Silvio Nickol Gourmetrestaurant – sündhafte Opulenz
Wenn ein Restaurant sich selbstbewusst Gourmetrestaurant nennt, in einem Palast beherbergt ist und es zwei Michelin-Sterne zieren, sind die Erwartungen hoch – vor allem an das, was wirklich zählt: das, was auf dem Teller passiert.
Die Rede ist vom Silvio Nickol Gourmetrestaurant (oft auch mit falscher Worttrennung Silvio Nickol Gourmet Restaurant zu finden) im Palais Coburg in Wien. Das im 19. Jahrhundert errichtete Stadtpalais wurde im Laufe der Dekaden unterschiedlich genutzt. Seit 2003 befindet sich darin auch das Hotel Palais Coburg Residenz, das derzeit umfassend renoviert wird. Einzig der Gastronomiebetrieb wird in dieser Zeit aufrechterhalten, was für Cashflow und eine gespenstisch leere Atmosphäre sorgt.
Als ich das Palasthotel betrete, werde ich von einem Mitarbeiter am Empfang bereits mit meinem Namen begrüßt, obwohl ich noch nie hier war – da staune ich nicht schlecht.
Das Restaurant selbst erreicht man über einen Fahrstuhl. Der Gastraum ist ein gewölbeartiger Saal, dessen Gestaltung an eine Raumschiffkantine erinnert, bei der man vergessen hat, den alten Teppich herauszureißen. Das wirkt gewollt spektakulär, lässt aber echte Eleganz vermissen – ein Eindruck, den die Förmlichkeit des Personals noch verstärkt. Man ist hier zweifellos freundlich, zuvorkommend und engagiert. Ich werde sogar mit einem Glas Dom Pérignon begrüßt, das später nicht einmal auf der Rechnung stehen wird. Das ändert jedoch nichts daran, dass die ganze Situation von Anfang an sehr klischeehaft wirkt. Von müheloser Selbstverständlichkeit ist hier keine Spur – und dieses Gefühl zehrt an mir, wohl wissend, die nächsten Stunden hier zu verbringen und dafür auch noch tief in die Tasche zu greifen. Immerhin kostet die »Große Genussreise« – wieder so eine siegessichere Formulierung – 310 €, zuzüglich 50 € für eine optionale Bouillabaisse, die ich ebenfalls wähle. Wenn schon, denn schon.
Die Weinkarte passt zur Grandesse. Sie zählt zu den umfangreichsten, die ich jemals gesehen habe – horizontal, vertikal, monumental, ganz egal. Es gibt hier Methusalem-Flaschen Romanée-Conti für eine halbe Million Euro pro Stück. Davon bitte zwei, Herr Ober!
Natürlich erreichen mich die Amuse-Bouches, als ich gerade angefangen habe, in der Karte zu stöbern – das klassische Timing-Problem vieler »Gourmetrestaurants«. Hinsichtlich der spektakulären Weinkarte erscheint es hier besonders ironisch, dass man dem Thema nicht mehr Zeit einräumt.
Zum Glück habe ich meine Hausaufgaben schon vorher gemacht und aus der online einsehbaren Karte einige Optionen herausgesucht. Meine Entscheidung fällt schließlich auf einen 2017er Vosne-Romanée von der Domaine Sylvain Cathiard für fair kalkulierte 285 €.
Der erste Happen des Menüs ist ein mit Carabinero-Ragout gefüllter Taco mit Camarones (kleinen Garnelen), Olivenöl und Salchichón. Der Maisanteil ist deutlich wahrnehmbar, darüber hinaus ist der Snack würzig, umami, mit präsenter Salzigkeit – kraftvoll, mit mittelamerikanischem Flair, sehr gut. (7,5/10)
Eine krosse Tartelette mit Stör-Ceviche und einer ganzen Reihe weiterer Zutaten wie Jalapeño, Sellerie, Fenchel und Bottarga, überzeugt danach mit kräuteriger Frische, zitrischer Säure und einwandfreiem Handwerk. (7,5/10)
Eine Auster von der französischen Atlantikküste (Fine de Claire Royale No. 2 von David Hervé) wurde für den dritten Snack pochiert und versteckt sich in einem in ihrer Schale drapierten Arrangement mit Dillemulsion, Dillöl, Tomatenwasser, Balfegó-Thunfisch, Crème fraîche und Queller. Das ist passend kühl temperiert; geschmacklich unterstreicht der Dill das Maritime. Das ist auf gleichhohem Niveau wie die vorherigen Happen. Die aufwändige Kleinteiligkeit der Speisen strengt mich aber etwas an, weil zu vermuten ist, dass sie den Grundstein für den Rest des Menüs legen. (7,5/10)
Nach dem Trio folgen zwei weitere Amuses nebst Brot und Butter in verschiedenen Varianten. Ein Linsen-Kichererbsen-Röllchen mit, unter anderem, Ras el-Hanout, Makrele und Kaviar vom Seehecht schmeckt würzig-rustikal (7/10), was gut zum »Berliner Döner« überleitet – warum auch immer. Dieser kommt in Form eines Fladenbrotchips mit einem Tatar von alter Kuh, »Ayran-Gurken-Stickstoffperlen« und fermentiertem Rotkohl nebst – ebenfalls aufwändiger – Salatbeilage. Das ist für sich betrachtet erneut sehr gut und handwerklich präzise (7/10), doch das Konzept, alle Speisen mit einem Meer an Cremes und Kräutern auszustatten, langweilt. Es geht hier offensichtlich nicht um Produkte, sondern um Mundgefühl, Geschmacksbilder und Technik – so etwas bereitet mir schnell keine Freude. Zudem waren die fünf Snacks schon so üppig, dass ich bereits bereue, das große Menü inklusive Add-on gewählt zu haben.
Ein offenes Glas 2019er Meursault von Arnaud Baillot (18 €) habe ich zusätzlich zum Roten auf dem Tisch stehen. Dann geht es los mit dem ersten Gang.
Kurz gebeizter Ora King-Lachs wurde hier aufgerollt und mit einer Heerschar von Zutaten umringt, drapiert, unterlegt und gefüllt. Blüten, Kräuter, Cremes und Chips ragen zentimeterhoch aus dem Arrangement heraus, drumherum hat man einen lauwarmen Rauchfischsud mit Büsumer Krabben angegossen. Selbst unter dem Lachs versteckt sich noch eine Zubereitung aus Taschenkrebs und Zitrusmayonnaise. Hat man sich seinen Weg durch das Dickicht gebahnt, blitzt am Gaumen manchmal die gute Produktqualität des Fischs auf, hin und wieder eine feine Säure, hier und da das Maritime, flüchtig ein kurzweiliger Texturkontrast. Aber unterm Strich verliert sich das Gericht in seiner eigenen Opulenz – zu üppig, zu unentschlossen und überladen. Vor dem Hintergrund des gekonnten Handwerks und eines irgendwie stimmigen Grundgeschmacksbilds ist das immer noch sehr gut, aber wirklichen Genuss bereitet mir das nicht. (7/10)
Der zweite Gang kündigt sich optisch mit einem ähnlichen Konzept an. Entenleber als Paté wurde hier zu einem Torus geformt und mit geräuchertem Buchweizen-Salat, diversen Himbeer-Zubereitungen (gefriergetrocknet, als Gel und als Sud) und Szechuanöl kombiniert – unter anderen. Die Dekoration mit Blutampfer und Mikrokoriander tragen eine unverkennbare deutsche Handschrift. Im Wesentlichen geht es hier um die an sich schlüssige Kombination von fruchtig-säuerlicher Himbeere mit der reichhaltigen, cremigen Entenleber – sowie um verschiedene »Satelliteneindrücke« drumherum. Einzig begeisternd ist an der Speise ein von irgendwoher stammendes florales Aroma. Das funktioniert also alles, aber die zum Ring gepresste Leber ist auch nicht besonders appetitlich. Hier gibt es kein Produkt, das glänzt, nur Geschmack, Aromen und Textur. (7/10)
Trotz des außerordentlich engagierten Personals und der handwerklich bisher sehr gewissenhaft umgesetzten Gerichte quäle ich mich ein wenig durch den Abend – eigentlich ein ärgerliches Gefühl, wenn man nach unbeschwertem Genuss sucht.
Mein 50-Euro-Extragang, die »Bouillabaisse«, ist eigentlich keine, sondern ein – wie könnte es anders sein – mit dem Fantasiebegriff Langostino falsch bezeichneter Kaisergranat. Der wurde etwas zu mutig gegrillt und liegt in einem Sud aus Krustentier-, Muschel- und Fischfond. Ergänzt wird das Ganze durch kleine Kalmare, Sepia-Nudeln und eine Kalbskopf-Terrine.
Das Gericht duftet intensiv nach den reichlich verwendeten Kräutern, doch der Charakter einer echten Bouillabaisse – mit ihrer würzigen Intensität, maritimen Tiefe und aromatischen Komplexität – bleibt aus. Aber das Gericht hat ein ganz anderes Problem: es ist hoffnungslos versalzen. Ich schaffe nur die Hälfte. (6,5/10)
Darauf folgt ein Duo aus Kalbsbries und Jakobsmuschel. Die hochwertigen Produkte wurden in Nussbutter gebraten und nachgegrillt, dazu stehen eine mit Madras Curry aromatisierte Beurre Blanc sowie Zubereitungen mit Zwiebeln im Mittelpunkt. Insgesamt entsteht am Gaumen ein leicht säuerliches, buttriges Geschmacksbild mit feinen Akzenten von Yuzuabrieb und etwas exotischer Wärme, aber auch dieses Gericht spielt riskant mit der Salzobergrenze. Die üppige Sauce lässt die Kreation zudem schwer und homogen wirken. Auch fehlt der Fokus – es wirkt, als teilten sich zwei Nebendarsteller die Hauptrolle. Auch hier ist es so, dass eine Bewertung unterhalb einer sehr guten dem souveränen Küchenhandwerk nicht gerecht würde, aber die konzeptionelle und tatsächliche Opulenz der Teller lässt für mich keine höheren Weihen zu. (7/10)
Ein Stück in Butter gebratener Rochenflügel kündigt sich beim nächsten Gang mit ähnlicher Opulenz an. Ein ganzer Aufbau an Zutaten ist auf dem Fisch aufgetürmt: Beluga-Kaviar, Blattspinat, geröstete Pinienkerne, Kartoffel-»Airbags«, Sardellen, Rumrosinen, Kräuter. Das Konstrukt selbst ist in einem buttrigen Kapern-Rosinen-Jus auf Kalbsfondbasis angerichtet. Doch zu viel ist zu viel. Der Kaviar bringt in der abermals sehr salzbetonten Sauce das Fass zum Überlaufen; alles wirkt schwer, buttrig, salzig, extrem. Die Eindrücke, die sich hier durchs Menü ziehen, überraschen mich durchaus, denn die Zutaten klingen immer schlüssig und appetitlich. (6,5/10)
Nach diesem Gang lädt man mich auf eine ausgiebige Tour durch die Kellergewölbe des Hauses ein. In sechs verschiedenen Kellern mit den Schwerpunkten Frankreich, Neue Welt, Alte Welt, Champagner, Raritäten und Château d’Yquem lagern hier um die sechzigtausend Flaschen Wein. Die Anekdoten, die man hierzu erzählt, sind eindrucksvoll, die Informationen lehrreich. Erst nach einer Stunde sitze ich wieder am Tisch. Hätte ich das gewusst, hätte ich mir mein Glas Vosne-Romanée mitgenommen.
Wieder am Platz zurück, ist mir schnell klar, dass ich den Rest des Menüs abkürzen muss. Appetit ist längst nicht mehr vorhanden, Neugier auch nicht. Ich probiere noch den Hauptgang und ein (halbes) Dessert – auf einen Gang mit Vacherin Mont d’Or sowie auf ein weiteres Dessert verzichte ich. Der volle Menüpreis wird dennoch berechnet, das ist fair, so kurz vor Schluss.
Der Hauptgang ist Hirschkalb. Es wurde – ich zitiere jetzt die mir freundlicherweise zur Verfügung gestellte Beschreibung der Gerichte – scharf angebraten, dann im Ofen bei 100° auf ca. 50 °C Kerntemperatur fertig gegart, dann ruhen gelassen und nochmal kurz im Ofen erwärmt, mit reduziertem Rehjus und »Silvios Rehgewürz« lackiert, darüber gibt es Feigengel, eingelegte Preiselbeeren, frisch gehobelten Périgord-Trüffel und an der Seite Schwarzwurzel-Creme, Rahmschwarzwurzel, Rahmschwarzwurzel-Sahne-Sud, Schwarzwurzel-Chips, Schwarzwurzel-Crumble, eingelegte Feigen, Tardivo mit P. X. Balsamico-Essig, Lardo, Trüffel-Vinaigrette und Sauce Rouennaise. Als Side-Dish gibt es Hirschkalbstatar mit Rahmschwarzwurzel, Wachtel-Onsen-Ei, frischem Périgord-Trüffel, Oregano, Petersilie und Portulak. Das Fleisch ist zäh, der Rest zu süß – ich kann nicht mehr. (6,9/10)
Das Dessert, das ich noch probiere, präsentiert – ich zitiere erneut – Pistazieneis, Pistaziencreme, Pistazien-Milch-Crème, Pistaziencrumble, Quittengel, Quittenfruchtchip, eingelegte Quitte, Quittenragout, lauwarmen Quittensud, Mascarpone-Stickstoff-Perlen, Mascarpone-Kahlua-Crème, Kaffee-Stickstoffperlen, Kaffeebohnen-Ganache, Kaffee-Kakao-Zucker, Biskuit-Chip und Zitronenmelisse-Kresse, sowie als Side-Dish einen mit Mascarpone-Creme, karamellisierten Pistazien, Quittengel und Kakao-Kaffee-Zucker gefüllten Cannolo. Ich schmecke mit letzter Kraft eine üppige, stark artifiziell anmutende Aromenwelt von Pistazie und Schokolade mit etwas Säure. (7/10)
Diverse Petits-Fours ohne größere Überraschungen beenden dann das Menü. (7/10)
Es ist erstaunlich: Die Diskrepanz zwischen dem bemerkenswert aufwändigen Küchenhandwerk und einem nahezu ausbleibenden Genusserlebnis wirkt paradox. Doch die maßlose Opulenz der Gerichte stand sich selbst im Weg – als sei sie mehr Selbstzweck als Ausdruck einer kulinarischen Idee. Leichtigkeit, Eleganz, Souveränität, Klarheit, gar eine erkennbare Botschaft: all das sucht man hier vergebens.
Aber das Restaurant soll bald renoviert werden. Vielleicht nutzt man die Gelegenheit, um sich von etwas Ballast zu befreien.