100/200 ‒ Gas geben
In Hamburg sehr gut essen zu gehen ist grundsätzlich eine kniffelige Angelegenheit. Wer das schönredet, hat entweder nicht genug Erfahrung gesammelt, um dies beurteilen zu können, oder leidet unter dem deutschen Genügsamkeitsproblem ‒ was in etwa auf dasselbe hinausläuft.
Wer unter diesen ohnehin schon widrigen Umständen auch noch nach Restaurants sucht, die gastronomisch oder kulinarisch wirklich etwas bewegen wollen ‒ sei es nur in Hamburg ‒, hat eine mühsame Aufgabe vor sich. Selbst die besternten Restaurants sind nicht alle ein Garant für spannende Küche oder kurzweilige Gastronomie.
Hier und da hört man immer wieder mal von Hoffnungsschimmern, aber die ernüchternde Realität holt einen meist wieder ein, wenn der erste Teller mit denselben mediokren Produkten der ewig selben Lieferanten vor einem steht.
Wussten Sie, dass Jochen Kempf, ehemaliger Küchenchef des inzwischen geschlossenen Sternerestaurants Prinz Frederik im Hotel Abtei, inzwischen bei einem Klischee-Italiener im Stadtteil Pöseldorf in Sahnesauce ertrinkende Spaghetti Carbonara serviert? Er tut das, weil das Publikum genauso danach fragt wie nach der Grauburgunderschorle, und weil auch für einen einstigen Sternekoch Lohn und Brot nicht auf den Bäumen wächst. Um nicht aus der Übung zu kommen, veranstaltet Kempf von Zeit zu Zeit eine Art Geheimdinner für Freunde seiner eigentlichen Fähigkeiten. Dieses verschenkte Potenzial zeigt, wie schlecht es um die Nachfrage nach Qualität in dieser Stadt steht.
Die beste Carbonara, die ich seit langem ‒ und in Hamburg überhaupt ‒ gegessen habe, aß ich gerade im neuen Restaurant von Thomas Imbusch. Er serviert sie in einer heißen Kokotte von Le Creuset direkt an den Tisch. Das feine Porzellanschälchen von Hering daneben brauche ich gar nicht.
Die faustgroße Portion selbstgemachter, hauchdünner Bandnudeln ist perfekt bissfest gekocht, in einem (hörbar!) schlotzig-süffigen Melange aus Ei, Parmesan, Pancetta und etwas Petersilie, die Salzgrenze dabei, wie so oft von Imbusch, ausgereizt, aber nicht überreizt. Alle Zutaten werden erst am Tisch mit den Nudeln vermengt. So eine Pasta könnte man auch in den besten Italienern in New York servieren, ohne dass jemand auf die Idee käme, ze Krauts wären in ze house. (7/10)
Endlich kann man wieder bei Imbusch essen. Nachdem das Madame X im Off Club seit nahezu einem Jahr Geschichte ist ‒ und für mich eine der kurzweiligsten kulinarischen Geschichten der Stadt geschrieben hat ‒, stand ich auf einmal wieder wie der Ochs vorm Berg. Man kann ja nicht jeden Tag ins Haerlin gehen, der derzeit sichersten Bank für kulinarische Begeisterung auf jedem Teller.
Thomas Imbuschs neues Restaurant heißt 100/200, ausgesprochen Hundert, Zweihundert. Der Zusatz „Kitchen“ im Logo ist nicht Teil des Namens, sondern ein Hinweis auf das Konzept, dass die Küche der Dreh- und Angelpunkt des Restaurants ist.
Ein französischer Molteni-Herd, also der Rolls-Royce unter den Herden, bildet das Zentrum des Restaurants. Auf dem Herd kocht es (bei hundert Grad) und backt es (bei zweihundert Grad), daher der Name, der widerspiegeln soll, worum es Imbusch geht: um die Essenz guten Kochens. Um Handwerk, Gastgebertum und Genuss ‒ und um Wertschätzung, einerseits gegenüber den Produkten, andererseits auch gegenüber seinem Restaurant selbst. Einen Teil dieser Wertschätzung bringt der Gast automatisch mit, weil er sich auf das Online-Reservierungssystem Tock einlassen muss, bei dem man das Essen im Voraus bezahlt (€ 95-119, abhängig vom Wochentag). Ich habe als Gast keine Probleme mit diesem Prinzip.
Innerhalb von fünf Wochen war ich jetzt schon vier Mal im 100/200. Das erste Mal, noch vor der offiziellen Eröffnung, kochte man sich noch etwas holprig ein. Wer in dieser Voreröffnungszeit hier war ‒ das waren nicht wenige ‒, verließ das Restaurant daher schon mal mit einigen Fragezeichen.
Ich bin wiedergekommen und konnte in den ersten vier Wochen schon eine bemerkenswerte und erfreuliche Entwicklung feststellen.
Das Menü beginnt derzeit mit fünf Appetizern, die man im Stehen direkt an der Küche zu sich nimmt. Jeder Snack thematisiert eine der Grundgeschmacksrichtungen. Ein leichtes Baiser mit Kartoffel, Kaffee und Kakao spricht behutsam ‒ und immer noch gut als Apertif-Snack passend ‒ die Rezeptoren für Süße an (7/10); ein kleines Stück Gebäck aus hervorragend gebackenem Blätterteig mit Tomate und Basilikum thematisiert Säure und schmeckt italienisch (6,9/10).
Elegant salzig ist eine pochierte irische Felsenauster mit Kimchi und nicht näher beschriebenem „Fett“. Kimchi ‒ in Form von fermentiertem Gemüse ‒ sowie eine kleine Portion Kimchi-Mayonnaise liefern etwas Säure und eine feine Schärfe. Der kleine, angenehm lauwarme Snack schmeckt nach Meer, Urlaub und Abenteuer. Wer keine Austern isst, sollte diese unbedingt probieren. (7,9/10)
Den bitteren Geschmackssinn spricht eine halbierte kandierte Olive an, gefüllt mit einer Zubereitung aus Albedo ‒ das ist der innere, weiße Teil der Zitronenschale ‒ und mit einer Dillblüte. Die floralen Aromen der kleinen Speise gefallen mir hier besonders gut (7/10). Für appetitanregenden Umamigeschmack sorgt dann eine unter anderem mit Hühnerfüßen gekochte Brühe, die angenehm an den Lippen klebt; Kombu-Algen justieren das handwerklich und geschmacklich sehr ansprechende Elixir in Richtung Fernost (7/10).
Nach diesem durchdachten Start geht es an den Tisch. Fast alle Plätze bieten einen traumhaften Ausblick auf die Elbbrücken und, weiter am Horizont, die Kulisse der HafenCity. Der industrielle Charme des noch wenig erschlossenen Stadtteils Rothenburgsort passt ideal zu Imbuschs Küche, die sich ausdrücklich vom Mainstream abheben möchte.
Der Eindruck, in einer Küche zu sitzen, wie es der Namenszusatz suggeriert, ergibt sich indes weniger. Zuzuschreiben ist das vor allem der Platzierung der Küche auf einem Sockel. So blickt man, wenn man in Richtung Küche schaut, ein wenig nach oben auf die Götter in Weiß. Die Distanz zum Gast wird aber regelmäßig dadurch abgebaut, dass meist Imbusch persönlich die Gerichte am Tisch serviert.
Eine der aktuellen Vorspeisen ist zum Beispiel eine bereits in den ersten Wochen mehrfach optimierte Version von Bachforelle aus der Luhe mit Grapefruit und Haselnuss, serviert auf Chawanmushi, der japanischen Version von Eierstich. Mittlerweile lässt man letzteren jedoch weg und präsentiert das Ganze eingerollt in Rettich, die bisher beste Version des Gerichts. (7/10)
Besser wird es, wenn Imbusch seine lässig-süffigen Löffelgerichte kocht. Unter einem heißen, schaumigen, sehr wohlschmeckenden Sud mit weißem Pfeffer findet man zarte Schnecken, frische junge Erbsen und einen mit einer leichten Knoblauchcreme und Zitrone gefüllten Raviolo. Verschiedene Kräuter tragen zu weiterer Finesse bei. Das ist ausgezeichnet. (7,5/10)
Ebenfalls sehr gut ‒ an einem anderen Abend ‒ ist ein ähnlich konzipierter Gang, allerdings mit völlig anderem Geschmacksbild. Diesmal ist der Sud buttriger und wegen der Zutat Salsiccia angenehm pikant, verschiedene Bohnen bieten süffige Rustikalität. (7/10)
Eigentlich rankt sich ein Menü bei Imbusch mehr oder weniger immer um ein bestimmtes Tier. So gab es beispielsweise die Bachforelle auch noch mal in einer heißen Variante als Filet, mir krosser Haut auf den Punkt gebraten und direkt in der Pfanne auf den Tisch serviert. Dazu, auf einem separaten Teller, gibt es ein blumig frisches Arrangement mit Mairüben, Dillöl, Forellenkaviar, Sauerkrautsud und Fliederbeeren. Ein gefrorenes Kefir-Granité (nicht abgebildet) überrascht bei diesem ideenreichen Gericht ebenfalls positiv. (7/10)
Sommelière Sophie Lehmann hat zu Imbuschs Küche eine kurzweilige Weinkarte zusammengestellt. Vieles davon stammt unverkennbar aus dem Sortiment von Platzhirsch Hendrik Thoma ‒ zum Beispiel ein außergewöhnlich eleganter 2014er Zinfandel „Fog Monster“ Moss Vineyard aus Sonoma, Kalifornien (€ 109) ‒, aber es gibt auch spannende Raritäten aus aufgekauften Weinkellern wie z. B. einen 1986er Château Branaire-Ducru, den ich hier für faire € 99 schon mehrmals öffnen ließ.
Als an einem Abend „Huhn“ das Thema war, gab es ein saftiges, sehr zartes Bruststück vom niedersächsischen Weidehuhn, übergossen mit einer Sauce rouennaise, darauf im Fett von Hühnerherzen knusprig gebratener Knoblauch sowie geschmacksintensiver Estragon. Das erinnert an aristokratische französische Festessen (7/10). Das folgende „Hühnerklein“, scharf angebraten und in einer sahnig-buttrigen Sauce angerichtet, lässt danach etwas Leichtigkeit vermissen (6,9/10), aber der Gang ist schon wieder Schnee von gestern.
Ein besonderes Highlight sind auch die Kreationen von Patissier Mario Michaelis, der sich am liebsten französischen Klassikern widmet, z. B. Macarons mit Rose und Litschi als Hommage an die berühmte Kreation von Pierre Hermé (7/10) oder einer fast schon paranoid perfektionierten brioche feuilletée aus hauchdünnen Lagen buttrigen Blätterteigs, die ich zu den besten Gebäckstücken zähle, die ich je gegessen habe.
Das 100/200 ist eine große Bereicherung für Hamburg. Bewusst distanziert sich das Restaurant geografisch, kulinarisch und gastronomisch von allen anderen Restaurants in der Stadt. Die Küche ist dabei nicht einfach eine Fortsetzung der Menüs der Madame X, Imbuschs früherer Werkstätte, was man als ehemaliger Stammgast zunächst vermisst. Doch Imbusch hat sich freigeschwommen und ein neues Kapitel aufgeschlagen. Der kulinarische Auftakt von einem der zweifellos spannendsten Restaurants Hamburgs ist noch weit entfernt von einem Erlebnis à la Frantzén oder Chef’s Table at Brooklyn Fare, aber das Konzept zielt dorthin, und der Fokus auf Authentizität und Qualität bei Handwerk und Zutaten macht Imbuschs Küche schon von Haus aus gut. Sehr gut sogar. Ich sehe den Molteni-Herd damit in besten Händen. Mögen die Gasregler immer am Anschlag sein.
Informationen zu diesem Besuch | |
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Restaurant: | 100/200 (→ Website) |
Chef de Cuisine: | Thomas Imbusch |
Ort: | Hamburg, Deutschland |
Datum dieser Besuche: | 21.07.2018, 03.08.2018, 16.08.2018, 30.08.2018 |
Guide Michelin: | noch nicht bewertet |
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