Disfrutar – zwischen Kunst und Küche

Besser hätte es für Oriol Castro, Eduard Xatruch und Mateu Casañas kaum kommen können. Zum zehnjährigen Bestehen ihres Restaurants Disfrutar in Barcelona wird es an Platz eins der World’s 50 Best Restaurants gewählt und erstmals mit drei Michelin-Sternen ausgezeichnet.

Zur Einordnung: Die drei Köche arbeiteten viele Jahre lang gemeinsam im El Bulli unter Ferran Adrià, bis zur Schließung des Restaurants. Sie eröffneten dann im Jahr 2012, nur ein Jahr später, unter großer Beachtung das Compartir in Cadaqués und zwei Jahre danach das Disfrutar in Barcelona. Letzteres gilt seitdem als eines der kreativsten Restaurants weltweit.

Nun ist das mit »kreativen« Restaurants (eine genaue Definition dieses Begriffs zunächst dahingestellt) so eine Sache. Mit Essen spielt man nicht, könnte man anführen, doch in der Kulinarik ist es wie in allen anderen Sparten: Man benötigt Innovation, um Stillstand zu vermeiden. Das Problem für den (Genuss suchenden) Gast ist dabei, dass ein besonders kreativer Pfad auch in Richtung Kunst abdriften kann, die nichts mehr mit Kochen zu tun hat (wie z. B. im Mugaritz) oder sich der Lächerlichkeit preisgibt (wie das Servieren von Gerichten auf iPads oder ähnliche Manierismen). Beides geschieht fast immer auf Kosten des Genusses. Aber ein Restaurant, das buchstäblich »genießen« heißt, kann sich Letzteres nicht leisten. Es muss liefern.

Dass das Disfrutar genau das tut, davon konnte ich mich bereits vor sechs Jahren überzeugen. Die Befürchtung, hier immer wieder dasselbe zu essen, muss man auch nicht haben. Wenn in irgendeinem Restaurant der Welt pausenlos und mit regelrecht wissenschaftlicher Akribie Neues entsteht, dann hier. Im Untergeschoss des Disfrutar befindet sich eine Art Atelier mit kulinarischer Bibliothek, Dokumentation, Archiv und Utensilien – sowie ein neuer Tisch in einer offenen Küche. Diesen »Living Table« kann man seit Neuestem exklusiv für ein spezielles gastronomisches Erlebnis buchen. Vielleicht das nächste Mal.

Trotz aller Innovation gibt es oben im Hauptrestaurant nach wie vor ein Menü mit Klassikern (»Classic«) und ein anderes mit überwiegend Aktuellerem (»Festival«), auf das meine Wahl fällt. Beide Menüs kosten 295 € und untermauern damit das für Spanien nach wie vor gemäßigte Preisniveau in der Spitzengastronomie.

Das Interieur ist nahezu zeitlos originell, wenngleich im Speisesaal jetzt weiße Tischtücher für etwas mehr Eleganz und eine verbesserte Akustik sorgen. Ansonsten setzen weiß verputzte Wände und farbenfrohe Fliesen einen mediterranen Ton.

Das Serviceteam ist von Beginn an weltgewandt professionell: humorvoll, versiert, effizient. 28 Gänge soll es über die nächsten Stunden geben, erläutert meine Kellnerin, während ich an einem Schluck Cava »Innoble« von Gramona aus einem Zalto-Glas nippe. »Gänge« sind hier natürlich nicht als auf einen Hauptgang zusteuernde Vorspeisen zu verstehen, sondern als kulinarische Impressionen. Für ein erstes Date, wie ich die Situation an meinem Nebentisch deute, ist das definitiv das falsche Restaurant.

Mit Weinbegleitungen, von denen verschiedene zur Verfügung stehen, setze ich mich nicht auseinander und steuere in der Karte zielstrebig auf Burgund zu. Eine Flasche rot soll heute mein Essen begleiten, und meine Wahl fällt zügig auf einen 2022er Gevrey-Chambertin des aus Tokio stammenden und in Burgund sesshaft gewordenen Kei Shiogai (425 €), gefeierter Star mit winziger Produktion. Es ist ein kraftvoller, präziser und gleichzeitig eleganter Wein, der mir lange im Gedächtnis bleiben wird. Ich nutze in letzter Zeit öfter die Gelegenheit, in Restaurants rare Weine zu bestellen, die sonst so gut wie unmöglich zu beziehen sind.

Das Mahl beginnt dann mit einem »Ladyfinger« (Löffelbiskuit), der natürlich keiner ist, sondern eine extrem fragile, gefrorene Zubereitung mit Passionsfrucht und Rum; Minze schmecke ich auch noch heraus. Durch den Rum entsteht ein leicht ätherischer Geschmack und insgesamt die Impression, eine süße Wolke zu verspeisen. Sehr eindrucksvoll. (8,5/10)

Nach kurzer Zeit geht es weiter – man muss hier ob der vielen Kreationen eine schnelle Taktung durchsetzen. Der Service erkundigt sich dennoch laufend, ob das Tempo für einen stimmig ist.

Sprossen – elf Sorten – sind beim nächsten Teller akkurat von oben nach unten angerichtet. Es gib Honny cress (Aztekisches Süßkraut), Daikon cress (Meerrettichkresse), Persinette cress (Petersilienkresse), Melissa cress (Zitronenmelisse), Atsina cress (Fenchelkresse), Scarlet cress (Rote-Bete-Kresse), Adji cress (Japanischer Pfeffer), Kyona mustard cress (Senfkresse), Rucola cress (Italienische Kresse), Motti cress (Maggikraut) und Borage cress (Gurkenkresse). Sie kommen nicht ganz pur, sondern sind auf einem transparenten Tomatengel angerichtet. Die Aromen der Sprossen sind intensiv und klar und oft unmittelbar mit einer bestimmten Zutat zu assoziieren. Das ist eindringlich gut, manchmal pikant, manchmal süß, oft erstaunlich umami und kräftiger als so manches Steak. Das reine kulinarische Erlebnis ist ganz zu Recht in einem Drei-Sterne-Restaurant beherbergt; gleichzeitig ist die Kreation, wie eine kurze Recherche zu den Sprossen ergibt, kaum etwas anderes als eine Produktpräsentation aus dem Sortiment des niederländischen Sprossenherstellers Koppert Cress. Doch von irgendwo her muss man seine Produkte schließlich beziehen, und daher bleibe ich bei meiner hohen Bewertung von 9/10. Die aromatischen Impressionen sind noch nach Tagen präsent. Es geht bei Spitzenküche nicht darum, wie schwer sie reproduzierbar ist. Das ist bei Kunst genauso – und da hat man schon wieder die Parallele, diesmal jedoch nicht auf Kosten des Genusses.

Zwei weitere Kreationen werden gleichzeitig aufgetischt. »Flüssiger Salat« enthält eine Art Schichtung aus Salat- und Tomatensaft, in der man darüber hinaus noch geeiste Salatstücke findet. Das ist technisch und geschmacklich auf höchstem Niveau. (9/10)

Ein Tomtaten-»Polvorón« ist ein Törtchen aus etwas »staubiger« Tomate, vermutlich gefriergetrocknet und pulverisiert, sehr umami und mit kleinen Perlen aus Olivenöl dekoriert. Etwas sonderbar, aber ebenfalls hervorragend. (8/10)

Ein mit Kaviar gefüllter »Panchino« spielt danach mit der Unbeschwertheit von Schmalzgebäck – hier technisch eindrucksvoll umgesetzt, mit hauchdünner, feinknuspriger Hülle und dem luxuriösen Kontrast des Kaviars. Das ist schwelgerisch gut (8,9/10). Dazu serviert man einen erdigen Trüffelvodka, dessen Herstellung elf Monate in Anspruch nimmt.

Man bleibt noch eine Weile bei Kaviar als Mitspieler. Mit ebendiesem serviert man eine dünne, knusprige Scheibe Brot mit »kristallisierten Blasen« von geräucherter Butter. Eine Lupe lässt einen das luftig-fettige Gebilde bei Bedarf näher inspizieren. Das sieht zwar aus wie ein hochgiftiger Chemieunfall, ist aber nichts anderes als purer Genuss. (9/10)

Anschließend präsentiert man eine eigene Produktion an alkoholhaltigen »Destillaten« aus höchst ungewöhnlichen Zutaten wie Seeigel und Wasabi. Gerade die sprechen mich besonders an. Das Wasabi-Destillat, das ohnehin jetzt vom Service vorgesehen ist, hat 18 Volumenprozent Alkohol und schmeckt authentisch und klar nach Wasabi. Der stammt von einer Produktion in der Nähe von Barcelona.

Zu dem spannenden Wasabitrunk serviert man aus einer Schachtel, bei der man zunächst wegen einer optischen Illusion ins Leere greift, eine Art Tartelette aus Amarant mit dicht aneinander drapierten maritimen Zutaten. Mit Forellen- und Störkaviar, Auster und Codiumemulsion entsteht eine der feinsinnigsten Interpretationen des Themas Meer, die ich je probiert habe. Rein, klar, transparent, dazu das ätherische Aroma des Wasabis im Glas – das ist bewegend! (10/10)

Es bleibt auf dem Niveau. Eine Zusammenstellung verschiedener Zubereitungen aus Tomate – u. a. als Fruchtfleisch, Gelee oder »Traube« von Tomatenkernen –, Mandel, Gurke, Basilikum und sphärisierter Olive ergeben beim nächsten Teller ein lebhaftes, fast überzeichnetes Geschmacksbild eines frischen Sommersalats. Umami, Süße und Säure befinden sich hier in einer wohlschmeckenden Balance. Die kühle, aber nicht kalte, Temperatur passt dazu perfekt. Das ist irre – und irre gut. (10/10)

Es geht jetzt in den nächsten Gerichten, erläutert man, um das Thema Pilz. Den Auftakt macht ein knuspriges Gebilde in Blattform, zu dem ich nur die weiteren Begriffe Butter und Mikrowelle aufschnappe (das Englisch der Servicekraft ist etwas schwer zu verstehen). Auch diese Kreation ist wundersam: mit intensiven Aromen nach klammem Waldboden, hochkonzentriert, knusprig-luftig, fettig, atemberaubend gut. (9/10)

Katalanisches »Coca-Brot«, das an Blätterteig erinnert, serviert man danach mit einer Steinpilzcreme und hauchdünnen Steinpilzscheiben. Durch die üppige Creme erscheint mir der Fingersnack trotz seiner Luftigkeit eine Nuance zu massig, dennoch grenzt auch dieser Bissen an Großartigkeit. (8,9/10)

Die nächste Installation ist ein frittiertes Eigelb, das auf einer aufgeschnittenen Eihülle platziert wurde. Die Anleitung dazu ist etwas kompliziert: Man soll zuerst das flüssige Eigelb in die Eihülle gießen, in der sich wiederum ein konzentriertes Pilzgelee befindet. Dann isst man zunächst den frittierten Fingersnack, um im Anschluss das heiße Pilz-Eigelb-Gemisch auszulöffeln. Die Mühe lohnt sich: Es erwartet einen ein cremig-erdig-knuspriger, ganz unkomplizierter Hochgenuss – von abermals erstaunlicher technischer Raffinesse. (9/10)

Das nächste Werk, das man bestaunen kann, ist eine pochierte Auster, die in eine cremige »Escabeche« mit Pilzessig gebettet wurde. Kleine Shimeji-Pilze, Eiskraut und eine in Essig marinierte, winzige Fichtensprosse komplettieren ein außergewöhnliches Arrangement rund um Bitterkeit, Cremigkeit, Maritimität und Säure. Das dazu servierte Seeigeldestillat schießt den Vogel ab. Nichts für in Hinblick auf Meeresfrüchte Zartbesaitete – und alles für mich. (10/10)

Zwiebelsuppe mit Eigelb, Comté-Creme und einem wolkenartigen Zwiebelbrot ist danach etwas bodenständiger, aber nur in Bezug auf ein weniger komplexes, aber kaum minder genussreiches Geschmacksbild. Hier geht es, ganz linear, um Zwiebel und dessen Süße – kontrastiert von dem umamigeladenen Käse. Süße und Umami – diese souveräne Klarheit macht das Gericht besonders eindrucksvoll. (8,9/10)

Mit nudelartigen Streifen von Seegurke geht es weiter. Die präsentieren sich bissfest gegart, typisch mild und sind hier eher »Träger« für ein pikantes Gewürz und eine viskose, leicht salzige Sauce. Kuriose, metallisch glänzende Gebilde in der Form von Erdnussflips entpuppen sich als Interpretation von Gachas Manchegas, eine rustikale Spezialität aus der Region La Mancha, mit, unter anderem, Mehl, Paprika und Chorizo. Wüsste man nicht, was man hier zu sich nimmt, was auch trotz der Erklärung etwas diffus bleibt, schmeckt das Gericht ein bisschen wie Bandnudeln mit einer herzhaften, leicht pikanten und mild maritimen Sauce. Die Balance der Aromen und Texturen ist hier meisterhaft; auch der Schwenk von der süßen Zwiebel hin zu diesem heißeren, pikanteren Gericht, ist wohltuend und großartig. (9/10)

Es geht weiter mit winzigen, gegrillten Tintenfischen, die um eine Sauce mit thailändischen Aromen und perlenförmig aneinandergereihte Kokos-Sphären angerichtet sind. Das ist Geschmacksbild ist eingängig und nahbar; die Grillaromen des saftigen Tintenfischs passen hervorragend zu den fernöstlichen Aromen. Etwas Koriander frischt das Ganze auf. Hier ist alles stimmig, hervorragend sogar, aber nicht ganz so überraschend. (8/10)

Dann wird es wieder mysteriöser. Es geht nun um Calçots, der katalonischen Lauchzwiebelspezialität. Sie kommt einmal als gefriergetrocknete, aber zimmerwarme, Stange – klebrig und »staubig«, mit intensivem Laucharoma, das irgendwann in Richtung Süßholz abdriftet –, dann als warme Consommé, die wie ein Parfüm mit Leder und Oud duftet, aber nach Zwiebel schmeckt. Dazu gibt es Romesco Miso, eine kreative Fusion-Sauce, die Elemente der spanischen Romesco-Sauce mit japanischem Miso kombiniert. In einer Mischung aus größtem Erstaunen und wohligem Genuss lehne ich mich zurück und schwenke dazu mein Burgunderglas. (9/10)

Die Atmosphäre im Restaurant ist angenehm und spannend. Heitere Gäste, die mit lebhaften Gesprächen für Stimmung sorgen, dazu eine ganze Armada an Servicekräften, die wie Ameisen um die Tische schwirren, erzeugen eine lebendige, kreative und kosmopolitische Atmosphäre.

Es geht weiter mit einer Garnele. Natürlich nicht irgendeine und auch nicht irgendwie präsentiert. Zunächst soll man die Überraschungszutat in einem mit Kohlendioxid vernebelten Holzkasten ertasten und erraten. Mir gelingt das schnell, aber solche Spielchen sind nicht mein Fall. Ich bin froh, dass das der einzige Gag ist, den man sich in dieser Richtung erlaubt.

Auf dem Teller liegt schließlich das pure, noch lauwarme Tier, begleitet von einem separaten »Surf and Turf«-Krustentier-Hühnerjus in einem tiefen Löffel. Ich mache mit der Garnele alles, was sich gehört, schlürfe also zuerst ihren Kopf auf, pule das Tier und tunke es in den hochkonzentrierten Krustentierjus. Das ist Genuss auf höchstem Niveau, nicht nur wegen der qualitativ herausragenden Garnele, sondern auch wegen der Sauce. Einige Grad wärmer hätte mir die Garnele jedoch noch besser gefallen. (8,5/10)

Dann: ein Omelette. Also, nicht ganz, natürlich. Wenngleich das Weiße noch das ist, was es zu sein scheint, entpuppt sich das »Eigelb« als sphärisierter, warmer Krustentierjus mit Safran. Dazu gesellen sich knusprige kleine Krabben, größere Garnelenteile sowie pikante Saucen und aromatische Gewürze aus Singapur, die eine markante fernöstliche Note einbringen. Ingwer bringt Frische, Erdnuss etwas Sanftheit. Das Ganze ist heiß, süßlich, scharf und umami, zugleich knusprig und cremig – eine Explosion an Aromen und Texturen, die ihresgleichen sucht. (Der Vergleich zu einer Shakshuka drängt sich, wenn auch nur sehr entfernt, noch am ehesten auf.) Eine kleine Sensation. (10/10)

Dann folgen zwei Gänge um das Thema Hase. Es gibt zunächst eine Hasenconsommé mit sphärisiertem Algenschaum und Seeigel – algig, maritim, salzig, bitter, »grün«, skurril, wunderbar (8,9/10) – danach dann einen Teller, der so verspielt angerichtet ist, dass es schon wieder Freude macht (es ist ja immer die Frage, wer sich so etwas erlaubt).

Zwei rouladenartige Zubereitungen mit Hase und Foie Gras flankieren »Spaghetti« von ebenfalls Hase und Foie Gras, dazu gibt es dunkle Hasensauce, flüssigen Manchego und Rote-Bete-Meringue. Der Hase hat nur einen leichten, aber dennoch unverkennbaren Wildgeschmack, die Meringue ist fruchtig und floral, der Käse kontrastierend umami. Das ist erneut absolut außergewöhnlich, handwerklich und qualitativ bemerkenswert und in höchstem Maß wohlschmeckend. (9/10)

Zu einem am Tisch geräucherten Cidre gibt es dann, als Pre-Dessert, eine Auswahl an »Mikrowellen-Snacks«. Das ist im Prinzip eine Art Käsegang, bei dem jeder Snack eine herzhafte, knusprige Teigbasis aufweist. Der umamilastige Parmesangeschmack wird jeweils durch andere Mitspieler ergänzt, z. B. mit Basilikum oder einer Essigzubereitung. Einer der Snacks schmeckt etwas süßlich nach Haselnusscreme. Kurzweilig und hervorragend. (8/10)

Anschließend hat man Wahl zwischen fünfundzwanzig »Verlobungsringen« aus Schokolade. Meine Wahl fällt eher zufällig auf einen mit einer weißen Blüte. Der schmeckt süßlich, leicht nach Zimt, ist elegant floral … Ja, ich will! (9/10)

Als »Blütenexplosion« wird das nächste Dessert angekündigt. Ich schnappe hier nur die Begriffe Honig und Mandarine auf. Auf dem Teller befinden sich vermutlich mit Stickstoff gefrorene »Krümel«, die so kalt sind, dass beim Probieren weißer Wasserdampf aus meiner Nase strömt. Durch den Temperaturwechsel entsteht ein Knistern am Gaumen wie früher bei Magic Gum-Kaugummi. Es schmeckt auch so: plakativ fruchtig, süß – und doch elegant floral und mit belebender Säure. Verrückt gut. (8,5/10)

Über einen Sättigungsgrad bin ich längst hinaus. Nach über zwei Dutzend kulinarischer Impressionen bin ich inzwischen in eine Art Degustationsmodus übergegangen, bei dem die Aufnahme neuer Speisen und deren Verbrennung sich ausgleichen.

Dazu passt etwas scheinbar Klassischeres wie ein Schokoladen-Haselnuss-Coulant mit Whiskey-Eis. Während Letzteres tatsächlich vergleichsweise »überraschungslos« daherkommt, wurde das (ohne Mehl hergestellte) Coulant aus nixtamalisierter Schokolade hergestellt. Das Verfahren mildert die Bitterkeit der Kakaobohnen und führt hier zu einer Art mildem Schokoladenpudding mit dickerer Haut. Hier gibt es das erste mal in diesem langen Mahl für mich nichts, wofür ich mich besonders begeistern könnte, wenngleich das nach wie vor sehr gut ist. (7/10)

Ähnlich geht es mir bei einem über einen Monat im Vakuum »gereiften« Apfel, der sich in eine schwarze Masse mit intensivem Apfelaroma verwandelt hat. Dazu gibt es Haselnusseis und eine sehr merkwürdige weiße Masse, die eine Textur hat wie zerriebene Knochen. Weihnachtliche Aromen, aber sehr befremdliche Texturen. (6,9/10)

Eine mit Kokosnuss und Curry gepuffte Waffel mit »Stalagtiten und Stalagmiten« ist dann wieder ganz großartig, mit surreal luftiger Knusprigkeit und ausufernd exotischen Aromen von Karibik bis Thailand. (9/10)

Etwas über drei Stunden nach dem ersten Happen erreichen die Petits-Fours den Tisch. Man muss sie sich aus einer Art Miniatur-Landschaft herauspicken. Es gibt einen Ananas-»Stein«, ein Basilikum-»Blatt«, einen Himbeer-Marshmallow, einen Matcha-»Stein«, ein flüssig gefülltes Schokolade-und-Passionsfrucht-Bonbon, Zuckerwatte und eine Schokolade-Pfefferminz-»Doppelsphäre«. Fast alles davon ist wunderbar – verspielt, aber auf den Punkt, und geschmacklich mit der kindlichen Romantik eines Süßwarenladens ausgestattet. (9/10)

Ich bin verblüfft. Verblüfft, dass ich das alles so großartig fand. Verblüfft, wie weit man die Grenzen der Kreativität ausloten kann, ohne, dass dies auf Kosten des Genusses geschieht. Immerhin sind die Produkte hier oft stark verarbeitet und oft nicht wiederzuerkennen – eigentlich ist das nichts für einen Produkt-Hardliner wie mich. Und doch war dieses Essen herausragend und denkwürdig. Das Disfrutar hat geliefert, was es verspricht – Genuss – und darüber hinaus.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Disfrutar (→ Website)
Chefs de Cuisine: Mateu Casañas, Oriol Castro, Eduard Xatruch
Ort: Barcelona, Spanien
Datum dieses Besuchs: 31.10.2024
Guide Michelin (Spanien 2024): ***
Meine Bewertung dieses Essens 8,9 (Was bedeutet das?)
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