La Table du Castellet – Formel zwei
Als ich vor fünfeinhalb Jahren hier war, hieß der Küchenchef noch Christophe Bacquié. Das damals auch nach ihm benannte Restaurant im weitläufigen Relais & Châteaux Hôtel du Castellet war noch nicht lange mit drei Michelin-Sternen ausgezeichnet, als Pandemie und Lockdowns das Restaurant wieder Geschichte werden ließen. Bacquié und seine Frau führen inzwischen ein eigenes Gasthaus im Luberon namens Le Mas Les Eydins mit zweifach besterntem Restaurant.
Erst letztes Jahr gab es hier in Le Castellet, gegenüber der Motorsport-Rennstrecke Circuit Paul Ricard, eine Wiedereröffnung mit neuem Küchenchef und generischerem Namen. Im La Table du Castellet kocht nun Fabien Ferré, der unter Bacquié noch Souschef hier war. Der Guide Michelin sah trotz der langen Schließung, neuem Namen und neuem Chefposten dennoch genug Gründe, um das Lokal gleich wieder mit drei Sternen auszuzeichnen. Zeit für mich, nach dem Rechten zu sehen.
Mir kommt alles noch bekannt vor. Der Speisesaal ist immer noch in sachlichen Crèmetönen gestaltet, es gibt immer noch einen eigenen Raum, in dem Käse reift, und der Service ist recht förmlich. Es ist eines dieser Restaurants, die tagsüber – und im Sommer – wesentlich angenehmer zu besuchen sind, da sich die breite Fensterfront zu einer einladenden Terrasse mit malerischer Kulisse öffnet. Heute Abend starre ich nur gegen schwarze Fenster, in denen sich das etwas nichtssagende Interieur spiegelt.
Der Service erläutert, dass zwei Menüs zur Auswahl stünden: eine vegetarische (210 €) und eine fischbasierte (260 €) Variante. Meine Wahl fällt auf Letztere (»Expression Marine«). Ich integriere dazu aber noch einen Gang aus dem anderen Menü. Sechs Gänge inklusive Käse und Dessert erscheinen mir ausbaufähig, zumal ich extra aus Barcelona angereist bin, um heute Abend hier am Tisch zu sitzen. Mit anderen Worten: Ich habe Zeit und Appetit mitgebracht.
Während mir die Menüs noch erläutert werden, gelangen schon die Aperitifsnacks an den Tisch – vom Timing etwas ungeschickt. Eine gegrillte Auster vom Erzeuger Giol südlich von Toulon ist in ihrer Schale mit einem säuerlich-jodigen Schalotten-Schaum und einigen Krumen angerichtet. Kapuzinerkresse spielt bei der Kreation auch noch eine Rolle. Die Auster ist mild, ihre Säure sehr appetitlich und die knusprigen Elemente kurzweilig. Ein geschmacklich und qualitativ überzeugender Auftakt. (8,5/10)
Ein Duo aus Tintenfisch, einmal gegrillt, einmal gepufft, kommt mit geräucherter Mascarponecreme und Zitronengel. Die Petitesse schmeckt eindringlich nach Mittelmeer und lauen Sommerabenden, an denen der Duft von Zitrusfrüchten in der Luft liegt. (9/10)
Ein Stück gereifte und gegrillte Dorade am Knochen ist mit »Lupinen-Miso« und Meeresfenchel-Pesto bestrichen – und für diese Zutaten und Zubereitung irritierend geschmacksneutral. Selbst das Stück Dorade, das saftig und gehaltvoll aussieht, gibt nicht viel her. Skurril. (6,9/10)
Eine handwerklich sehr fein umgesetzte Tartelette mit Sardellen – als Creme und als Jahrgangs-Konserve – macht dann wieder alles richtig. Der Snack schmeckt prononciert salzig, appetitlich säurebetont und ist erneut mit konzentrierten provenzalischen Zitrusaromen ausgestattet. Eindringlich gut! (9/10)
In der Zwischenzeit hat der Sommelier den Wein herausgesucht, mit dem ich mein Essen begleiten möchte, einen 2018er Chambolle-Musigny 1er Cru »Les Fuées« von Jacques-Frédéric Mugnier (350 €). Ich muss nach einigen Minuten jemanden bitten, mir schon mal etwas davon einzuschenken – erneut ein kleines Timing-Problem. Überhaupt macht das Service-Team keinen besonders runden Eindruck, was in einem Restaurant auf dem attestieren Niveau schnell auffällt.
Weitere Amuse-Bouches werden aufgetischt. Es gibt eine kalte Consommé von gegrillten Rübchen und schwarzem Knoblauch – kühl, fettig, »lauchig«, rauchig, wundervoll – (8,9/10), dazu einen Löffel mit gegrillter Rotbarbe, Rübchen, gepickeltem Radieschen und Pinienessig-Gel – seltsamerweise aromatisch deutlich verhaltener als erhofft (7/10). Eine ebenfalls servierte Brioche mit Fenchel und Knoblauch ist hervorragend und bleibt erst mal auf dem Tisch stehen. Dazu passt ein Olivenöl aus Toulon.
Der erste offizielle Gang des Menüs ist ein Filet von gegrillter Makrele. Der Fisch wurde mehrfach quer eingeritzt, sodass ein präziser Garpunkt und eine »entspannte« Textur entsteht. Zu dem auf diese Weise auffällig gut zubereiteten Fisch gibt es ein fruchtiges Potpourri von gegrillter Melone, gelber Kiwi, einigen Blüten und einer Vinaigrette mit Aloe Vera. Im Zusammenspiel mit dem Fisch ergibt sich ein sommerliches Geschmacksbild mit ansprechenden Grillaromen, aber es fehlt dem Teller viel, um auch nur im Ansatz über drei Sterne nachzudenken. Die Makrele bleibt jedoch im Gedächtnis. (7/10)
Die Reise ans Mittelmeer fährt mit gegrilltem Tintenfisch fort. Von dem liegt ein großes, quaderförmiges Stück auf dem Teller, das ein markantes Streifenmuster dutzender paralleler Einschnitte aufweist. Angerichtet ist das Ganze in einer hellbraunen, dichten Sauce auf Basis von Geflügeljus, die den Duft von frischem Basilikum und Majoran verströmt. Es fühlt sich überraschend wohltuend an, kleine Stücke des Tintenfischs entlang der feinen Rillen mit einem scharfen Messer abzuschneiden. Am Gaumen setzt sich das für Tintenfisch charakteristische Texturvergnügen fort, das von dem viskosen Jus besonders gut unterstützt wird. Die Kräuter spielen bei dem Gericht eine harmonische Hauptrolle und lassen mich an Majoran als ein deutlich unterschätztes Kraut denken. Trotz der ansprechenden Schlichtheit fehlt auch diesem Teller etwas für wahrhaftige Großartigkeit, doch zum Genießen fehlt ihm nichts. (8,5/10)
Mein aus dem anderen Menü eingeschobener Gang hat Krause Glucke als Hauptzutat. Der schwammartige Pilz wurde gebraten und ist in einem aufgeschäumten Pilzsud mit Lorbeeröl angerichtet. Eine Handvoll Croutons bereichert die graubraune Optik des Tellers zwar nicht allzu sehr, aber der Gang ist geschmacklich und sensorisch herausragend. Der einzigartige, leicht nussige Geschmack des Pilzes wird durch das würzige Lorbeeröl intensiviert und erhält dadurch eine herbe Tiefe, die an Waldaromen erinnert. Die kraus-texturierte Oberfläche absorbiert zudem den heißen Sud perfekt, was jeden Bissen mit einer intensiven Umami-Note abrundet. Eine wundervolle Zutat wurde hier exzellent in Szene gesetzt. (8,9/10)
Es geht dann weiter mit dem »Tagesfang« in Form von Sackbrasse, die mit einem würzigen Bratensaft überglänzt wurde und in einer buttrigen, aufgeschäumten Sauce auf Basis der Karkassen mit Chartreuse und Eisenkraut angerichtet ist. Ein halber Steinpilz, gegrillter Kürbis und ein frisches Zitrusgel komplettieren den Teller. Der Fisch hat eine feste Textur und ist von erwartungsgemäß hoher Qualität. In Kombination mit den hervorragenden Saucen – würzig, tief, säurebetont und elegant zugleich – ergibt sich ein makelloser, sehr »authentisch« schmeckender Teller. Das ist erneut hervorragend – nicht mehr, nicht weniger. (8/10)
Die Atmosphäre in dem grell beleuchteten Raum ohne Ausblick und einem leider sehr roboterartig agierenden Service drückt derweil etwas auf meine Stimmung. Der Unterschied zwischen déjeuner und dîner ist hier buchstäblich wie Tag und Nacht – ich erinnere mich noch gut an den lichtdurchfluteten Saal während meines Mittagessens vor einigen Jahren. Der wunderbare Burgunder erhellt aber meine Laune.
Letzteres tut auch der nächste Gang mit Rotbarbe. Der Fisch wurde entgrätet und anschließend gegrillt, was ihm eine krosse Haut verleiht. Er ist in einer leichten und dennoch würzigen Sauce aus seinen Gräten angerichtet und mit einigen Gemüsen wie Trompetenpilzen und Mangold kombiniert. Besonders die Natürlichkeit der Zutaten gelangt hier besonders gut zur Geltung. Geschmacklich, handwerklich – das Gericht ist erneut angenehm heiß – und qualitativ ist das alles auf sehr hohem Niveau, aber richtig großartig wird es hier offenbar nicht mehr. (8,5/10)
Für den Käsegang, der Teil des Menüs ist, wird man in einen separaten Raum geführt. Dass allein dieser schon »eine Reise wert« sei, wie der Guide Michelin auf seiner Website übertreibt, kann ich so nicht unterschreiben, aber er ist eine kurzweilige Abwechslung zum ansonsten recht langweilig verlaufenden Essen.
Ich wähle fünf Sorten – Morbier, Comté, Epoisses, Brie und einen Ziegenkäse – samt Condiments, alles ist makellos.
Die Patisserie sorgt dann, eher unerwartet, für einen fulminanten Abschluss. Ein Pré-Dessert in Form eines Kräutersorbets – mit Basilikum, Minze, Eisenkraut und Rauke – und einem sehr feinen Schaum aus Zitrusfrüchten begeistert mich mit einer unaufdringlichen Süße in Kombination mit einer eleganten, herben Frische und sommerlichen Aromen. Schlicht und wundervoll. (9/10)
Dass es sogar noch mal richtig ergreifend wird, hätte ich allerdings nicht erwartet. Mexikanische Kiwi, leicht pochiert und in appetitliche Stücke geschnitten, kommt in einer angedickten Sauce mit Estragon sowie mit einem cremigen, gourmandig-süßen Vanille-»Royal«-Eis und einer luftig-knusprigen Scheibe Meringue. Karamellisierte Pistazien sorgen dabei für weitere knusprige Abwechslung. Zusammen mit dem klaren Vanille-Kiwi-Akkord, den süffigen, cremigen Texturen und der zauberhaften Frische ergibt das ein absolut schwelgerisches Dessert. (10/10)
Auch die Petits-Fours sind exzellent. Eine Tartelette aus Zuckerwasser ist mit einer Blaubeercreme und einem Gin-Gel gefüllt. Das ist angenehm leicht, mit frischer Säure und fruchtigen Aromen (8,5/10). Danach begeistert ein Löffel, auf den man festes Haselnuss-Mandel-Praliné mit einem Kakaofrucht-Gel (Oabika) kombiniert. Das ist einer der besten »Schokoladen-Happen«, die ich je probiert habe, mit einer perfekten Balance zwischen Süße, Säure und Nussaromen (10/10). Zum Abschluss serviert man noch einen Löffel mit Mandel-Nougat direkt aus der Schüssel, in dem es hergestellt wurde. Die Süßigkeit ist weich, nicht klebrig, und mit Pistazie, Honig und kandierten Oliven aromatisiert – sehr gut (7/10).
Was die drei Sterne betrifft, hätte sich der Guide Michelin vielleicht etwas in Geduld üben sollen. Mit einem großartigen, gar ergreifenden Essen, das man auf dem attestierten Niveau zumeist erleben kann, hatte das heutige Menü, wenn auch im Kern hervorragend, nichts zu tun. Das Restaurant wirkt ein wenig so, als wolle ein Hotel mit allen Mitteln ein Drei-Sterne-Restaurant betreiben, ganz egal, wer hier kocht und ganz egal, wie es heißt. Das ist legitim, aber charakterlos – und genau das spürte man heute auf den Tellern und auch im Service.
Dass mir dann auch noch verweigert wird, zum Rest der Flasche Burgunder ein Zalto-Glas mit aufs Zimmer zu nehmen (und man das nicht einfach wie selbstverständlich selbst organisiert), stellt dann auch noch die Hotelkategorie in Frage. Am meisten ärgert es mich, dass ich nicht einfach darauf bestanden habe. Manchmal ist man einfach zu perplex.