Kichisen – über Überwindung

Mein Besuch im Kichisen ist von Beginn an typisch für ein Erlebnis in einem Kaiseki-Restaurant. Bereits als das Taxi vor der Tür hält, steht jemand draußen, der mich mit meinem Namen begrüßt und ins Haus hinein begleitet. Es wird sich viel verbeugt und bedankt. Der Gedanke, Gäste vor dem Haus persönlich zu empfangen und dort auch wieder zu verabschieden, ist eine Geste der Gastfreundschaft, die man in den meisten Kaiseki-Restaurants erlebt.

Nachdem man sich obligatorisch im Eingangsbereich die Schuhe ausgezogen hat, tritt man in die typische Welt aus beigem Bambusholz und mit mattweißem Papier bespannten Türen ein. Alles ist ein bisschen kleiner als bei uns, wirkt fragil und unberührt. Es fühlt sich an wie der Eintritt in eine Miniaturwelt.

Auch der Tisch und die Stühle des Speisezimmers, in dem ich heute Abend esse, wirken so als hätte man sie auf halber Höhe abgesägt. Immerhin kann man hier jedoch eine relativ normale Sitzposition einnehmen. Es bietet sich grundsätzlich an, sich hier etwas legerer anzuziehen als man das bei uns in einem Spitzenrestaurant tun würde. Smart casual ist überall völlig ausreichend und ein Anzug für Herren nahezu überall fehl am Platz. Damen werden es mit einem Abendkleid in der Regel auch schwer haben, sich bequem den niedrigeren Dimensionen – oder gar einem Platz auf dem Fußboden – anzupassen.

Der sehr freundliche und gutgelaunte „Haupt-Kellner“ spricht einigermaßen gut Englisch, was die Kommunikation heute Abend stark vereinfacht. Das von mir im Vorfeld gewählte Menü ist die Variante für ¥ 28.000 (ca. € 234), allerdings wird man mit diesen lästigen Details bis zur Rechnungsstellung ohnehin nicht konfrontiert. Auch das ist ganz offensichtlich Teil eines grundsätzlichen Höflichkeitsverständnisses. Es ist für alles gesorgt, es gibt keinen Klärungsbedarf. Außer dem Getränkewunsch. Ich bestelle Bier vorweg und eine Flasche kalten, trockenen Sake (Kokuryu „Daiginjyo Ryu“ aus der Region Fukui, ca. € 58 für 360 ml). An dieser Kombination habe ich hier inzwischen Gefallen gefunden.

Warme, feuchte Handtücher, ein paar Verbeugungen noch, und dann beginnt das Essen – ganze sechseinhalb Stunden nach meinem Mittagessen im Chihana. Geht auch schon wieder.

Das Menü beginnt mit einem warmen Begrüßungs-Sake, süß fermentiert. Die Textur erinnert an Milchreis, der Geschmack ist angenehm, vor allem durch etwas zusätzliche Zitrusfrucht.

Drei Schälchen werden serviert. Es gibt Chips aus frittiertem Gemüse, die überraschend blumig schmecken (7/10); dann gibt es eine seltsam anmutende Zubereitung aus fermentierter Lilienblüte, die ein bisschen wie die Gewürzmischung Vadouvan schmeckt, auch ein bisschen wie Veilchen und Rose – ganz exzellent (8,5/10). Die Zutat, die wie eine weiße Haube aussieht, kann ich nicht identifizieren. Ein Stück Oktopus ist sehr zart, und eine Komponente mit Zitrusaroma begeistert dazu (8/10).

Die kleine Trilogie mit ihren überwiegend blumigen und frischen Aromen erinnern an den Frühling. Es dauert allerdings noch zwei Gerichte, bis mir jemand diese Intention sogar ankündigt: „We want you to taste spring!“. Das hat auf jeden Fall schon jetzt geklappt.

Geschmacklich schlüssig geht es weiter. Prachtvolle Erbsen werden in einem nachtblauen, leicht mysteriösen Glas in einer süßlichen, kühlen Flüssigkeit serviert, die auch leicht blumig schmeckt. Der Frühling ist angekommen, so viel steht fest. (8/10)

Das nächste Gericht – so wunderschön präsentiert wie das vorherige – ist eine dieser transparenten, heißen, sehr neutralen Brühen, wie sie einem in der Kaiseki-Küche häufig begegnen. In dieser schwimmt eine Japanische Pflaume (Ume) mit großem Stein, deren weichgekochtes Fleisch etwas bitter und säuerlich-fruchtig schmeckt; daneben schmiegt sich ein grünes Kraut sowie ein Stück Aal, schneeweiß und von exzellenter Qualität. Eine einzelne Lilienblüte gibt ein bisschen von ihrem Duft an die Flüssigkeit ab, nur ganz sparsam, als wolle sie ihr Parfüm für sich behalten. Die Kraft dieses Gerichts liegt in seinen Andeutungen, wie bei guter Fotografie. Ein verblüffendes, sehr ästhetisches Gericht, das wegen all dieser Assoziationen eigentlich 10/10 verdient, was aber gustatorisch nicht zu rechtfertigen wäre. (7/10)

Es geht weiter mit verschiedenen Portionen Sashimi, die alle nacheinander an den Tisch gebracht werden. Es gibt Tintenfisch, Brasse und Garnele, alle für sich in großartiger Qualität (8,5/10); dann eine ganze Schale Seeigelgonaden aus Kagoshima, eine gigantischen Portion von sehr guter, aber nicht allerbester Qualität (kein Wunder, sonst würde das Menü ein Vielfaches kosten) (7/10). Die Qualität dieser Zutat erkennt man an der Farbe (hier statt leuchtend orange etwas bräunlicher) und am Geschmack (hier statt klar, frisch und jodig etwas „muffiger“, dennoch keinesfalls schlecht!). Ein Töpfchen daneben enthält eine gräulich grüne, zäh-schleimige Masse, die für unappetitlichste Assoziationen sorgt. Hier ist eine: Wer so etwas unter anderen Umständen vor sich sieht, sollte schnell einen HNO aufsuchen und eine Antibiotikum-Therapie beginnen.

Dennoch probiere ich das Sekret, was sich als recht schwierig erweist, denn es ist so glibberig und zusammenhängend, dass man keine Einzelportion davon abtrennen kann. Die Masse, bei der es sich, glaube ich, um Seegurkenrogen handelt, schmeckt wässrig-salzig, keinesfalls streng oder „schlecht“, ein bisschen wie geliertes Salzwasser. Eigentlich recht harmlos. Aber das Ekelgefühl, das man als Esser einer anderen Kultur mit anderen Gewohnheiten allein aufgrund dieser Textur empfindet, ist wie ein Reflex. Und das gilt auch, wenn man längst Freund von Austern, Seeigelgonaden und Fischeiern geworden ist. Diese starke Abneigung hat möglicherweise damit zu tun, dass die Assoziationen, die man gegenüber dieser speziellen Zutat hat, überwiegend mit menschlichen Absonderungen zu tun hat. Warum solche Assoziationen mancherorts existieren und anderenorts nicht – oder dort zumindest ausgeblendet werden –, ist ein interessantes Phänomen, dessen Analyse den Rahmen dieses Berichts sprengt. Weiter zum nächsten Schmaus!

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Es gibt einen Ausgleich, der weniger kopflastig ist: fettigen Thunfischbauch (Otoro) von vermutlich der besten Qualität, die ich je probiert habe. Das integrierte Fett schmilzt sofort am Gaumen, übrig bleibt eine ganz zarte, ebenfalls schmelzende Textur. Der Geschmack ist rein und klar, der geriebene Wasabi dazu wirkt wie eine große, erfrischende Welle. Die Grenzen zwischen Fisch und Fleisch verschwimmen auf diesem Niveau. Das ist größtmöglicher Sashimi-Genuss, der so nur in Japan erlebbar ist. Prägend! (10/10)

Regelmäßig schreibe ich darüber, dass unverarbeitet servierte Grundprodukte nur eingeschränkt hoch zu bewerten sind. Sashimi, als Teilmenge von Sushi, bildet für mich jedoch eine Ausnahme. Zwischen einem Bauchlappen vom Thunfisch und einer einzelnen daraus gewonnenen Scheibe Sashimi liegen nämlich Welten – nicht selten weniger als Jahrzehnte Erfahrung. Eine rohe Scheibe Fisch wird durch Handwerk und Technik zu einem Gericht.

Der nächste Gang, künstlerisch verpackt, sieht zunächst recht langweilig aus, begeistert aber am Gaumen mit ganz unerwarteten Qualitäten. Zunächst die Garnele: sie ist von außergewöhnlicher Qualität, die ich so nur aus Japan kenne, mit einer leichten Süße, die durchaus mit Kaisergranat oder anderen Hummerartigen vergleichbar ist. Dann sind da noch gelbe, dünne Streifen, die von einer Zitrusfrucht stammen und einen fruchtig-frischen, saftigen Geschmack beisteuern. Leicht klebrig gekochter Reis mit großer Körnung gibt dem Ganzen Halt, und Blätter von Szechuanpfeffer (sanshō) beflügeln das Gericht mit einer leicht betäubenden, blumigen Schärfe. Hervorragend – und anhand des Fotos allein nur schwer nachzuvollziehen. (9/10)

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In Form eines frühlingshaften Arrangements, das einem kleinen Garten ähnelt, wird der nächste Gang präsentiert. Ein bisschen kitschig ist das durchaus, doch den Japanern verzeiht man ihrer Kultur wegen ziemlich viel.

Die Zutaten, die sich in den ganzen Schälchen verbergen, verlangen mir erneut einiges ab, allem voran Neugier, Überwindung und Beharrlichkeit. Es gibt verschiedene Gemüse, kleine stintartige Fische – und erneut viele Zutaten, die mit dem Geschlechtsakt von Fischen zu tun haben. Ein Schälchen Lachsrogen mit einem Wachtelei sieht dann endgültig so aus wie bakteriell infiziertes Nasensekret, bei dem man einen Augapfel mit ausgeschnupft hat. Wohl bekomm’s!

In Summe probiere ich alles, und attestiere vielen der Kleinigkeiten, vor allem den Gemüsen, Gelees und kleinen Fischen, eine gute Qualität und Zubereitung. Aber ein wirkliches Highlight ist hier nicht zu finden. Und wer diesem Schleim irgendetwas abgewinnen kann, hat wirklich ernsthafte Probleme. (6/10)

Eine heiße Suppe folgt. Darin findet man, unter einer großen Portion Algen und Szechuanblättern, ein Stück Brasse mit Haut. Ich mache bei diesen Suppen selten einen Freudensprung, auch hier kann ich das viele Grünzeug und den insgesamt recht neutralen Grundgeschmack nicht so recht würdigen. (6/10)

Als nächstes folgen ein paar Stücke Rindfleisch von sehr guter, butterzarter Qualität, serviert auf einer Scheibe Ananas, die wiederum auf einer sehr heißen Platte liegt. Ein frischer Salat mit Tomaten und Chicorée steht daneben. Das schmeckt alles sehr gut und duftet wegen der Kräuter nach Mittelmeer. Ich werde den Gedanken nicht los, dass das ein Gericht für Touristen ist; viel zu untypisch sind die verwendeten Zutaten. Dabei habe ich mich doch bisher wacker geschlagen und alles probiert. Gebt mir den Nasenschleim zurück! (7/10)

Der obligatorische Reisgang fällt etwas kleiner aus als üblich. Das ist sehr angenehm. Der Reis selbst ist mit hervorragendem Taschenkrebsfleisch vermischt und schmeckt sehr gut. Dazu gibt es säuerlich eingelegte Rübchen in Rosenform. Einwandfrei. (7/10)

Ein geliertes Dessert mit Mandel, Minze, Honig, Apfel und Blüten schmeckt sehr gut, ein bisschen wie Panna Cotta (7/10). Mochi bezeichnet eine klebrige, nahezu neutral schmeckende Dessert-Spezialität auf Reisbasis, der ich nicht viel abgewinnen kann (6/10).

Eine makellose Erdbeere schließt das Menü fast ab …

Es gibt noch Matcha-Tee und einen weiteren Tee. Und noch eine Suppe mit Algen, noch etwas Reis und noch ein letztes, großes Schälchen Seegurkenrogen. Na gut, das stimmt nicht. Nach den Tees war Schluss. Gute Nacht.

Dieser Artikel ist Teil meiner kulinarischen Reise nach Japan im März 2017, siehe: „Neun Tage Japan, 13 Restaurants, 32 Michelin-Sterne, eine Million Eindrücke“

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Kichisen (吉泉) (→ Website)
Chef de Cuisine: Yoshimi Tanigawa
Ort: Kyoto, Japan
Datum dieses Besuchs: 08.03.2017
Guide Michelin (Kyoto/Osaka 2017): ***
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