Smyth – doppelt und dreifach
John Shields und Karen Urie-Shields sind ein bekanntes Paar in der Chicagoer Restaurantlandschaft und haben beide für unterschiedliche Spitzenrestaurants gearbeitet. Mit dem Projekt Smyth & The Loyalist haben die zwei im Jahr 2016 nun ihr eigenes (Doppel-)Projekt umgesetzt. Für das Smyth attestiert der Guide Michelin seit kurzem drei Sterne, weswegen Chicago für mich in kulinarischer Hinsicht wieder auf die Agenda rückte.
Ich bin erst am Mittag in Chicago gelandet und fühle mich durch die Zeitverschiebung etwas in Watte gepackt. Normalerweise vermeide ich kulinarische Eskapaden an ersten Abenden nach einer Langstrecke, aber in diesem Fall ließ sich das nicht anders planen. Ich bin aber guter Dinge, den Abend aufnahmefähig durchzustehen.
Das Restaurant befindet sich in Chicagos Viertel Fulton Market, in einem Gebäude mit der typisch amerikanischen, immer atmosphärischen Kombination aus Backstein, grüner Bepflanzung und schwarzen, loftartigen Fensterrahmen.
Das besternte Smyth befindet sich im Hochparterre, das einfachere The Loyalist im Untergschoss oder im Außenbereich. Dort habe ich in zwei Tagen eine Reservierung und freue mich jetzt schon darauf, ohne bisher auch nur einen Happen in dem Gebäude zu mir genommen zu haben.
Der herzliche Empfang und das eindrucksvolle Ambiente helfen mir dabei genauso wie ein belebendes Glas Champagner (2018 Michel Gonet »Les 3 Terroirs«, ca. 35 €), während ich in der kleinen, aber feinen Weinkarte stöbere. Meine Wahl fällt zunächst auf einen 2017er Pinot Noir »Swan Terrace« des kalifornischen Weinguts Rhys aus den Santa Cruz Mountains (ca. 325 €). Als Wasser wird hier Gerolsteiner serviert; das ist nach einem Flug aus Deutschland besonders ironisch.
Das Überraschungsmenü, das (erst zum Schluss auf der Rechnung) mit 325 $ netto aufgeführt sein wird (umgerechnet brutto ungefähr dasselbe in Euro), beginnt mit einem erfrischenden, kühlen Getränk aus Sapote, Amazake, Ananas und Kräutern, von denen Limonenbasilikum mit einem an Melisse erinnernden Aroma besonders zum Vorschein kommt. Angenehm.
Ein mit Walnussmiso geräuchertes Wachtelei mit Melonenblüte und Feigenhonig schmeckt danach prägnant nach Dill und leicht rauchig, nur der Osietra-Kaviar geht leider unter. Dennoch hervorragend. (8/10)
Der zweite Snack, eine Sauerteigwaffel, ist mit Wildreis-Koji-Creme und Enokiplizen gefüllt, mit einer Algen-Gastrique und Wintertrüffeln gewürzt und setzt die Messlatte noch höher. Elegante Knusprigkeit, anregende Bitterkeit und ein ätherischer, an Pinie erinnernder Geschmack halten mich wach. (9/10)
Es folgt ein »Donut« mit Lammbries, Sommertrüffel und Zitronenthymian. Der kleine Teigball ist durch eine Glasierung mit Kalbsjus leicht klebrig und lässt in dem dicklichen Teig vor allem das Bries vermissen. Das könnte man sicherlich noch etwas justieren, macht aber dennoch Laune. (7/10)
Danach leitet ein Happen mit Jackfrucht, fermentierter Kokosnuss und Taschenkrebs vom Puget Sound ein Duo des delikaten Krustentiers ein. Das schmeckt fruchtig-süßlich und gleichzeitig nach »Hafenbecken«, was ich eher der fermentierten Kokosnuss zuschreibe als dem Krebs – in jedem Fall herausragend gut (8,9/10).
Noch famoser ist ein Chawanmushi mit Öl von gerösteten Krebsschalen, reifer Sapote und hausgemachter Sanbaizu-Sauce. Das schmeckt eindringlich japanisch, »linear« nach weitem Ozean und nichts anderem. (10/10)
Verschiedene Öle, eines aus Chilipaste (Kanzuri) und eines aus Johannisbeerholz, sorgen auch beim folgenden Gang für absolute Begeisterung. Hier wurden Tomaten, allem voran deren Fruchtfleisch, mit Austern kombiniert, Letztere dünn aufgeschnitten und unter den Tomaten versteckt. Dicke Blätter vom Mauerpfeffer erinnern an rohe Erbsen oder Ackerbohnen, und weitere komplexe Zubereitungen, unter anderem mit grünem Tee und Buchweizen, spielen bei dem Gericht eine Rolle. Im Wesentlichen ergibt sich eine Kombination mit viel Umami, schmeichelnder Süße und anregender Bitterkeit – unvergesslich gut. (10/10)
Aufwändig hergestellte Flüssigkeiten sind auch Thema des nächsten Gangs. Zu einem Öl von englischen Walnüssen, Mandelmilch und hausgemachtem Nocino-Likör, gibt es eine großzügige Nocke Kaviar, marinierte rohe Mandeln und mit Rose aromatisierte Butter. Die Kreation ist kaum ein Gericht als vielmehr eine Komposition aus duftenden Ingredienzen, die sich von einem Parfüm allein durch ihren Wohlgeschmack unterscheidet. Nussige Aromen werden von Salzigkeit kontrastiert, bittere Mandel von Rose umgarnt, Umami durch Fett verlängert. »Kochen« muss man hierfür nicht können, sondern komponieren. (10/10)
Auch die folgende Komposition ist eine Wucht. Mit Erdnussmilch glasierte kalifornische Avocado ist auf einer Art Granité von Gurke und Wildreis angerichtet, dazu gibt es Pistazie, Korianderblüte und Mexikanischen Blattpfeffer, alles in unterschiedlichen Zubereitungen, wie Ölen und Saucen. Die Avocado ist intensiv grasig-nussig – nicht »grün« – und hat eine perfekte Konsistenz zwischen Bissfestigkeit und Cremigkeit. Mit einer durch die Kühle des Granités verstärkte Frische der Gurke und einem an Basilikum erinnernden Aroma hat das Gericht parallelen zu einem erfrischenden Cocktail, bleibt aber trotz allem auf der herzhaften Seite. Das ist weiterhin erfrischend originell, qualitativ am Anschlag und zum Augenschließen köstlich. (10/10)
Das herausragende Menü fährt mit der Zubereitung einer Schere vom Hummer (aus Maine) fort, ein Teil des Tiers, den ich wegen seiner spröden und faserigen Konsistenz nie besonders favorisiere. Hier jedoch setzt man vor allem den dickeren Teil der Schere bestmöglich in Szene: Er wurde gegrillt, was ihm prononcierte Röstnoten verleiht – nicht die nussig-süßen, sondern die holzkohleartigen –, dazu ist er längs eingeschnitten, wie man es manchmal mit Jakobsmuscheln macht. Das ist ein hervorragendes Beispiel dafür, wie Schnitttechnik die sensorische Wahrnehmung am Gaumen verändern kann. (In Japan kann man so etwas am eindrucksvollsten erleben.) Der Hummer ist hier in einem aufgeschäumten Jus aus Hummerkarkassen und Guave angerichtet, dazu wurden Teile einer Taglilie angerichtet. Das Aroma der Blume erinnert überraschend an süße Erbsen und passt zur Fruchtigkeit der Sauce. Insgesamt ist das alles weiterhin hervorragend, aber eine Nuance zu süß, um in allerhöchsten Tönen zu schwärmen. (8,5/10)
Mit Saibling geht es weiter. Dessen behutsam in Kombu-Butter gegartes Filet ist bei diesem Gericht mit einer Reihe an Zubereitungen kombiniert, die man notiert haben muss, um sie eindeutig zu identifizieren. (Wenn es kein Menü zum Nachschlagen gibt, schreibe ich immer schnell in meinem Handy mit, was am Tisch vorgetragen wird.) Unter einem Algen-Blatt versteckt sich zum Beispiel ein Porridge mit Amazake und Sommertrüffeln, dazu gibt es konfierte Frühlingszwiebel und geschmorten Grünkohl. Eine ölige, süße, viskose Sauce, die man geschmacklich mit allen genannten Zutaten assoziieren könnte, bildet die Basis. Insgesamt ist mir das Gericht, trotz eines unverkennbaren Umami-Anteils, deutlich zu süß, was dem Herstellungsprozess von Amazake geschuldet sein dürfte, der auf dem Prinzip der Koji-Fermentation basiert. Die hervorragende Qualität des Fischs schimmert hier leider nur etwas hindurch. Natürlich ist das immer noch »sehr gut« – handwerklich und qualitativ und auch in der Darstellung des Geschmacksprofils von Amazake –, aber da es hier eigentlich um Saibling und Trüffeln geht, fehlen mir hier Balance und Feinabstimmung. (7/10)
Der letzte herzhafte Gang präsentiert das renommierte »Elysian Fields«-Lamm aus Pennsylvania, was ich schon vermutete, als ich vor einer Viertelstunde einen Lammduft aus Richtung der offenen Küche wahrgenommen habe (nicht, dass dieses spezielle Lamm am Geruch erkennbar wäre, aber Elysian Fields ist die Spitzenqualität für Lamm in den USA schlechthin, daher meine Vermutung). Es kommt in mehreren Zubereitungen: als gegrilltes Karree, als konfierte Zunge und, in Kombination mit Foie Gras, als Wurst. Die ganzen Teile sind mit einem mit Pflaume und schwarzer Johannisbeere aromatisierten Lammjus, eingelegten Erbsen und gegrillter Gurke kombiniert. Die Qualität des Lamms – die knusprige Kruste, das feine, authentische Aroma, die schmackhaften Fetteinschlüsse – ist astronomisch gut.
Auf einem separaten Teller gibt es ein fluffiges, von außen durch einen Lack aus Kalbsjus und Malz klebriges Stück Shokupan (das briocheähnliche japanische Milchbrot) mit australischem Wintertrüffel. Man stippt das in eine pikante ’Nduja aus Lammherz (!). Alles an diesem Gang ist großartig – von dem am Gaumen schmelzenden Lamm über die ätherischen Trüffeln, die pikante Streichwurst bis zur Präsentation –, nur dürfte der Hauptteller einige Grad wärmer sein. Es ist ein winziger Makel, über den ich zwar genüsslich hinwegessen, ihn aber nicht ganz ignorieren kann. Weltklasse ist das dennoch. (9/10)
In dem stimmungsvollen Ambiente geht es irgendwann mit den Desserts weiter. Das erste ist eine sonderbar anmutende Kreation um Mango (als Gelee und kandiert) und Süßholz (als Sirup), mit Joghurtsorbet, Zitronenverbene, Fichtenöl und Fenchel. Die Kombination aus ätherisch-würzigem Süßholz, das an Lakritzstangen erinnert und durch Fichtenöl aromatisch erweitert wird, der fruchtigen Mango und dem anisartigen Fenchel ergibt nicht weniger als eines der besten »frischen« Desserts, die ich je probiert habe. Überraschend originell und schlicht ganz großer Genuss. (10/10)
Eine weitere, erneut etwas skurril erscheinende Kreation mit einem Pudding von gereifter Banane mit eingelegter Walnuss und kandiertem Kombu ist ebenfalls großartig. Man schmeckt hier interessanterweise die Banane – eine notorisch schwierig zu verarbeitende, weil oft plumpe Zutat – nur leicht im Hintergrund, während ein intensives Walnussaroma hier das Leitmotiv ist. Der Kombu schmeckt leicht salzig, was der gesamten Speise einen Eindruck von Salzkaramell vermittelt. Auch das ist herausragend gut (9/10). Eine dazu servierte, aber als eigenständige Speise gedachte Praline mit Nocino-Likör und Walnuss schmeckt danach beißend alkoholisch und viel zu massig. Das ist kaum essbar – ein kurioser Ausrutscher (5/10).
Zum Glück beendet eine florale, knusprige Tartelette mit Sonnenblumenkern-Praliné, Vanillecreme, Safranöl und verschiedenen Blüten das Menü auf dem Niveau, auf dem es sich die meiste Zeit befand. (9/10)
Unkonventionell, aber nicht polarisierend; hochkreativ, aber unbeirrt köstlich; umfangreich, aber leicht – das sind nur einige der Merkmale dieses denkwürdigen Menüs.
Ein paar Pralinen lasse ich mir noch einpacken, denn so langsam hat mich der Jetlag jetzt fest im Griff. Aber auf übermorgen freue ich mich jetzt schon. Der Burger hier genießt Kultstatus.