Glorie – 100/200 und die fehlende Hälfte
Das 100/200 Kitchen in Hamburg hat den Tantris gemacht, könnte man sagen, wenngleich das legendäre Münchner Restaurant natürlich nicht das einzige Haus ist, das zwei Restaurants unter einem Dach beherbergt. (Schon bei der einstigen Wirkstätte von Küchenchef Thomas Imbusch, dem Off Club, war das so.)
Konkret: Seit Anfang des Jahres wurde das À-la-carte-Angebot des 100/200 in ein eigenes Restaurant namens Glorie ausgegliedert. Der Name war die zweite Wahl, nachdem es zunächst eine rechtliche Kollision bei der Verwendung des Namens Gloria gab – da waren die Newsletter schon verschickt und die Ledereinbände der Speisekarten bereits bedruckt.
Aber das einzige Schriftliche, das einen im Glorie als Gast (vor der Rechnung) interessieren sollte, ist ohnehin die Speisekarte. Die bietet diverse Klassiker – im doppelten Sinn. Nicht nur, weil es sich bei Gerichten wie Pâté en croûte und Hummer Thermidor nun mal um zeitlose Klassiker handelt, sondern auch, weil Imbusch solche Gerichte schon länger hier im 100/200 auf der Karte hat. Dass man diesen nun mehr Raum gibt, ist ein Gewinn – für Hamburgs Restaurantlandschaft und für das Haus im Brandshofer Deich 68.
Das Glorie befindet sich auf der so genannten »Empore«, einem kleinen Galeriegeschoss des Hauptrestaurants. Man überblickt von hier oben das gesamte Restaurant. Es ist eine gelungene Mischung aus Privatsphäre und Offenheit. Auch bei den Sitzplätzen, die sich alle an einem durchgängigen, langen Holztresen befinden, gelingt dieser Spagat durch großzügige Sitzabstände und variables Positionieren der Gäste – mal vor, mal hinter dem Tresen, je nach Anlass und Konstellation der Tischgesellschaft.
Ich beginne in diesem atmosphärischen Ambiente glasweise mit einem weißen Burgunder (nicht notiert), schwenke dann aber gleich zu Rot um. Ein 2018er Volnay 1er Cru »Fremiet« von der Domaine Marquis d’Angerville (165 €) hat mein Interesse geweckt. Die Weinkarte, die sich das Glorie mit dem 100/200 teilt, ist kompakt, aber stets mit etwas ausgestattet, an dem man viel Freude haben kann.
Das hausgemachte, noch warme Sauerteigbrot ist nach wie vor das vermutlich beste Brot, das einem in Hamburgs gesamter Gastronomie angeboten wird. Die streichzarte Joghurtbutter mit der kräuterig-pikanten Kombination aus Schnittlauch-, Rosmarin- und Chili-Öl ist dazu eine der wenigen Alternativen zu naturbelassener Butter, die ich ähnlich genießen kann. Das Ganze steht für 35 € auf der Karte, inklusive Wasser – das »Gedeck«, wenn man so möchte.
Wenig später schmücken mehrere kostbare Hering-Teller den Tisch. Eine Scheibe Pâté en croûte (55 €) glänzt vor Saftigkeit, und genauso schmeckt sie auch. Perfekt temperiert, nämlich nicht erkaltet, ist sie von schnittiger Essiggurke und einer süffig-würzigen Sauce Gribiche begleitet, die der üppigen Pastete mit ihrer Frische eine spannende Balance verleiht. In einem weiteren Schälchen liegt ein Bittersalat mit Kräutern, säuerlich angemacht, kühl und durchzogen von Aromen, die an Wald und Wiese erinnern. Der verdient fast den lautesten Applaus des Arrangements. Das Gericht positioniert sich auf diese Weise souverän zwischen Hochküche und Bodenständigem und bereitet mir höchstwahrscheinlich mehr Freude als der Großteil aller Teller, die an diesem Freitagabend in Hamburgs anderen Restaurantküchen über den Pass wandern. (7,5/10)
Roastbeef mit Bratkartoffel (49 €) serviert man ebenfalls als Tellertrio. Da Handwerk und Authentizität zu den Grundpfeilern von Imbuschs Küche zählen, stellt man den Braten natürlich selbst her. Die Rinderhälften, aus denen dieses Fleisch geschnitten wird, reifen im Erdgeschoss des Restaurants in einsehbaren Kühlschränken. Die dünn aufgeschnittenen Scheiben sind ganz naturbelassen; ihr Glanz und ihre Farbe verraten bereits die üppige Saftigkeit und den kräftigen Geschmack. Dass das Fleisch dann am Gaumen einen regelrecht buttrigen Schmelz aufweist, ist bemerkenswert (und köstlich). Variieren kann man den karnivoren Genuss mit warmem Kartoffel-Pavé – das sind hauchdünn geschichtete, knusprig frittierte Kartoffeln, die an Blätterteig erinnern –, einer Sauce Remoulade, Lardo und einer gepökelten Gurke, die überraschend, aber passend, nach Veilchen schmeckt. Ein weiterer Teller mit eingelegtem Gemüse, darunter Blumenkohl, Zwiebeln und Radieschen, ist aromatisch fein justiert und demonstriert neben dem Fleischgenuss die wundersame Vielseitigkeit von Gemüse. Für das, was es ist, in seiner ganzen Schlichtheit und starken Aussage, ist das wirklich großartig. (8/10)
Ich probiere danach noch Röhrennudeln (55 €), die mit versengtem Lauch gefüllt und zusammen mit Sauerkraut und Schnittlauch in einer schaumigen, heißen Kimchi-Butter angerichtet sind. Die Nudeln selbst sind zwar eine Nuance zu stark gratiniert, doch ihr neutraler Teig lässt die Füllung aus rauchig-süßem Lauch klar in den Vordergrund treten. Das Sauerkraut kontrastiert dies mit einer markanten Säure, während die Kimchi-Butter eine leichte Schärfe dazu entfaltet. Sehr gut – und erneut angenehm unkompliziert. Besonders, wenn man das Ganze zwischendurch noch mit etwas Klarem, Frischem kombiniert. (7/10)
Gemeint ist ein Kristallbrot, das Imbusch noch aus dem aktuellen Menü des 100/200 einschiebt. Das wunderbar zerbrechliche, transparente Teigwerk enthält einen ganzen Garten an überbordend frischen Kräutern und begeistert mit einem lebhaften, ätherischen Mix aus Frische und Würze. Flüchtig, fragil, exzellent. (8/10)
Und weil meine eigentliche Motivation für den heutigen Abend einfach nur »ein gutes Steak« war, wähle ich zum Hauptgang ein Clubsteak (65 €). Unter der Rubrik »Molteni Roast Cut« stehen derzeit noch zwei weitere Zuschnitte zur Auswahl, alle im ähnlichen Preisbereich, alle zwischen 200 und 400 Gramm, serviert mit einem Kräutersalat und Café-de-Paris-Butter. Das Fleisch stammt von »Färsenflüsterer« (O-Ton Speisekarte) Andreas Westphal aus Heidenau. Man erklärt in der Karte ferner, etwas belehrend, dass die Küche hier die Garstufe vorgibt und nicht man selbst als Gast. Auf eine andere Idee würde ich ohnehin nicht kommen, aber vermutlich hat man hier schon einiges erlebt, von dem man sich keine Wiederholung wünscht.
Das Fleisch wird vor dem Braten sorgsam pariert; das Fett dieses Clubsteaks wurde zudem lamellenartig eingeritzt. Durch die Ofengarung in einer Schmiedepfanne bekommt das Fleisch eine betörend knusprige Kruste. Es ist – in diesem Fall – medium gegart, dabei äußerst saftig und sehr aromatisch. Letztere beiden Eigenschaften kann man nicht genug hervorheben. Man schmeckt regelrecht die saftigen Weiden. Es geht hierbei nicht einfach um ein beliebiges, gut gemachtes Steak, sondern um das Herausarbeiten von Authentizität, Handwerk und Regionalität. Das ist ein so schmackhaftes Vergnügen, dass ich nur hin und wieder mal etwas von dem appetitlich angemachten Salat dazu auf die Gabel nehme, das Fleisch aber sonst ganz pur genieße. Ich benötige nicht einmal viel von dem guten Bratenjus dazu. Das alles ist rustikal, schlicht und doch eindrucksvoll charakterstark. (7/10)
Hamburg ist mit kulinarischen Hotspots nicht gerade gesegnet – an diesem riesigen rosa Elefanten kommt man einfach nicht vorbei, wenn man das Glorie verlässt. Daher muss man sich auf die wenigen verlassen, die es können. Inhaber Sophie Lehmann und Thomas Imbusch ergänzen sich nicht nur als Paar, sondern auch als Gastronomen. Nun haben sie das 100/200 komplettiert. Das ergab rechnerisch schon immer nur ein Halb.