Aqua – »wirklich empfehlenswert!«
Ginge ich nicht davon aus, dass die junge Hotelangestellte, die uns hinauf zum Zimmer begleitet, sich noch in ihrer Lernphase befindet, müsste man ihre bescheidene Umschreibung des Restaurants „Aqua“ schon beinahe für Hohn halten. „Wirklich empfehlenswert“ sei es, und ob wir anlässlich unserer Absicht, heute Abend dort zu speisen, auch einen Tisch reserviert hätten.
Empfehlenswert? Schon reserviert? Ich bitte in Gedanken um Entschuldigung – reden wir über dasselbe Restaurant? Aber dann ist der Fahrstuhl auch schon angekommen und das Restaurant-Thema ist gegessen.
Um 18.45 Uhr sitzen wir endlich am Tisch. Die Weinauswahl steht dank Sommelier Jürgen Giesel bereits als anspruchsvolle Aufgabe vor uns, die Menüauswahl („Impressionen“, 9 Gänge, € 195) steht bereits seit Tagen, und der Aperitif wurde vorhin auf der Terrasse genossen (Champagne Henriot Rosé NV, wunderbar duftend nach Brioche und Nüssen), die imposante Kulisse der Schornsteine des alten VW-Kraftwerks inklusive.
Die nächsten fünfeinhalb Stunden am Tisch sorgen für eine der eindrucksvollsten Darbietungen gastronomischen Könnens, die ich je erlebt habe. Eine kulinarische Oper, die an die Substanz geht und einen wahren Gedanken-Tinnitus hinterlässt – selbst Tage danach ist an nichts Anderes zu denken.
Erster Akt sind die Knusperillos, beginnend mit der karamellisierten Kalamata-Olive, deren Anblick erneut staunen lässt. Die herrlich fleischige, süß-salzige Olive, umhüllt von einer hauchdünnen, „fließend“ erscheinenden Glasur, ist purer Genuss. Das kontrastreiche Spiel zwischen Süß und salzig gelingt in diesem kleinen Amuse-Bouche in Vollkommenheit.
In einer weiteren „Halterung“ folgen (v. r. n. l.) Bismarck-Hering/Pumpernickel; Büsumer Krabben-Cocktail; Labskaus. Diese kleine Variation an Snacks demonstriert eindrucksvoll, auf welche Weise Sven Elverfeld Gerichte zu interpretieren weiß: äußerst raffiniert, einfallsreich, detailverliebt und modern, ohne sich dabei vom Wesentlichen zu entfernen. Er bringt die Essenz jedes Gerichts genau auf den Punkt. Hätte man Labskaus früher so kennen gelernt, wäre es wohl jedermanns Leib- und Magenspeise.
Weiter geht’s mit den Suppen-Shot & Löffel-Degustationen. Eine vorzügliche Interpretation einer Bloody Mary kommt in Form einer Tomatensuppe und einer Tomatenessenz, beide kalt, und einem Fenchelbrotchip. Die beiden Süppchen sind intensiv „tomatig“. Beeindruckender jedoch sind die beiden Löffeldegustationen, Süßkartoffel-Tortilla mit Salsa sowie Saibling, Zucchini, Limone. Beide ähnlich angerichtet (jeweils aufwändige Kompositionen mit rot-grün-weißen Zutaten in Kubikmillimetergröße und einer orangefarbenen Hauptzutat), verblüffen durch intensive Aromen und Kontraste.
Wo in manchen Restaurants – auch auf diesem Niveau – die Amuse-Bouches als Trauerspiel nur die Zeit zum „eigentlichen“ Essen überbrücken, ist der Einstieg in Elverfelds Menü bereits eine Ode an die Freude. Die acht Köstlichkeiten hinterlassen uneingeschränkte Vorfreude auf das, was da noch kommen mag und äußerst geschmeichelte Geschmacksnerven.
Der (offiziell) erste Gang des Menüs ist Gänseleber / „Lumumba“ & Kirsche. Eine Interpretation des gleichnamigen süßen Longdrinks kombiniert mit Foie Gras in einem kurios anmutenden Blasenzustand spielt auf ambivalente Weise mit Neugier und Skepsis. So erstaunlich dieser unbekannte Aggregatzustand anmutet, umso schneller ist er wieder dekonstruiert, denn sobald man mit dem Löffel das Blasenkonstrukt berührt und die Zutaten etwas vermengt (so der Ratschlag der sympathischen Bedienung), zerplatzt der Traum aus Gänseleber. Was übrig bleibt, sieht nicht besonders appetitlich aus, schmeckt aber. Kirschen, Kakaokügelchen und ein rotes, süßes Gelee bilden in Kombination mit der Gänseleber ein aufregendes Spiel mit Texturen und Temperaturen, das mir jedoch leider an dieser vorderen Stelle des Menüs (um nicht „Vorspeise“ zu sagen) zu süß ist. Dennoch faszinieren Präsentation, Einfallsreichtum und Geschmacksempfindungen.
Begleitet wird dieser Gang mit einem 2004er Domaine Sarda-Malet Rivesaltes „La Carbasse“ (€ 72) aus dem Roussillon, auf den wir später auch noch beim Dessert zurückgreifen werden.
Es folgt Makrele / Joselito Jamón Ibérico, Avocado, Tomate. Ein Gericht, das wegen seines Wohlgeschmacks alle am Tisch verstummen lässt. Sprachlos lässt man dabei Bissen für Bissen auf der Zunge zergehen, kombiniert die Gabel neu, probiert ein weiteres Mal und ist berührt von so viel geschmacklicher Harmonie.
Das nächste Gericht soll diese Eindrücke sogar überbieten: Huchen aus Tainach / Rapsöl, Erbsen, Wachtelei, Schnittlauch und Dill. Die Komposition dieses sehr delikaten Fischs mit den weiteren Zutaten löst ein geschmackliches Wohlempfinden aus, das mir Tränen in die Augen bringt. Ich habe bisher nur einmal zuvor erlebt, dass eine Speise tatsächlich hierzu in der Lage ist. (Dem zum Vergleich herangezogenen Dessert aus dem L’Arnsbourg kam jedoch zuteil, dass die Umgebung des Ortes mit hineingespielt hat und eine packende Verknüpfung zu diesem hergestellt hat.) Der Huchen aus Tainach mit all den Kräutern und anderen Aromaten lässt allein durch die geschmackliche Komponente die Empfindungen verrückt spielen – und es geht nicht nur mir so. Besser kann nichts schmecken, nur noch anders. Wohlgeschmack am Ende des Möglichen. Ein ergreifender, rarer Moment des Essensglücks, den ich wohl ewig in Erinnerungen haben werde.
Nach stets genau richtigen Pausen serviert das hervorragende Serviceteam jeweils den nächsten Gang. In diesem Fall Kaisergranat / warme Wassermelone, Gurkentapioka & Basilikum. Ein erfrischender, leichter Sommergang, der einem – sowohl emotional als auch hinsichtlich des Sättigungsgrades – etwas Raum zum Verschnaufen einräumt.
Es sind allerdings diese Gerichte, die – mit genügend Abstand von allem Enthusiasmus – auch die Unterschiede zu kompromisslosen Qualitätsfanatikern wie Bernard Pacaud (L’Ambroisie) offenbaren, wo, bei Letzterem, bereits der erste Biss in einen puren Kaisergranat schwärmerische Fassungslosigkeit auslöst. Natürlich stellt sich auch bei Elverfeld keine Qualitätsfrage – aber ich vermute schlicht, dass sich einige Rohstoffe hierzulande nicht in einer solchen Qualität beschaffen lassen.
Die Weinauswahl passt bisher hervorragend, und mein zuvor geäußerster Wunsch, einige neue „Überraschungen“ kennen zu lernen, wird vorbildlich in die Tat umgesetzt. Nach einem herrlichen, beinahe Puligny-ähnlichen 2007er Chardonnay „Percenette“ der Domaine Pignier (€ 49) aus dem Jura gehen wir über zu einem sehr überzeugenden, mineralisch-frischen Sauvignon Blanc 2008er Château Bel-Air La Royère (€ 62), der auch die letzten Cloudy-Bay-und-Co.-Trinker bekehren sollte. Oder sind wir schon beim 2006er Chardonnay „Eleanor“ von Hartenberg (€ 67) aus Südafrika? Ich weiß es nicht genau, wahrscheinlich stehen beide auf dem Tisch.
Es folgt Geangelter Wolfsbarsch & Sot-l’y-Laisse / gebundener Brathähnchensud mit Zuckermais, Tappenbecker Möhre & Queller. Von den Zutaten her ein Gericht, das man ähnlich auch bei Wahabi Nouri finden könnte, dann aber natürlich in orientalischer Richtung, die hier fehl am Platz wäre. Dieses Gericht fokussiert auf die Süße der Möhre, herrlich zarte Sot-l’y-Laisse und den Kontrast durch die Zutaten aus dem Meer (Wolfsbarsch und Queller). Leider – und ich bin diesbezüglich nicht sehr empfindlich – dominiert das Salzige, das von der Kruste des Wolfsbarschs herrührt. Das Gericht ist leider insgesamt zu salzig, sodass die feine Süße der Möhre nicht kontrastiert wird, sondern übertönt.
Trotz der beiden letzten Gänge, die da nicht ganz perfekt waren, wo man sonst mit Perfektion überhäuft wird, sind die Vielfalt, Präsentation und Einfallsreichtum von Elverfelds Küche absolut beeindruckend.
Was nun kommt ist ein kleiner Bonus aus der Küche, ein eingeschobener Gang ganz zu unserer Freude. Tafelspitz vom Müritz-Lamm / Frankfurter Grüne Sauce, Kartoffel & Ei, raffiniert interpretiert von Elverfeld. Ein (für mich neuer) Klassiker des „Aqua“. Die Grie Soß schmeckt wunderbar, was auch an der Zugabe von etwas Dill liegen mag, die das Original deutlich aufwertet, von der künstlerischen Anrichtung ganz zu schweigen. Das Gericht ist ein weiteres Beispiel für Elverfelds bemerkenswerte Fähigkeit, auch klassische regionale Hausmannskost in den Sternehimmel erheben zu können, ohne dabei die Erde aus den Augen zu verlieren.
Und es geht weiter! Garimori Iberico-Schwein „Secreto“ süß/würzig / schwarzer Knoblauch, geräucherter Rettich & Misosud. Dazu trinken wir einen 2003er Spätburgunder Hohenbeilsteiner Schlosswengert GG vom Schlossweingut Hohenbeilstein (Württenberg) (€ 86), der es mit der Würzigkeit dieses Gerichts aufnehmen können soll. Das Fleisch ist von hervorragender Qualität, nur leider ist die angenehm feurig aussehende Sauce ziemlich zurückhaltend. Sie hätte deutlich mehr Pep vertragen können. Hier hätte ich mir etwas mehr Mut gewünscht – nichts Extremes, aber mehr Feuer. So ist das Große (Pinot-) Gewächs hierzu sogar etwas zu triumphierend.
Das in einem Schälchen in einem Eisblock servierte Crèmesorbet von Ruinart-Rosé-Champagner ist eine angenehme Erfrischung zwischendurch und „reinigt“ den Gaumen. Bemerkenswert: der Champagner ist ein anderer als beim letzten Mal.
Als Auftakt zum gleich folgenden weiteren Fleischgang wird zunächst ein kleiner „Teaser“ gereicht, der die wesentlichen Elemente des Folgegangs einleitet:
Simmentaler Rinderfilet „Stroganow“ / Sauerrahm, Rote Bete, Gewürzgurke, Kartoffel.
Die Genussoper spielt dabei in forte fortissimo – wir sind wieder ganz oben am Genusshimmel angekommen. Die Zartheit und Saftigkeit des Fleisches, die perfekt von der aromatischen dunklen Sauce unterstützt wird, ist sensationell. Mit dem allseits bekannten Stroganow-Geschnetzelten hat dies – natürlich – geschmacklich wenig zu tun, aber die Komponenten sind alle auf dem Teller (der Sauerrahm kommt als kleine „Scheibe“ zu der frittierten Kartoffel) und die Interpretation demnach gelungen. Dies ist eines der schmackhaftesten und besten Fleischgerichte, die ich je gegessen habe. Unverfälscht, bester Qualität, einfach wunderbar.
Betrachtet man alle Hauptgänge als zweiten Akt, ist dieser nun mit einem Paukenschlag beendet, und es geht weiter mit dem Finale.
Großen Beifall verdient der Schwarzwälder Kirschbaum, der ein handwerkliches, künstlerisches und geschmackliches Meisterwerk ist. Auf dem Teller reiht sich eine süße Köstlichkeit an die nächste – alles Komponenten einer dekonstruierten (und wesentlich besser wiederaufgebauten) Schwarzwälder Kirschtorte –, und auch das dazu gereichte Töpfchen mit einer zu durchstoßenden Eisschicht und einer Kirsche darunter ist großartig.
Offiziell beginnt das Süße Finale jedoch erst jetzt, mit Schokoladentoffee, Olivenöl – Spaghetti-Eis; Zwetschgenkuchen; Bienenstich – Linzer Torte – Herrentorte; Bircher Müsli. Es ist nicht möglich, alle Geschmacks- und Sinneseindrücke dieser weiteren Köstlichkeiten festzuhalten – oder überhaupt in dem Moment differenziert auszumachen. Man sieht, entdeckt, probiert, staunt und schwärmt. Alles ist phantastisch.
Mittlerweile sind beinahe fünfeinhalb Stunden verstrichen, die kulinarische Oper ist vorbei und hinterlässt – in erfolgreicher Zusammenarbeit mit dem Wein – ein Feuerwerk der Emotionen. Ich möchte applaudieren, bin erschöpft und glücklich und auch ein wenig ungläubig – das Schlaraffenland existiert offenbar doch. In einer Industriestadt in Deutschland, wer hätte das gedacht.
Es gibt viele hervorragende Restaurants – auch auf diesem Niveau –, bei denen man darüber staunt, was man aus Essen alles machen kann. Aber es gibt nur sehr wenige Restaurants, bei denen man sich fragt, wie es möglich ist, was Essen mit einem selbst machen kann. Sven Elverfeld und sein Team haben dies heute Abend eindrucksvoll demonstriert. Vielen Dank dafür. „Wirklich empfehlenswert!“
Informationen zu diesem Besuch | |
---|---|
Restaurant: | Aqua (→ Website) |
Chef de Cuisine: | Sven Elverfeld |
Ort: | Wolfsburg, Deutschland |
Datum dieses Besuchs: | 21.08.2010 |
Guide Michelin (D 2010): | *** |
Meine Bewertung dieses Essens |