Haerlin ‒ hoher Tisch, höchste Küche
Der Hochtisch gleich links neben dem Eingang, umrahmt von den wandhohen Weinkühlschränken, ist eigentlich kein regulärer Tisch für den regulären Gast. Ich habe ihn mir irgendwann einfach zu meinem Tisch gemacht, um mir einen etwas informelleren Rahmen in Hamburgs luxuriösestem Restaurant zu schaffen.
Von der leicht erhöhten Position hat man einen wunderbaren Überblick über das Geschehen im Saal. Zudem ist man unter sich, ohne vom kurzweiligen Treiben im Restaurant abgeschnitten zu sein. Regelmäßiges Herumalbern mit dem Service gibt es an diesem Platz inklusive, stilvoll und very British natürlich, denn Restaurantleiter Thomas Andrew stammt aus dem Nordosten Englands und ist immer für gepflegten Spaß zu haben. Sommelier Marcel Ribis komplettiert das perfekte Service-Duo mit seiner schelmischen Art und mit charmantem österreichischem Akzent ‒ leider heute Abend zum letzten Mal. Ein nicht so einfach auszugleichender Verlust.
Mein Bedürfnis nach etwas weniger Luxus ‒ wenngleich das natürlich nur eine Illusion ist, immerhin ziert den Hochtisch eine schwere, auf Hochglanz polierte Marmorplatte ‒ kam mit der Entscheidung, meine Besuchsfrequenz im Haerlin deutlich zu erhöhen. Ich sage manchmal nicht ganz ironisch, dass man eigentlich nur noch hier einkehren sollte, um sich vor den vielen anderen kulinarischen Enttäuschungen in der Stadt zu schützen. So komme ich inzwischen häufiger, Walk-ins für ein, zwei Gänge oder sogar nur für etwas Käse sind keine Seltenheit. Oft artet das aber aus. Ich arbeite noch daran.
Heute Abend soll es auf jeden Fall mal wieder das volle Programm sein. Gaumenparty nennt Christoph Rüffer nach wie vor eines seiner beiden Menüs (€ 185), auf das ich mich heute komplett einlasse.
Erste Amuse-Bouches sind ein Anisbaiser mit Ostseeaal ‒ wunderbar rauchig-süßlich, vollmundig und dank einer Meerrettichcreme leicht pikant ‒ (9/10) sowie ein angenehm kühles Rindertartar, dem Wacholderbeeren eine verblüffend harmonische Gin-Aromatik hinzufügen (9/10). Wie immer sehr präzise kombiniert und alles von feinster Qualität. Der regionale Bezug ist bei Rüffer kein Dogma, sondern allerhöchstens ein respektvoller Wink.
Viel lieber blickt der Küchenchef zu unseren Nachbarn in Südwest und serviert jetzt z. B. außerhalb des Menüs eine perfekt gebackene, fingerdicke Scheibe getoasteter Brioche, dazu ein Stück makellos zubereitete Gänseleberterrine mit Trüffeln in Portweingelee sowie eine Pflaumenmarmelade, die etwas auflockernde Säure und Frucht mitbringt. Die klassische Kombination wird ergänzt um einen à part servierten luftigen Kartoffelschaum mit Limone, Ei und Champignons ‒ ein grenzenlos süffiges Wohlfühlgericht zum Augenschließen, schlicht sensationell. (10/10)
Ein weiteres Amuse-Bouche ist eine über Buchenholz geräucherte Bachforelle aus der Lüneburger Heide. Das qualitativ exzellente Produkt, angenehm warm, gelangt in einem Dashi aus Himbeeren, Erdbeeren, Kombu, Bonito-Flocken und roter Bete an den Tisch. Das Schälchen duftet nach geheimnisvollem Rauch von einem entfernt knisternden Lagerfeuer und begeistert am Gaumen mit einer fein austarierten Balance aller Grundgeschmacksrichtungen. (8,5/10)
Der erste Gang des Menüs ist eine rund angerichtete Kollektion von Tomaten verschiedener Sorten von einem Biohof in Schleswig-Holstein. Eine konzentrierte Tomaten-Essenz verstärkt den vollmundigen Umami-Geschmack, während grüner Spitzrettich und geeiste Estragonperlen für frische Akzente sorgen. Eine eingelegte Perlzwiebel sowie eine Paprikacreme und Auberginenkaviar fügen dem Gericht weitere Geschmackstiefe sowie etwas Exotik hinzu. Eine Ode an fantastische Produktqualität. (8,9/10)
Wenn der Duft des folgenden Tellers die Rezeptoren der Nase erreicht, nimmt man wahr, wie sich die leichte medizinische Bitterkeit von feinstem iranischem Safran mit Zitrus- und Meeresaromen zu einem betörenden Aroma-Melange vereinen. Der unter anderem mit Bouchot-Muscheln gekochte Sud ist die Bühne für ein perfekt gegartes, sehr saftiges Filetstück von isländischem Kabeljau von einer in Hamburg sonst kaum zu begegnenden Güte. Vor allem die elegante Kombination von Safran und Zitrusaromen ist brillant, wenngleich es noch einen Hauch mehr von dem exzellenten Safran hätte sein dürfen. (8,9/10)
Doch der kommt glücklicherweise gleich wieder zum Einsatz. Ein ins Menü eingeschobener Zwischengang mit Kaisergranat und verschiedenen Muschelsorten kommt mit einem klassischen Krustentierfond und pikanten Safranakzenten. Das Krustentier ist von bilderbuchartiger Perfektion, lediglich eine Scheibe Lauch passt geschmacklich nicht so recht zu dem Ensemble. Dennoch hervorragend. (8/10)
Marcel Ribis tobt sich derweil aus. Immerhin ist es sein letzter Abend. Offen sind u. a. ein 2012er Riesling „Smaragd“ vom Weingut Knoll in der Wachau, ein 2014er Meursault „Sous de los d’Âne“ von der Domaine Leflaive, ein junger roter Château Haut-Brion wird gerade geöffnet, ich verliere ‒ nur allzu gern ‒ den Überblick über die vielen großartigen Tropfen.
Regulär geht es mit Wolfsbarsch weiter. Erneut setzt die Qualität des Fischs in Hamburg Maßstäbe, erneut ist die Sauce ‒ ein buttriger, leicht schaumig aufgeschlagener Bouillabaisse-Jus ‒ auf Weltklasseniveau. Der scharf angebratene Fisch hat eine krosse, leicht zu durchteilende Haut, ist innen schneeweiß, saftig und heiß. In Kombination mit streifenförmig angerichteter Zucchini, Taggiasca-Oliven und einer Creme aus Kalamata-Oliven hat man hier die wunderbaren Aromen des Mittelmeers auf dem Teller. (8,5/10)
Die frankophile Genussreise geht weiter. Es gibt ein Cordon Bleu von Kalbsbries und Gänseleber, ein wahres signature dish des Hauses, dessen Perfektion Rüffer in dieser Variante auf die Spitze treibt. Das handwerklich hervorragende Konstrukt aus zartem Bries und ebenso zarter Gänseleber, mit einer betörend knusprigen Ummantelung, ist in einer schaumigen, ganz leicht pikanten Sauce gebettet, die unter anderem Parmesan und Trüffeln enthält. Dies sorgt durch Geschmacksspitzen in Richtung Umami und Salzigkeit für süffigen Wohlgeschmack in Vollendung. Großzügige Mengen von qualitativ exzellentem schwarzem Trüffel aus Australien mit einer feinen „erdigen“ Süße, vollenden ein perfektes klassisches Geschmacksbild. Ein kleiner Kräutersalat in einer Miso-Artischockencreme unterstreicht eine moderne Leichtigkeit, der das Gericht trotz seiner vollmundigen Üppigkeit innewohnt. (10/10)
Um von diesem Genussgipfel nicht gleich wieder herunterzufallen, gibt es noch ein quaderförmig präpariertes Bruststück qualitativ exzellenten Huhns („Schönmoorer Freilandgockel“), saftig sous-vide gegart und kross fertiggebraten. Dicke Scheiben Trüffel, kleine, aromatische Pfifferlinge und Trompetenpilze sowie eine traumhafte, drei Tage lang reduzierte Albuféra-Sauce setzen erneut klassische Akzente sowie Ausrufezeichen hinter Wohlgeschmack, Balance, Handwerk und Produktqualitäten. Eine kleine „Frikassee-Praline“ sowie mit Ingwer aromatisierte Karottencreme begeistern zusätzlich. (9/10)
Der süße Teil des Abends ist ein weiterer Abschnitt, auf den man sich hier uneingeschränkt freuen darf. Die Patisserie des Haerlin hat nach dem Fortgang von Christian Hümbs mit Steffi Schmeichel zu neuer Größe gefunden. Während Hümbs mit seinen höchst kreativen Kreationen zweifellos großartige Desserts ersann, die mich jedoch nicht selten nach Klassischerem schmachtend zurückließen, geht es mit Schmeichel wieder etwas bodenständiger ‒ aber dennoch zeitgemäß und kreativ ‒ zu.
Ein Pré-Dessert mit geschmacksintensiver Mango in verschiedenen Zubereitungen wird mit Avocadocreme, Koriander und Olivenöl serviert. Letztere Komponenten sind behutsam und sehr gekonnt dosiert, sodass der fruchtig-süße Mangogeschmack im Vordergrund steht. Durch das Olivenöl ergibt sich gleichzeitig eine gelungene Üppigkeit. Ein sehr guter, frischer Auftakt in den süßen Teil des Abends. (8/10)
Das eigentliche Dessert ist eine hübsche Kreation in Form einer Schokoladen-Kaffee-Ganache mit Haselnuss und Blaubeeren. Diese an sich schon treffsichere Kombination besticht vor allem durch die exzellente „Cru Virunga“-Schokolade aus dem Kongo (von Original Beans) sowie dem behutsamen Einsatz von Lavendel. Eines der besten Desserts, die ich seit langem gegessen habe. (8,9/10)
Auch die Pralinen sind hier alle auf absolutem Spitzenniveau. Von betörenden Schaumküssen über Macarons bis zu kunstvoll dekorierten Pralinen mit diversen hervorragenden Füllungen sind alle zum Nachbestellen gut.
Die Küche im Haerlin ist derzeit auf ihrem Höhepunkt und steht für mich an Hamburgs Spitze. Fehlings Drei-Sterne-Tisch führt diese zwar offiziell an, doch Rüffers viel abwechslungsreichere, qualitativ beeindruckendere, duftendere und französischere Küche begeistert mich ungemein.
Als ich diese Zeilen schreibe war ich schon wieder im Haerlin. Nur kurz. Ganz spontan. Zu einem kleinen, wunderbaren Steinbutt und etwas Käse von Bernard Antony. Nur mein Hochtisch war nicht mehr frei. Ich war ein kleines bisschen pikiert.
Informationen zu diesem Besuch | |
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Restaurant: | Haerlin (→ Website) |
Chef de Cuisine: | Christoph Rüffer |
Ort: | Hamburg, Deutschland |
Datum dieses Besuchs: | 01.09.2018 |
Guide Michelin (D 2018): | ** |
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