Quintessence – stumm verrinnt mein Blut
in deiner liebe netz verfing
ich mich als fisch/
in deiner küche blieb
in qual ich fisch/
nun öffnet deiner liebe messer
rot mein fleisch/
und stumm verrinnt mein blut
auf deiner liebe tisch/
Dieses etwas makabere Gedicht – gerade für ein fine-dining-Restaurant – steht auf einem Zettel der bekannten Designerlampe von Ingo Maurer, die im Eingangsbereich des Quintessence hängt, einem der exklusivsten Restaurants Tokios. Ich bezweifle jedoch, dass hier irgendjemand den Inhalt versteht, denn das Gedicht wird mit der Lampe mitgeliefert.
Die Lampe und das Gedicht sind zwar völlig unwichtige, aber dennoch hängengebliebene Details des mir gerade erst bevorstehenden Mittagessens.
Das Quintessence befindt sich im weiter südlich gelegenem Bezirk Shinagawa nahe einer modernen, gut situierten Wohnanlage. Hier kocht Shuzo Kishida, Jahrgang ´74, langjähriger Schüler von Pascal Barbot aus dem Pariser Astrance. Auf der Website erfährt man, dass Kishida sein Restaurant als Fortführung der legendären Pariser Institution verstanden wissen möchte. Kurioserweise erfährt man online fast mehr über das Astrance als über das eigene Restaurant. Man schmückt sich sogar mit den angeblich schwierigen Reservierungsmöglichkeiten in Paris – und tut offenbar viel dafür, den Hype aufrechtzuerhalten. Fast jeder in Tokio, dem ich erzählte, dass ich eine Reservierung im Quintessence hätte, kam aus dem Stauen nicht heraus. Dabei ist das eine der wenigen Reservierungen, die mit einer einzigen E-Mail von mir ein paar Wochen zuvor erledigt waren.
Gespannt trete ich an diesem frühen Mittag ins Restaurant ein. Das Interieur ist modern und sachlich schlicht. Im Speisesaal sorgen gedeckte Erdtöne und verhangene Fenster für ein ruhiges, aber auch förmliches Ambiente. Ein paar Schnappschüsse kann ich noch machen, danach weist mich der freundliche – und perfekt Französisch sprechende – Kellner auf die Hausregel hin, dass Fotos hier unerwünscht seien.
Ich bin sichtlich enttäuscht, denn in diesem Fall – ganz anders als beispielsweise in einem solch persönlichen Rahmen wie bei Sushi Mizutani oder vielen anderen Tresenrestaurants mit direktem Kontakt zwischen Koch und Gast – ist das hier ein ganz „normales“ Restaurant mit niemandem, der sich an dezenten Fotoaufnahmen (mit Handy, ohne Blitz und Ton versteht sich) stören könnte. Das finde ich unsouverän und albern. Natürlich respektiere ich diese Bitte dennoch.
In den nächsten zwei Stunden weicht meine Enttäuschung schnell einer Begeisterung, denn die folgenden sieben Gänge des in Form einer carte blanche servierten Mittagsmenüs (8.500 Yen, ca. € 60), zählen zu den besten, die ich auf meiner Reise hier hatte.
Ganz anders als der künstliche Hype um das Restaurant, fasziniert Kishidas französische Küche durch Einfachheit, Klarheit und den Einsatz außergewöhnlicher Produkte, die ungemein wohlschmeckend verarbeitet sind. Eines der Amuses ist z. B. einfach nur etwas zerkrümelter Schafskäse mit bestem Olivenöl, Fleur de Sel und Lilienblüten. „Simpel und gut“ kann man – mit westlichen Zutaten – nicht besser zum Ausdruck bringen. Unvergesslich!
Genauso wie eine folgende Quiche mit Champignons, Seeigel und „italian cheese“. Und genauso wie ein knusprig auf der Haut gebratener Fisch (eine Brassenart) mit Meeresfrüchtejus und weißem Spargel.
Ein Hochgenuss ist auch das auf einem schwarzen Teller servierte Reh (rosa gebraten) mit Shiitakepilzen, einer hellen Sauce mit Sesam sowie einem dunkleren Garjus und mit Zwiebelconfit und winzigen Speckwürfeln gefüllten Erbsenschoten.
Auch die Desserts sind makellos und bieten unbeschwerten, unverkopften Genuss, z. B. eine Art Käsekuchen (zylindrisch, ca. zehn Zentimeter im Durchmesser und zwei Zentimeter hoch), dessen Oberseite goldbraun glänzt und eine wunderbare Mischung von herzhafter und süßer Geschmackswelt darstellt. Zum reinlegen. Seelenfutter für verregnete Sonntage – oder sonnige Nachmittage wie heute.
Den Abschluss dieses kurzen, aber sensationellen Menüs bildet eine einfache Nocke Meringue-Eis, die mit Salzwasser benetzt ist.
Ein wundervolles Menü, das meinen Gaumen nach all den japanischen Eindrücken der letzten Tage wieder etwas westlich eicht. Das ist etwas vergleichbar mit dem Riechen an Kaffeebohnen, wenn man verschiedene Parfums ausprobiert. Kaum auszudenken, was es hier wohl noch alles zu entdecken gibt …
Shuzo Kishida wäre bestimmt nicht glücklich, wenn man ihm sagte, dass der Stil seiner Küche mit dem seines Pariser Vorbilds nicht allzu viel gemeinsam hat. Aber als ich ihm beim Verlassen des Restaurants sagen konnte, dass es mir hier noch viel besser gefallen hat als im L’Astrance, da war der hagere, schüchterne Kerl sichtlich ergriffen.