausholt. (7/10)
Derweil ist die Atmosphäre im Restaurant entspannt, der Wein im Zalto-Glas ein Genuss und das Personal freundlich, humorvoll und immer elegant (wir sind in Paris). Das Gefühl, gerade ein kulinarisch außergewöhnliches Essen zu erleben, entsteht bisher nicht, dennoch lullt mich das gesamte Haus mit seinem aristokratischen Charme ein.
Der nächste Teller präsentiert ein Filet von bretonischem Wittling, schneeweiß, mit akkurat angeritzter und sichtlich über Holzkohle gegrillter Haut. Der Fisch ist zweierlei Saucen angerichtet, einmal eine Sauce aus Staubmuscheln, die sich in kleinen Stücken auch auf dem Teller befinden, sowie in einer klassischeren, dunklen Sauce. Dazu gibt es Spitzmorcheln und Erbsen, insgesamt also eine für klassischsten Hochgenuss prädestinierte Kreation. Die Morcheln sind bei dem Gericht von außergewöhnlicher Qualität. Am süffigen, wohlschmeckenden Rest gibt es zumindest zu bemerken, dass die Erbsen etwas unreif sind (was für einen leicht »pappigen«, »chlorigen« Eindruck sorgt) und das Gericht es mit dem Salzgehalt eine kleine Prise übertreibt. Diese Punkte kann ich lediglich vom höchstmöglichen Genusspotenzial dieses Tellers deduzieren, sodass unterm Strich immer noch ein hervorragendes Gericht steht. Oder vielmehr: nichts davon. (8/10)
Etwas verspielter ist dann eine Art »Pasta« aus Tintenfisch. Dünne Streifen des gegarten Tiers wurden hierfür zu einem kleinen Nest aufgerollt und mit einer Sauce aus Tintenfischtinte sowie mit Kaviar getoppt, was für ein maritim-salziges Geschmacksvergnügen sorgt. Den letztlichen »Kick« gibt dem Gericht ein intensiver, nicht entfetteter Entenjus mit pikantem Piment d’Espelette, was in Kombination mit dem Meerestier an eine gewissenhaft zubereitete XO-Sauce erinnert. Stilistisch mal etwas auszubrechen steht dem Menü gut, das ist bisher der kurzweiligste Gang. (8,5/10)
Es geht noch einmal herzhaft weiter. Ein Stück Milchlamm mit leicht knusprigem Fettdeckel thront beim folgenden Teller in einer intensiv nach Kardamom und anderer Exotik duftenden Sauce, dazu gibt es eine crépinette aus geschmortem Lamm sowie ein Stück Süßkartoffel. Der Star des Tellers ist mit Abstand die Sauce, ein Lammjus, den man mit allerlei umamibetonten Zutaten wie Pinienkernen, geschmorten Zwiebeln, Tomaten und Kräutern aufgepeppt hat. Der Haken ist nur: auf das Lamm passen Attribute wie fad, wässrig und langweilig – ausgerechnet bei Milchlamm ein leider nicht seltenes (und zweifelhaftes) Problem. Mit einem herausragenden Hauptprodukt wäre das Gericht – besonders wegen der hervorragenden Sauce – ein Hochgenuss, doch so zieht das Lamm das Vergnügen leider deutlich nach unten. (7/10)
Ein entspannter Dialog mit jemandem aus dem Service über das Gericht veranlasst diesen zu einer »Überraschung« in Form eines zum ersten Dessert eingeschenkten 2010er Tokaj Hétszölö Aszu 5 Puttonyos – das Weingut befindet sich ebenfalls im Besitz der Reybier-Familie.
Der Wein passt gut zu einer ausgelösten und marinierten »Gold«-Kiwi, die auf einem Haselnuss-Mandel-Cracker und einer Sauce mit Estragon und Zitronenmelisse angerichtet und mit einer Chartreuse-Sabayon getoppt ist. Die Kreation schmeckt sehr gut, wirkt aber auch etwas trivial, fast wie ein Frühstückssnack. Kiwis haben so ihre Grenzen. (7/10)
Aber die Patisserie bäumt sich noch einmal auf. Eine Interpretation eines Baba mit Woodford Reserve-Whiskey ist auf einem köstlichen, hauchdünnen Sablé Breton angerichtet, der eine weiche, köstliche »Knusprigkeit« mitbringt. Die Sauce mit Tahiti-Vanille, in der das Küchlein angerichtet ist, schmeckt intensiv, fast pikant, aber authentisch nach Vanille, und der Whiskey aus Kentucky mit seinen karamelligen Noten passt dazu mindestens so gut wie karibischer Rum. Wunderbar. (8,9/10)
Eine weitere Kreation mit geschmortem Apfel, Dill und Honig ist erfrischend, ätherisch und schmeichelnd (8/10), und ein Kokoseis mit von mir nicht mehr notierten Zutaten bringt noch einen Getreidegeschmack mit und ist schlicht die beste Speise des Abends (9/10).
Von den (derzeit fünfzehn) Pariser Zwei-Sterne-Restaurants habe ich noch nicht allzu viele besucht. Zu groß ist in dieser Stadt entweder die Verlockung am oberen Ende – oder am guten unteren. In Hinblick auf das von den hiesigen Drei-Sterne-Restaurants nicht allzu weit entfernte Preisniveau des Le Gabriel bestätigt sich daher die Strategie, hier entweder das ganz Große oder das gute Einfache zu suchen. Der heutige Abend war irgendwo dazwischen, durchaus auch mit Tendenzen nach oben – doch die Richtung, die man hier einschlägt, ist keinesfalls eindeutig. Während man sich hier also noch findet, ziehe ich mich in mein aristokratisches Zimmer im dritten Obergeschoss zurück und beschließe, dass dieser ganze surreale Kokon an der Avenue Gabriel durchaus eine Reise wert ist.