Quattro Passi – vier Schritte nach ganz oben

Ein Flug nach Neapel und anderthalb Stunden Fahrt über abenteuerliche Serpentinen bringen mich an diesem Samstag zum Restaurant Quattro Passi. Es ist genau die Art von Anreise, von der man sich erhofft, dass die drei Michelin-Sterne ihr Versprechen halten.

Das Haus in Marina del Cantone blickt auf eine vierzigjährige Geschichte zurück. Anfangs wurden hier Hühnereier aus eigener Zucht verkauft (daher dient ein Ei als wiederkehrendes Designelement), später eröffnete man eine Pizzeria, die nur »vier Schritte von Meer« entfernt ist, daher der Name. Vier Schritte ist das Haus allerdings von gar nichts entfernt, und zum Meer hinunter sind es fünfzehn Minuten.

Heute führt der Enkel des Gründers, Fabrizio Mellino, das Hotel-Restaurant zusammen mit seiner Frau. Mellino ist erst 30, als seine Küche letzten November mit drei Michelin-Sternen ausgezeichnet wird.

Ich erreiche das Haus um die Mittagszeit bei überraschend schlechtem Wetter, aber gutem Appetit. Nach dem Einchecken in einem großen, aber etwas karg eingerichteten Zimmer betrete ich das Restaurant spontan zum Lunch. Meine eigentliche Reservierung ist erst heute Abend.

Die Kulisse ist eindrucksvoll. Man sitzt vor einer riesigen Glasfront, die wegen des Wetters jedoch gerade nicht geöffnet ist. Dem Ausblick tut das keinen Abbruch. Es tut gut, das Meer zu sehen.

Wissend, dass ich auch heute Abend hier speisen werde, schlägt man mir vor, jetzt zum Mittag einfach ein paar simplere Speisen außerhalb der Karte zuzubereiten. Ich stimme sofort zu. Das ist jetzt genau das Richtige – genauso wie eine Flasche Weißwein, ein 2018er Trebbiano d’Abruzzo von Valentini (250 €). Mal sehen, wie weit man damit jetzt kommt, ansonsten lasse ich den Rest einfach bis zum Abend stehen. Ich mag diese Strategie, die natürlich nur aufgeht, wenn man sich länger in einem bestimmten Hotel mit Restaurant aufhält.

Die Weinkarte ist umfangreich und setzt ihren Schwerpunkt auf die verschiedenen Regionen Italiens. Leider bietet das Restaurant die Karte – auch auf Nachfrage – nicht online an, sodass ein vorheriges Stöbern nicht möglich war.

Mein ungeplantes Lunch wird fabelhaft. Es gibt zuerst ein paar kleine Snacks wie Muntanara (eine frittierte Mini-Pizza mit Tomate und Basilikum), eine kleine Pizzakugel aus dem Ofen mit Sardelle sowie eine pralinenförmige Speise mit frittierter Aubergine. Die Petitessen sind sehr präzise umgesetzt und gehen sofort ins Herz.

Danach gibt es den in diversen mittelmäßigen italienischen Restaurants rund um die Welt malträtierten Klassiker »Tomate-Mozzarella« in einer Form, die so grundlegend wie nur möglich den Unterschied zwischen Himmel und Hölle demonstriert.

Hierzu werden von einem Servierwagen drei verschiedene Tomatensorten auf einem Teller angerichtet, dazu gibt es Mozzarella und (!) Burrata. Die beiden Käse aus Büffelmilch nebeneinander zu probieren, ermöglicht interessante Vergleiche zwischen der cremigen Burrata und der festen, aber dennoch elastischen Mozzarella. So einfach, so gut! (Das Gericht steht später mit 50 € auf der Rechnung, für zwei Personen.)

Zwei kleine Pastagerichte folgen. Es gibt zuerst Spaghetti mit Tomatensauce (25 €) in der vermutlich besten Version, die ich je probiert habe. Die bissfest gegarte Pasta stammt vom Hersteller Gentile aus der Region, und die Sauce strahlt mit ihrer Frische und natürlichen Süße wie ein ganzer Sommer.

Ein weiteres Spaghetti-Gericht folgt mit einer maritimen Sauce mit Herzmuscheln (30 €) und Petersilie, doch hier muss ich mehrfach »nachschmecken«, um gesichert festzustellen, dass hier mindestens eine Prise zu viel Salz verwendet wurde. Sehr gut ist das trotzdem – jetzt muss nur noch die Zeit bis zum Abendessen schnell vorbei gehen.


Am Abend wird es stimmungsvoller. Ich bevorzuge warme Lichter bei Dämmerung gegenüber der Helligkeit des Tages – dann fällt auch nicht mal mehr der graue Himmel auf.

Die Weinfrage hatte ich heute Mittag schon versucht, einzugrenzen. Mit Unterstützung des Sommeliers fällt meine Wahl schließlich auf einen 1999er Barolo »Cannubi« von Paolo Scavino (300 €), vorab gibt es noch einen regionalen Weißwein, einen Fiano di Avellino »Xorós« von Stefania Barbot (Glas 15 €), der mich entfernt an einen Chablis erinnert.

Die Speisekarte bietet zwei Menüs zu je 280 € mit Add-on-Optionen, sowie einen A-la-carte-Teil mit Gerichten aus den Menüs. Meine Wahl fällt auf das »Best of«-Menü mit einem zusätzlichen Gang.

Die ersten Kleinigkeiten erreichen auch schon den Tisch. Ein Häppchen mit magerem und dennoch äußerst gehaltvollem Thunfisch begeistert mit der dazu servierten, gereiften Sojasauce, und versetzt mich gedanklich nach Japan. (8,9/10)

»Nudeln« aus Tintenfisch mit gehobeltem Bottarga sind danach ein genauso großer Genuss, zunächst scheinbar »trocken«, dann aber immer saftiger und lebendiger. Das hallt erstaunlich lange nach, auf angenehm maritime Art. (8,9/10)

Weitere kleine Vorspeisen erreichen den Tisch. Ein in einer Orangenschale angerichtetes Campari-Orange-Gelee schmeckt überraschend salzig und erfrischend (7,5/10), ein knuspriges, hauchdünnes Teigröllchen mit Thunfischtartar ist angenehm leicht und qualitativ überzeugend (7,5/10).

Danach spielt eine sehr aromatische, mit Gelbschwanzmakrele gefüllte Olive mit Minze und Olivenöl gekonnt mit Bitterkeit (7,5/10). Die Snacks sorgen einzeln betrachtet nicht für ausufernde Begeisterung, greifen aber – auch handwerklich sehr präzise – eine kurzweilige »Aperitif-Stimmung« auf. Das macht Spaß!

Die kleinen Snacks leiten geschmacklich sehr schlüssig zum ersten Gang des Menüs über. Es gibt eine »Blume« aus Tintenfisch, angerichtet auf einem Tatar von Kaisergranat und getoppt mit Oscietra-Kaviar. Das Gericht entfaltet sich geschmacklich erst nach und nach. Der erste Happen schmeckt noch etwas neutral, aber dann ändern sich meine Assoziationen in Richtung Klarheit und Transparenz. Jede neue Portion baut am Gaumen allmählich ein spannungsvolles maritimes Geschmacksbild auf. Nichts hieran schmeckt »fischig«, es gibt nur das saubere, salzige Meer. Ein »Wasser« aus grünem Apfel unterstreicht dabei die maritime Frische. Höchst eindrucksvoll. (9/10)

Danach folgt der von mir gewählte Zusatzgang. Der ist mit »Lardo« betitelt, macht aber in der Beschreibung schon klar, dass es auch hier um Tintenfisch geht. Für dieses Gericht hat man ihn (angeblich zusammen mit Wolfsbarsch, den ich jedoch nicht ausmachen kann) zu einer Art Speck verarbeitet. Dieser wurde in hauchdünne Streifen aufgeschnitten und auf einer Blumenbemalung auf dem Teller platziert, was erneut das Thema Transparenz aufgreift. Geschmacklich ist das etwas prägnanter als vorhin, fast wie eine weitere Steigerung des ersten Gangs. Eine dünne Schicht mit Gewürzen sorgt hier für zusätzliche Akzente. Ebenfalls gehört ein kühles, grünes Süppchen mit Ackerbohnen und sehr aromatischen Blüten zu dem Gericht, sowie ein Stück »Socca«, dem vor allem in Nizza sehr verbreiteten dünnen Pfannkuchen aus Kichererbsenmehl. Alles ist herausragend gut. (9/10)

Mit dem nächsten Gang gibt es gegarte Rotbarbe in einer knusprigen Waffel, die man in einen luftigen, mit Orange und Rosmarin aromatisieren Kartoffelschaum stippt. Das ist erfrischend unkompliziert, die Rotbarbe ist saftig – nur der Schaum, der angenehm nach Zitrusfrüchten schmeckt, ist am Ende etwas mächtig. Auch der Frittiergeschmack der – recht dicken – Waffel erscheint hier etwas plump. Ich vermute, dass das Gericht eine regionale Spezialität aufgreift. Das ist immer noch sehr gut, aber nicht weiter weltbewegend. (7/10)

Das Niveau wurde aber nur kurzzeitig verlassen. Mit »Linguine alla Nerano« folgt ein Klassiker der Region, der üblicherweise mit Spaghetti zubereitet wird. Auch findet man im Original keine Zucchiniblüten. Außer einer üppigen Sauce mit Parmesan, dazu etwas Basilikum und schwarzem Pfeffer, benötigt das Gericht nichts weiter, um vollends zu begeistern. Besonders verblüfft mich das appetitliche Mundgefühl, hervorgerufen durch die samtige Cremigkeit und bissfeste Pasta. Die Zucchini dazu ist ebenfalls bemerkenswert aromatisch. Ein solches, scheinbar simples, Gericht hat viele kleine Stellschrauben – hier ist jede perfekt justiert. Das ist großes Pastakino. (9/10)

Ähnlich verheißungsvoll klingen die Gnocchi mit einer Füllung aus geschmorter Lammschulter, serviert in einem San-Marzano-Tomatensud mit Mozzarella-Schaum. Die herzhaft-süffig klingende Kombination entpuppt sich jedoch als nicht ganz so überzeugend, vor allem, weil die Farce der Klößchen im Verhältnis zur Teigmasse zu gering portioniert ist. Auch die Sauce, die geschmacklich an puren Kalbsfond erinnert, bietet nicht die erhoffte Balance zu den mächtigen Gnocchi. Man schmeckt Salz und Umami, aber es fehlen Aromen, man liest Lammschulter, aber vermisst das Fleisch. Sehr gut ist das am Ende dennoch, aber eben nicht mehr. (7/10)

Und dann prescht das Menü noch mal nach vorne, als gäbe es kein Halten mehr.

Beim nächsten Teller liegt ein Stück Wolfsbarsch, eingewickelt in ein geschmortes Salatblatt, in einer samtigen Sauce mit Sauerampfer und Amalfi-Zitrone. Ganz offenkundig ist das Gericht eine Hommage an das legendäre Lachsgericht mit Sauerampfersauce von Pierre Troisgros, in dessen Genuss ich leider nie gekommen bin.

Das Salatblatt lässt sich leicht auftrennen und gibt dann den Blick auf den perfekt gegarten, schneeweißen, saftigen Wolfsbarsch frei. Und schon ein kleiner Löffel davon – das ebenfalls dazu servierte Fischmesser verwende ich gar nicht – mit einer Probierportion der Sauce ist eine Sensation. Die Säure der Sauce, die von der samtigen Textur ausbalanciert wird, ist sehr appetitanregend; die floralen Aromen der Amalfi-Zitrone und die kräuterartige Frische des Sauerampfers unterstreichen dabei das frische, schlanke Geschmacksprofil. Das Gericht wirkt sehr lebhaft, sogar eine Spur opulent, und ist von makelloser Güte und Ausführung. Dass das alles viel französischer schmeckt als italienisch tut der Sache keinen Abbruch. (10/10)

Es folgt Kalbsfilet in Weißweinsauce, so der bescheidene Titel. Das Gericht mit dem unscheinbaren Titel überrascht in mehrfacher Hinsicht. Zwar ist Kalb aus der italienischen Küche nicht wegzudenken – man denke an Vitello Tonnato, Ossobuco, Cotoletta alla Milanese usw. –, doch bleibt das milde Fleisch eine an sich mäßig spannende Zutat, gerade im Rahmen einer dreifach besternte Küche. Doch Kalb ist, wie die Klassiker beweisen, äußerst vielseitig. In diesem Gericht zeigt sich das in einer Fülle von Kräutern, unter denen das Fleisch versteckt ist, und in einer leidenschaftlich reduzierten, dunklen (dennoch mit Weißwein eingekochten) Sauce, die auf appetitliche Weise die Lippen zusammenklebt. Die Sauce ist eine der besten, die ich seit langer Zeit auf dem Teller hatte – Paul Bocuse hätte seine wahre Freude daran gehabt. Schon das Fleisch mit der Sauce wäre ein einziges Schlemmfest, doch hier fügt man spannungsvoll aromatische Kräuter hinzu. Die bringen Frische und Bitterkeit, um die Intensität der Sauce zu kontern, und wenn dann noch die anisartigen Aromen des Kerbels ihre Wirkung entfalten, wird es magisch. Ein großartiges Kalbfleischgericht. (10/10)

Nach einer idealen Pause geht es irgendwann weiter mit den Desserts. Das erste würde sich kaum ein anderes Drei-Sterne-Restaurant trauen, so nonchalant anzurichten – derart unpräzise wirken die aufgesprühten Schaumkleckse und unscheinbaren Kiwistücke um ein nicht ganz mittig platziertes Sorbet. Doch wer kann, der kann! Was in diesem Fall heißt: Die Kombination aus einem perfekt süß-saurem Limettensorbet, schmeichelnd lauwarmem Milchschaum mit Minze und sehr aromatischer Kiwi ist ein absoluter Dessert-Traum. (9/10)

Das nächste Dessert ist eine kleine Portion Safran-Milchreis, die in ein Kugelsegment aus Schokolade und Pistazie angerichtet ist. Anders als das herzhafte Safran-Risotto, das im Le Calandre Kultstatus genießt, ist dieses hier angenehm süß, dennoch warm und mit einem strahlenden Safran-Aroma ausgestattet. Die Körnung ist so perfekt wie bei einem japanischen Nigiri-Sushi aus Meisterhand, und die Kombination mit dem Schokoladenrand, bei dem die Pistazie viel mehr im Vordergrund steht, erreicht den Gipfel des möglichen Dessertgenusses. (10/10)

Dasselbe gilt auch für den Abschluss in Form einer Interpretation eines Tiramisu, bestehend aus einer hinreißend knusprigen Basis aus Kokos-Meringue, einer schaumigen Creme aus Kaffee und Bailey’s sowie einem Kartoffeleis. Letzteres schmeckt eher nach Vanille oder Haselnuss und ergibt zusammen mit allen anderen Komponenten ein Dessert, so luftig und leicht wie man es von einer Wolke im siebten Desserthimmel nur erwarten kann. Dass man das Dessert zuerst austauschen muss, weil jemand eine transparente Anricht-Folie vergessen hatte, zu entfernen, schadet dem Erlebnis nicht. (10/10)

Diese Abfolge an Desserts zählt zu den besten, die ich seit langem in einem Restaurant genießen durfte. Die scheinbare Einfachheit der Kreationen verblüfft dabei, aber überrascht mich nicht. Je mehr Komponenten verteilt auf dem Teller liegen, umso genauer sollte man hinschmecken. Hier ist alles unmissverständlich.

Auch die Pralinen und Petit-Fours bereiten noch Freude, fallen aber im Vergleich deutlich ab. Es gibt Schokoladeneier in verschiedenen Geschmacksrichtungen wie Anis, Rosmarin, Basilikum und Chili, weitere Schokoladenpralinen und Sfogliatella Santa Rosa. Letzteres ist eine regionale Gebäckspezialität mit einer Füllung aus Vanillecreme, die hier auch zum Frühstück serviert wird. Das könnte man sicherlich etwas verfeinert interpretieren (alles ca. 7/10). Entscheidend ist aber: Man muss das nicht. Niemand braucht nach einem derart großartigen Menü noch einmal einen Paukenschlag bis zum letzten Happen.

Ich habe noch einen Schluck Wein im Glas – irgendwie ist darin noch ein roter Toskaner gelandet (Guicciardini »Strozzi Sòdole«, Jahrgang nicht notiert) – und starre noch eine Weile hinaus ins schwarze Nichts. Zum Glück sind es nur vier Schritte zum Zimmer – mehr oder weniger.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Quattro Passi (→ Website)
Chef de Cuisine: Fabrizio Mellino
Ort: Marina del Cantone, Italien
Datum dieses Besuchs: 18.05.2024
Guide Michelin (Italien 2024): ***
Meine Bewertung dieses Essens: 8,9 (Was bedeutet das?)
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