es:senz ‒ vom Chiemsee in die Welt
Das Restaurant es:senz, in ebendieser Schreibweise, ist Deutschlands neuestes Drei-Sterne-Restaurant. Weder hatte ich das (erst vor drei Jahren eröffnete) Restaurant noch das ländliche Luxusresort Das Achental am Chiemsee zuvor auf dem Zettel. Die extravagante Eigenschreibweise des Restaurants hebt die beiden Initialen des Küchenchefs Edip Sigl hervor. Der verhalf einst dem Münchner Les Deux zu einem zweiten Stern und greift zudem auf langjährige Drei-Sterne-Erfahrung im Amador in Langen und bei Heinz Winkler zurück.
Das weitläufige Resort ist nur eine gute Stunde Fahrt von München entfernt. Gut, wenn man schon mal dort ist.
Nach einem angenehmen Nachmittag vor Ort, mit bereits kleinem kulinarischem Auftakt in der »Weinstube«, geht es am Abend dann »in die Essenz«, wie man hier sagt. Heute ist einer der heißesten Tage des Jahres, um die dreiunddreißig Grad, bei hoher Luftfeuchtigkeit – tropische Verhältnisse.
Meine Hoffnung, nur einen kurzen Weg aus dem angenehm klimatisierten Zimmer ins Restaurant überbrücken zu müssen, löst sich am Abend schnell in schwüle Luft auf. Eine Klimaanlage sei nicht vorhanden, erklärt man mir, trotz verräterischer Luftauslässe in der Decke. Überhaupt wünschten sich die meisten Gäste offene Terrassentüren, durch die im Laufe des Abends allerdings statt einer erlösenden Brise zahlreiche Mücken für ihr ganz eigenes Festmahl hineinströmen.
Die Situation wird dann etwas unübersichtlich. An meinem Tisch kann ich jedenfalls keine Minute sitzen. Der von der Situation sichtlich überraschte, aber ebenso verschwitzte Service, platziert mich kurzerhand in einen Nebenraum in der Nähe des Weinlagers.
Dort ist es etwas kühler, aber sehr rustikal. Dass man hier nicht den gesamten Abend verbringen möchte, wird schnell klar. Nach einer Weile reicht der sehr bemühte Service erst mal ein Glas Dom Pérignon, um die Situation zu deeskalieren, und erste Snacks.
Um Wurzelspeck und Essiggelee gewickelte Zuckerwatte leitet den kulinarischen Teil des Abends mit einem Ausrufezeichen ein. Die Süße der Zuckerwatte macht schnell der säuerlich-herzhaften Speckzubereitung Platz, sehr effektvoll (8,5/10); danach bietet ein »Mon Chéri« in Form einer mit Kirschgelee ummantelten Entenleberpraline mit Wintertrüffel auf einem Brotchip verdichteten Entenlebergenuss. Die Terrine ist kühl, aber nicht zu kalt, die Kirsche säurebetont statt kitschig, und der Brotchip angenehm filigran, große Klasse (9/10).
Eine Tartelette mit Eismeergarnele, Fingerlimette und Palmherz schmeckt blumig-floral und erinnert eher an ein elegantes Parfüm als an Garnelen (8,9/10); und ein »Macaron« mit Renke, Fenchel und Sauerrahm ist geschmacklich erneut so hervorragend, dass man ihm seine etwas zu klebrig-süße Baiser-Basis verzeiht (8/10).
Was die Speisekarte betrifft, stehen zwei Menüs zur Auswahl, ein sechsgängiges (»Chiemgau pur«, 235 €) und ein achtgängiges (»Chiemgau goes around the world«, 330 €). Man ist aber flexibel bei der Zusammenstellung. Da mich die »weltlichen« Zutaten heute Abend etwas mehr ansprechen, wähle ich das längere Menü und ergänze noch um einen Gang mit Kalbsbries aus dem anderen.
Dann geht es zurück an den Tisch, wo die penetrante Hitze immer noch nicht auszuhalten ist. Dabei geht es nicht um einen pingeligen Wunsch von Herrn Walther, der seine gewünschte Raumtemperatur nicht bekommt. Es geht darum, dass ein Restaurant auf diesem Niveau – das heißt, in einem modernen Luxushotel mit höchstem Anspruch, moderner Ausstattung und entsprechenden Preisen – nicht nur für eine Wohlfühlatmosphäre sorgen muss (und üblicherweise auch will), sondern auch für einen einheitlichen, konstanten Auftritt, ein Markenbild. Dazu gehört auch das Raumklima. Und da wir hier nicht in einem Strandlokal in Thailand sind, ist die Situation hier eine veritable Zumutung. Das Thema überschattet den gesamten Abend.
Dass sich andere Gäste nicht darüber beschweren, schreibe ich der hier völlig entblößten Unfähigkeit zu, in Deutschland mit Hitze umgehen zu können.
»Brot und Brioche« folgen dann als weiterer Teil der Einstimmungen, die in der Karte als »Apéro« zusammengefasst sind. Es gibt frisch gebackenes Kartoffelbrot und Brioche mit Salz (beides sehr gut), dazu geschlagene Butter (wie immer nie dem Original vorzuziehen) mit Kürbisstaub und Senfvinaigrette. Letztere macht aber Laune.
Noch besser als das Brotintermezzo sind ein dazu servierter, märchenhaft aromatischer und leicht pikanter Kräutersalat mit Schnittlauchcreme (8,5/10), sowie eine bemerkenswert aromatische Scheibe Tomate aus Granada auf hausgemachtem Frischkäse mit einer Bärlauchknospe und einer Vinaigrette mit Tomatensaft und Chardonnay-Essig. Das hätte etwas kühler sein dürfen, aber bei der Raumtemperatur ist das natürlich auch schwierig zu managen. (8,5/10)
Der erste Wein aus der attraktiven und fair bepreisten Karte ist auch schon im Glas, ein 2020er Chardonnay »Filzen« des Weinguts Wasenhaus in Baden (120 €); der zweite ist auch schon offen, ein 2017er Montepulciano d’Abruzzo von Emidio Pepe (220 €). In Gruppen – wir sind zu viert – macht das Thema Wein natürlich noch mehr Spaß, da man mehr variieren kann.
Nach den Einstimmungen zum Aperitif führt das Menü noch mit zwei Amuse-Bouches fort. Das erste ist ein Tatar von der Bachforelle mit Anisgelee, Zitronenverbene-Vinaigrette, Rettich und gerösteten Hanfsamen. Die kleine Speise ist eine Wucht, konzentriert, umami und doch elegant und floral, mit sehr behutsam integriertem Anis. Dass der kühle Fond geliert ist, lässt das Gericht noch dichter erscheinen. Wer bisher aus irgendeinem Grund noch nicht hellwach ist, sollte es spätestens jetzt sein. (9/10)
Amuse Nummer zwei hört auf Brathähnchen und kommt in Form eines Spießes mit einem Stück saftiger, gegrillter Keule, N25-Kaviar und ebenso saftigem, erdig-aromatischem australischem Trüffel, sowie einer heißen, mit Bratfett aromatisierten Hühneressenz. Hitze, ein nicht zimperlicher, aber passender Salzgehalt und intensiver Hühnergeschmack machen auch diese »Vorspeise« zu einem Highlight auf höchstem Niveau. (9/10)
Ich bin in der Regel kein Freund von derart vielen Einstimmungen, aber die Küche meistert die Herausforderung perfekt, dass die Speisen nicht nur leicht und bekömmlich, sondern regelrecht unverzichtbar sind.
Dann geht es auch »offiziell« los. Der erste Gang ist ein Gericht mit Gelbschwanzmakrele (Hamachi). Drei Tranchen des buttrig-milden Fischs sind auf einem Stück Wassermelone angerichtet, dazu gibt es eine große Nocke N25-Kaviar, Schnittlauch und eine hausgemachte Ponzusauce. Das Gericht ist eine Wucht, mit betörendem Schmelz, maritimen Aromen und einem fantastischen Spiel mit Süße, Salz und Umami. Die Wassermelone (zufälligerweise auch gestern bei Sigi Schelling ein Begleiter zum Hamachi) bringt dazu ein wichtiges, belebendes Element ins Spiel. Das ist souveräne Weltklasse und auch, wie so oft auf diesem allerhöchsten Niveau, angenehm kompakt und fokussiert angerichtet. (10/10)
Letzteres trifft auch auf den nächsten Gang zu, den ich aus dem anderen Menü eingeschoben habe. Es gibt Kalbsbries in Form einer golfballgroßen, knusprig und goldbraun gebratenen Portion, die in einem heißen (!) Weißen-Pfeffer-Schaum angerichtet und mit Salatspitzen, Sonnenblumenkernen und Speck kombiniert ist. Der Pfefferschaum ist elegant leicht und durch seine ätherische Schärfe und begrüßenswerte Hitze dennoch kraftvoll und ein spannender Kontrast zum nussigen, leicht süßen und zarten Bries. Ich habe andere herausragende Gerichte mit Kalbsbries probiert, bessere sicherlich nicht. (10/10)
Der nächste Gang ist mit »Langostino« betitelt, eine in deutschen Küchen skurrilerweise weitverbreitete falsche Bezeichnung für Kaisergranat. Das edle Krustentier wurde für diesen Gang als eine Variation angerichtet. Auf dem Hauptteller findet man das Tier in einer (etwas zu milden) Wasabi-Beurre-Blanc, die vermutlich ohne echten Wasabi auskommen muss, dazu gibt es noch Brotchips und Mandeln für etwas knusprige Textur. Der Kaisergranat ist qualitativ hervorragend, wenngleich diesem Arrangement etwas »Pepp« fehlt.
Weiter findet man die Schere des Tiers, bei der etwas Fleisch drangelassen wurde, um dies in eine elegant gewürzte Krustentierhollandaise zu stippen. All das ist hervorragend, aber in diesem Fall nicht mehr. (8/10)
Inzwischen ist auch ein Rotwein im Glas, ein 2018er »Paradigma« des österreichischen Weinguts Claus Preisinger (105 €), der unserem bisherigen Motto »Es muss ja nicht immer Burgund sein« folgt.
Steinbutt folgt in einer schon in der Karte köstlich klingenden Kombination mit Lardo, Fenchel, Erbsen, Tomaten und Oliven. Eine nach Kräutern, Anis und Vinaigrette schmeckende Sauce auf Tomatenbasis fängt das mediterrane Thema dieses Tellers perfekt ein. Der schmelzende Bauchspeck bringt dazu Salzigkeit und Schmelz. Erneut ist die kompakte Anrichtweise in einem tiefen Teller ideal dazu geeignet, das Gericht komplett mit dem Löffel zu genießen. An den Proportionen – viele Saucen, wenig Fisch – ließe sich vielleicht noch etwas optimieren, aber dass man diesen Teller bis zum letzten Milliliter Sauce blankputzt, gerne auch mit etwas Brot, versteht sich von selbst. (8,5/10)
Vor dem Hauptgang noch eine Erfrischung einzuschieben, ist fast schon aus der Mode gekommen. Ich vermisse sie nur dann, wenn sie so gut ist wie dieses Yuzugranité mit separat servierter Sechuanblüte. Letztere sorgt, wie der bekannte Pfeffer, für ein elektrisierend-betäubendes Gefühl am Gaumen und unterstreicht die schlanke, kühle Frische des blumig-aromatischen Granités. Alles hieran ist auf höchstem Niveau – in fast schon japanischer Schlichtheit. (9/10)
Im Glas ist inzwischen ein 2011er Nuits St. Georges »Clos des Corvées Pagets« 1er Cru von der Domaine Arnoux-Lachaux (230 €). Irgendwann muss es eben doch wieder Burgund sein.
Dazu gibt es Poltinger Lamm, wie gestern bei Sigi Schelling, und doch ganz anders. Den Hauptteller – es gibt noch zwei Satellitenteller – ziert ein kompaktes Stück vom Rücken, rosa gebraten, mit besonders appetitlicher Fettschicht und krosser, präzise goldbraun gebratener Haut.
Dass man schon diesen Teller als herausragend empfindet, obwohl »nur« ein Schmorjus mit Ratatouillegemüse, eine Kräuterhollandaise und Süßkartoffel das Fleisch begleiten, liegt an einer bemerkenswerten Präzision aller handwerklichen Aspekte, vom perfekten Abschmecken über stimmige Temperaturen bis zu idealen Proportionen. Und doch hat auch hier das Lamm ein eher verhaltenes Aroma; ein paar Kristalle Meersalz obenauf hätten ebenfalls nicht geschadet.
Der dazu servierte Lammzungensalat ist leicht kühl, würzig abgeschmeckt und eine kurzweilige Abwechslung zum Hauptteller. Auch ein Taco mit einer Schmorzubereitung vom Lamm ist mit einer stimmigen orientalischen Würzung eine exzellente Ergänzung zu einem genussreichen Gang auf sehr hohem Niveau. (8,9/10)
Ein kleiner Käsegang folgt in Form eines Stücks Ziegenkäse, das mit einer marinierten Aprikosenscheibe und »vertrockneten« Oliven garniert ist. Das Ganze wird mit einer samtig aufgemixten Vinaigrette und altem Balsamico abgerundet, was in Verbindung mit einer separat aufgetischten, köstlichen Scheibe gerösteten Knoblauchbrots für urfranzösischen Genuss sorgt. Das kann nur jemand so umsetzen, der es selbst liebt, einen Rest Vinaigrette mit etwas Baguette aufzusaugen und noch ein Stück Käse draufzulegen. Der Gedanke eines solch bodenständigen Genusses wurde hier äußerst optimiert auf den Punkt gebracht. (9/10)
Genauso famos ist das erste Dessert, ein cremiges, geschmacklich dichtes Safraneis mit Kürbiskernöl und fermentierter Hagebutte. Trotz der kühlen Temperatur schmeckt das Dessert so warm wie eine orientalische Nacht (oder die aktuelle). Hinreißend gut. (9/10)
Zu der exotischen Hitze von allen Seiten passt das letzte Dessert, bei dem tropische Früchte die Hauptrolle spielen, unter anderem die Kerne einer qualitativ famosen Passionsfrucht, die man am Tisch direkt aus der Frucht zu dem Dessert hinzugibt. Drachenfrucht, Ingwer, Mango und eine Vanillecreme sind weitere Mitspieler eines perfekten Desserts mit exotischem Flair. (9/10)
Die Petit-Fours sind ebenfalls auf Weltklasseniveau und trotz aller Vielfalt nicht zu umfangreich, um nichts davon auszulassen, wohl aber, um alle Details zu notieren. (9/10)
Der Titel dieses Menüs war »Chiemgau goes around the world«, und das war keine Floskel. Edip Sigl und sein Team servierten heute Abend eine souveräne, handwerklich sehr präzise Spitzenküche mit weltstädtischer Aura, hervorragenden Zutaten und einer beeindruckenden Vielfalt – ohne sich jemals zu verzetteln. Dass es sogar noch ein weiteres Menü gab, das auch an unserem Tisch genossen wurde und gleichermaßen für Begeisterung sorgte, ist bemerkenswert und mindestens ein weiterer Grund, um wiederzukommen. Vielleicht aber nicht im Sommer.