Nakamura – bis auf Haut und Knochen
Obwohl sich Innenarchitektur und Einrichtung der Kaiseki-Restaurants in Kyoto stark ähneln, nimmt man große Unterschiede beim Wohlfühlfaktor wahr, sobald man ein neues Haus betritt. Das liegt an unscheinbaren Details wie Parallelität von Bauelementen, akkuraten Abständen zwischen Gegenständen, Lichteinfall und vielem mehr.
Im Nakamura ist es besonders angenehm. Von meinem Raum blicke ich zur einen Seite auf einen kleinen, lichten Innenhof mit plätscherndem Miniaturwasserfall. Auf der anderen Seite steht ein mit japanischer Kalligrafie bemalter Paravent, hinter dem das Personal verschwindet und wieder auftaucht wie bei einem Puppentheater. Das Personal besteht aus einer jungen, sehr freundlichen Dame, die ausreichend gut Englisch spricht und auffällig gut gelaunt ist. Das macht die ganze Angelegenheit nicht so bitterernst wie sonst.
Die Sitzposition unter dem großen, roten Tisch ist bodennah, aber mit einer Aussparung im Fußboden, sodass man eine normale Sitzposition einnimmt. Nur das Aufstehen aus diesem Nest verlangt etwas Akrobatik.
Ein warmes Handtuch, ein Begrüßungssake in einer kleinen Schale, sowie ein Becher mit grünem Tee markieren den Beginn dieses Mittagessens, bei dem ich mich im Vorfeld für die günstigere von zwei Varianten (¥ 15.000, ca. € 126) entschieden hatte. Die Stornofristen in diesen Restaurants sind übrigens sehr strikt. Wer kurzfristiger als eine Woche im Voraus absagt, zahlt in der Regel den vollen Preis für alle reservierten Personen zzgl. eines zweistelligen Prozentsatzes für Servicegebühren.
Der erste Gang wird gereicht. Er sieht wunderschön aus. Die Farben von Geschirr und Speise bilden eine Einheit. So frappierend habe ich das selten vor Augen gehabt. Die bei uns viel verwendete Phrase „Das Auge isst mit“ wird hier jedoch ganz anders verstanden als bei uns. Schlichtheit und Harmonie sind die Grundpfeiler des japanischen Verständnisses für Ästhetik. Die Auffälligkeit liegt in der Unauffälligkeit.
Die kalt servierte Speise besteht aus fünf Komponenten: einem Geleeblock mit grünen Spargelspitzen, einer gekochten, längs aufgeschnittenen Garnele, einer Farnspitze, einem sanshō-Blatt (Szechuanpfeffer) und einem Spiegel cremiger Sesamsauce, auf dem die Zutaten alle angerichtet sind. Der Geleeblock lässt sich leicht mit den Stäbchen zerteilen, sodass man die Bestandteile des Gerichts gut kombinieren oder auch einzeln probieren kann. Das Gericht ist überaus fein und stimmig, alle Aromen sind klar und frisch, und die leicht nach Erdnuss schmeckende Sesamsauce steuert eine besonders angenehme Geschmackstiefe bei. Ein fantastischer Start! (8,5/10)
Es folgt eine Spezialität des Hauses. Sichtlich stolz wird erklärt, dass es sich um ein Geheimrezept handelt, welches von Generation zu Generation weitergegeben – aber niemals verschriftlicht – wird. Bei dem Stolz des Hauses handelt es sich um eine Suppe mit weißem Miso und einem darin befindlichen Reiskuchen. Letzterer ist ungefähr so groß wie ein Golfball, ist durch einen Röstungsprozess bräunlich gefärbt und hat eine zähe, klebrige Textur wie Kleister. Entsprechend kompliziert ist es, die (überdies noch sehr heiße) Masse zu probieren. Die Belohnung für einen gelungenen Versuch fällt indes mager aus. Der Reisball ist eher ein neutraler Texturgeber als meine neue Lieblingsspeise. Der dagegen kontrastierende, pikante Geschmack der Suppe erinnert etwas an süßen Senf. Ich bin mir sicher, dass man der Herstellung dieser klebrigen Reiskugel ein ganzes Leben voller Hingabe widmen kann, bin mir aber genauso sicher, dass es sinnvollere Tätigkeiten gibt. (6/10)
Es folgt Sashimi – eine willkommene Abkühlung. Es gibt Tintenfisch, einen Plattfisch und Thunfisch, dazu gibt es japanische Ingwerblüte und frisch geriebenen Wasabi. Die Qualität und Schnitte der Fische ist auf höchstem Niveau. Die feinen Einschnitte beim Tintenfisch ergeben ein angenehmes, kurzweiliges Mundgefühl; die recht großen Thunfischstücke sind zart schmelzend; alles schmeckt klar, frisch und rein. Es ist, wie so oft in Japan, eine Sashimi-Qualität von einer Güte, die – wenn sie jemand zum ersten Mal erlebt – einen für immer von Sashimi in unseren Breiten fernhalten wird. (9/10)
Es geht weiter mit einem warmen Gericht. Die Hauptrolle, zumindest der Menge nach, spielen einige frittierte Komponenten, u. a. Konjakwurzel, eine Zutat, die an etwas zu bissfest gekochte Kartoffel erinnert. Dazu gibt es Aal, ein grünes Kraut (hatakena), das im Deutschen Brauner Senf genannt wird, und einen stark gebundenen Jus mit Stückchen von Yuzu. Die Entdeckungsreise durch die fremden Zutaten ist ein überraschender Hochgenuss. Das nicht aufdringliche Fett der frittierten Zutaten sorgt für eine geschmacksverstärkende Basis der allesamt feinen Aromen: die leichte, frische Schärfe des grünen Krauts, die blumige Frische der Zitrusfrucht, der klare, „transparente“ Meeresgeschmack des Aals. Ein großartiges Gericht! (9/10)
Und von all den wässrigen Suppen mit Algen und Einlage, die ich die letzten Tage probiert habe, ist die jetzt folgende in vielen Nuancen besser. Diese Unterscheide sind noch schwieriger zu erklären als sie überhaupt zu fassen sind. Der wässrige Sud ist irgendwie „geschmacklich kompakter“. Alle Komponenten – Szechuankraut, Algen, der eierstichartige Ball mit Muscheln darin – haben mehr Aromen an die Flüssigkeit abgegeben als das sonst der Fall ist. Die Algen selbst haben eine angenehme, etwas bissfestere Textur, und der Teigball mit Muscheln schmeckt auch sehr gut. Ich freue mich, diese Nuancen wahrzunehmen, zumal ich bei meiner Reise nach Tokio im Jahr 2014 einige solcher Suppen ebenfalls sehr hoch bewertet hatte und ich mich während dieser Reise schon fragte, ob meine Bewertungen nun anders ausfallen. Die Antwort ist eindeutig: nein, die Unterschiede sind real, und diese Suppe zählt zu den allerbesten ihrer Art. Ich leere die ganze Schüssel. (8,5/10)
Für den folgenden Gang wird zunächst, sehr puristisch, ein Stück gegrillte Brasse in einem tiefen Teller serviert. Der einem mit auf den Weg gegebene Hinweis, dass man Haut und Knochen in dem Teller lassen soll, ist kein Sicherheitshinweis, sondern ein Indiz darauf, dass das Gericht noch eine Fortsetzung hat. Die Brasse selbst ist von allererster Güte: schneeweiß, fest und leicht zerteilbar, durch viel Kollagen jedoch auch ganz zart und „geschmeidig“ am Gaumen. Die starken Röstnoten der Schuppen geben etwas von ihrem Geschmack an das Fleisch ab, man schmeckt heißen Grill und salziges Meer.
Und dann – es war zu vermuten – wird das Schlachtfeld, das man schnell als Abfall durchgehen lassen könnte, mit brühheißem und mit Seetang (Kombu) aromatisiertem Wasser aufgegossen. Der Geschmack, den das heiße Wasser aus dem scheinbaren Fischabfall herauslöst, ist so unsichtbar und präsent wie ein Orkan. Alles duftet nach Mundfülle und Herzhaftigkeit, nach Salz und Glutaminsäure, kurzum, nach Umami in seiner Reinform. Ich schlürfe den wässrigen Fond aus, schließe die Augen, und bin mit jeder Faser meines Körpers glücklich, dass ich ab sofort, hier und jetzt, einen wässrigen, auf Fischreste aufgegossenen Sud als eines der besten Gerichte abspeichern kann, die ich je probiert habe. (10/10)
Etwas verhaltener geht es weiter. Es gibt eingelegtes Gemüse – alles recht säuerlich, aber dennoch sehr gut – sowie etwas Reis mit Bambussprössling und sanshō. Der Reis ist klebrig und „saftig“ und für eine scheinbar einfache Schüssel Reis erstaunlich schmackhaft. Die guten Qualitäten und das hervorragende Handwerk sind überall spürbar, und sie überzeugen. (7/10)
Das Dessert besteht aus einer makellosen, zuckersüßen Erdbeere und einer ebenso makellosen Grapefruit, beide gebettet in einer nicht allzu süßen Creme, überzogen von einem Weißweingelee. Die frische, fruchtige Süßspeise ist großartig in ihrer Schlichtheit, geschmacklicher Präzision und willkommener Süße. Mich würde interessieren, ob das wirklich eine rein japanische Kreation ist, oder ob französische Einflüsse hier eine Rolle spielen. Doch als ich das anschneiden möchte, bekomme ich nur ein Lächeln als Antwort. Man hat mich nicht verstanden. In jedem Fall ist das ein hervorragender Abschluss! (9/10)
Es gibt noch einen Tee, der nach flüssigem Aschenbecher schmeckt, einen etwas langwierigen Bezahlprozess, weil man in Japan Kreditkarten, bei denen eine PIN verlangt wird, nicht gewohnt ist, und eine Abschiedszeremonie, bei der die „Kellnerin“ so lange vor dem Restaurant draußen stehen bleibt und mir hinterherblickt, bis ich mich gezwungen fühle, in eine Seitenstraße abzubiegen, damit sie endlich wieder hineingehen kann.
Am liebsten würde ich zurückrennen. Wie Bill Murray, der am Ende von Lost in Translation Scarlett Johansson etwas Unverständliches ins Ohr flüstert. Ich würde zurück rennen und ihr sagen …
Dieser Artikel ist Teil meiner kulinarischen Reise nach Japan im März 2017, siehe: „Neun Tage Japan, 13 Restaurants, 32 Michelin-Sterne, eine Million Eindrücke“
Informationen zu diesem Besuch | |
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Restaurant: | Nakamura (なかむら) (→ Website) |
Chef de Cuisine: | Motokazu Nakamura |
Ort: | Kyoto, Japan |
Datum dieses Besuchs: | 09.03.2017 |
Guide Michelin (Kyoto/Osaka 2017): | *** |
Meine Bewertung dieses Essens | |
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