New York City – Sehnsuchtskulissen
Szene 1: Hohe Decken, hohe Fenster, durch die sich vertikale Stahlträger abzeichnen, die sich hunderte Meter in den Himmel strecken. Dämpfende Stoffe, klare Linien, vielleicht ein auffälliges Blumengesteck in der Mitte. Das Licht ist gedimmt, die Atmosphäre dennoch hell. Kein Detail wirkt manieriert, nichts bemüht. Der Service gleitet mit einer Mischung aus Professionalität und entspannter Lässigkeit durch den Raum.
Szene 2: Eine umgebaute Fabrikhalle, viel Backstein, sichtbare Rohre, indirektes Licht, eng gestellte Tische. Hier herrscht bewusst inszeniertes Chaos – lebhaft, laut, fast elektrisch aufgeladen. Und überall in diesen Szenerien begegnet man einem Publikum, das eine bemerkenswerte Selbstverständlichkeit ausstrahlt. Viele wissen genau, was sie wollen und wo sie stehen – kulinarisch, stilistisch, gesellschaftlich. Sie wirken souverän, fast beiläufig informiert, als gehörte guter Geschmack in all seinen Facetten ganz selbstverständlich zu ihrem Alltag.
Die Atmosphären der Restaurants in New York, von dampfenden Streetfood-Ständen über angesagte Pizzerien in Hinterhöfen bis zum Fine Dining in seiner gesamten Ausprägung, waren für mich schon immer faszinierend. Sie entstehen durch das – nie zufällige – Zusammenspiel von Design, Publikum und Service; selbst die vorgeschriebenen, rot leuchtenden »EXIT«-Schilder tragen zur Atmosphäre eines Restaurants bei. Der sense of place – kaum ist er irgendwo greifbarer als in den Restaurants dieser Stadt.
Ich liebe gutes Essen – aber es sind genau diese Kulissen, nach denen ich mich sehne, wenn ich nicht in New York bin, also fast jeden Tag. Ungefähr einmal im Jahr versuche ich daher, wieder ein Teil dieser Atmosphären zu sein. Wie auf der Reise, die ich jetzt unternehme.
Tag 1: Ankunft und Walk-in
Eigentlich wollte ich wieder im Torrisi reservieren, einem der wohl atmosphärischsten Restaurants in New York, dazu noch mit glanzvoller italienischer Küche. Aber die Kombination aus einer unsicheren Ankunftszeit im Hotel und dem noch nicht vorhersehbaren Jetlag war mir zu heikel, um mal eben die sechshundert Dollar, die für eine Reservierung im Torrisi über die App Dorsia im Voraus fällig sind, mit einem kurzen Bestätigungston meiner Apple-Pay-Funktion im digitalen Äther zu versenken.
Da wage ich lieber einen Walk-in im Eleven Madison Park, das sich direkt gegenüber von meinem Hotel, dem The New York EDITION an der Madison Avenue, befindet. Mit einem kurzen E-Mail-Austausch habe ich hier schon vorgefühlt, ob dies für Plätze im Barbereich möglich ist.
Und das ist es dann auch. Gegen sieben Uhr, was sich anfühlt wie die ein Uhr morgens, nach der meine innere Uhr noch tickt, sitze ich im Bereich der Bar, die sich offen an den prachtvollen Speisesaal des Hauptrestaurants anschließt. Aus meinen drei, vier Bestellungen à la carte wird unerwarteterweise dann doch noch ein ganzes tasting menu – und es ist brillant. Die rein pflanzlichen Kreationen von Daniel Humm sind an diesem Abend wie das Tor zu einer neuen kulinarischen Welt.
Tag 2: Hauptsache Brooklyn
Über einen Artikel in der New York Times bin ich auf das Restaurant Sailor aufmerksam geworden. Es ist das aktuellste Projekt von April Bloomfield, die einst mit dem The Spotted Pig den Hype für Gastropubs mit anfachte. Schon die stimmungsvollen Fotos in dem Artikel besiegelten mein Vorhaben, in dem Restaurant einkehren zu wollen. Lässige, aber nicht gespielte Bistroküche kann man nirgendwo so erleben wie in den USA.
Am frühen Mittag stehe ich dann an einer Straßenecke im Stadtteil Forte Greene in Brooklyn. Ein paar kleine Vorspeisen, einen köstlichen Salat mit senfbetonter Vinaigrette und ein saftiges Brathähnchen später ist mir klar, mit dieser Reservierung alles richtig gemacht zu haben. Am liebsten hätte ich mich durch die ganze Karte probiert, doch meine Reservierung zum Dinner lauert schon um halb sieben.
Am Abend heißt die Adresse Chef’s Table at Brooklyn Fare. Das Restaurant, dessen Namen ich Mühe habe, vom einstigen Mastermind César Ramirez zu trennen, serviert inzwischen unter österreichisch-holländischer Küchenführung ein Menü, das den Spagat zwischen der eigenen Kreativität der neuen Küchenchefs und dem Wunsch des Inhabers, dem Ruf des Restaurants gerecht zu bleiben, meistern muss. Diese Gratwanderung spürt man vom ersten Bissen an – und obwohl es für das Verbringen eines gelungenen Abendessens nicht nötig ist, ständig Vergleiche anzustellen, ist das Erbe schlichtweg gewaltig. Ich verlasse das Restaurant nachdenklich – beeindruckt von einzelnen Momenten, aber auch mit dem Gefühl, dass hier noch eine neue Handschrift auf der Suche nach ihrem eigenen Ausdruck ist.
Tag 3: Schwergewichte
Gastro-Mogul Jean-Georges Vongerichtens neuester Coup in New York heißt Four Twenty Five und residiert in einem gläsernen Wolkenkratzer von Stararchitekt Norman Foster in Midtown Manhattan. Daran interessiert mich so ziemlich alles.
Schon der Eingangsbereich mit Bar und einer imposanten Treppe ins Obergeschoss sind einen Besuch wert. Das Restaurant atmet power lunches und Upper-Eastside-Ladies-gehen-gemeinsam-essen. Inmitten dieses Interieurs – mit klaren Linien und gedämpftem Licht – staune ich über präzise Crudos, mutige Schärfe und die Selbstverständlichkeit, mit der ein solches Restaurant hier über der Park Avenue thront.
Und am Abend bin ich endlich dort, dem Ankerpunkt meiner Reise, der letztes Jahr noch eine Baustelle war: César. Ich bin positiv angespannt. Doch alle Sorgen, ob die Turbulenzen der letzten Jahre vielleicht an der Größe oder den Ressourcen von Ramirez genagt haben, verflüchtigen sich mit dem allerersten Bissen in vollendetem Genuss. In New Yorks erster lauer Nacht des Jahres schlendere ich satt und beseelt zurück in mein Hotel. Alle Leute sitzen draußen, in Restaurants, in die ich alle sofort einkehren würde.
Tag 4: Sechs Sterne
Elegante Speisesäle mit gedimmtem Licht und leuchtender Speisekarte ziehen mich in New York gerade zum Lunch magisch an. Das seit Jahrzehnten mit drei Michelin-Sternen ausgezeichnete Le Bernardin ist einer dieser Orte, auf die ich in New York nur selten verzichte.
Zu einladend ist die Seafood-fokussierte À-la-carte-Auswahl von Eric Ripert und seinem Team, die hier täglich Hunderte Gerichte in atemberaubender Qualität und Konsistenz an die Tische schicken. Wenn man vernünftig ist, muss man hier nicht einmal besonders viel Geld ausgeben – aber Vernunft war hier noch nie meine Motivation.
Die zweiten drei Sterne dieses Tages verspeise ich im koreanischen Jungsik. Mein letzter Besuch hier ist über zehn Jahre her, und meine Erinnerungen sind verblasst. Das umfangreiche Menü hier zu meistern, nachdem am Mittag die Unvernunft waltete, ist eine Herausforderung. Aber sie zu meistern, lohnt sich. Hitze, Schärfe und in der Spitzenküche seltener zu findende Aromen besiegeln eine weitere Reise in die Stadt, die niemals schläft.