The Ledbury – weiße Weste

Fast dreizehn Jahre ist mein letzter Besuch im The Ledbury in London her. Das Restaurant von und mit dem australischen Küchenchef Brett Graham war damals sehr angesagt und gewann viele Auszeichnungen, unter anderem zwei Michelin-Sterne und hohe Platzierungen in den World’s 50 Best Restaurants. Mein Besuch hinterließ keine bleibenden Eindrücke.

Irgendwann flaute der Hype etwas ab, bis das Restaurant im Jahr 2020 pandemiebedingt auf unbestimmte Zeit schließen musste. Einige befürchteten, für immer. Zwei Jahre später stand das The Ledbury aber wie Phönix aus der Asche wieder auf, erlangte auf Anhieb wieder zwei Sterne – und hat seit diesem Jahr sogar drei. Zeit für einen Wiederbesuch.

Dass das von mir gerade gestern erst besuchte Dorian gleich um die Ecke ist, lässt mich fast etwas wehmütig fühlen. Dort könnte ich glatt noch mal einkehren, so lässig und gut war es. Aber heute Abend steht das Gegenteil auf dem Plan: weiße Tischdecke statt Tresen, Tasting Menu statt à la carte, gediegene Atmosphäre statt lebendige Quirligkeit.

Angenehm ist es hier trotzdem. Man hat die Tischanzahl merklich reduziert, dadurch wirkt es luftiger; auch das Interieur wurde von einigem – aber nicht allem – Ballast befreit. Erst auf den zweiten Blick erkenne ich das Restaurant wieder. Ich glaube, ich sitze sogar am selben Platz.

Um in einem Restaurant wirklich anzukommen, muss ich erst mal alles Wesentliche klären, das heißt vor allem die Getränke- und Speiseauswahl. Beim Menü hier gibt es hier nicht viel zu regeln, es kostet 225 £ (ca. 260 €) und führt acht Gänge auf. Die Zutaten klingen sehr ansprechend. In der auch online einsehbaren Weinkarte habe ich vorher schon ein wenig gestöbert und entdeckte einen raren 2005er Nuits-Saint-Georges 1er Cru »Clos de la Maréchale« von der Domaine Jacques-Frédéric Mugnier (ca. 435 €). Zum Start gibt’s offen ein Glas Rosé-Champagner von Jean-Philippe Trousset (ca. 34 €) und noch etwas offenes Weißes (nicht notiert).

Es geht dann ganz klassisch mit einer Reihe von Amuse-Bouches los. Der erste Happen ist ein quaderförmiger, knuspriger Snack mit Entenparfait und Orange – rauchig, fruchtig, äußerst fein (8,5/10) –, die anderen sind schlichte Produktpräsentationen von spanischem Schinken verschiedener Sorten, gut, aber etwas unverständlich in diesem Kontext (6,9/10).

Es geht weiter mit geräucherter, marinierter Forelle auf einer Art herzhaftem Muffin – rauchig, leicht süßlich und bis auf einen Anflug von Schwere ganz hervorragend (8,5/10). Eine filigran gebackene Croustade mit Hummer, Algen, Forellenrogen und elegant eingebrachten Zitrusfrüchten hebt das Niveau weiter an (8,9/10).

Der letzte Gruß ist ein am Spieß serviertes Tempura von der Jakobsmuschel mit Krustentiermayonnaise – kurzweilig, aber etwas geschmacksneutral. (7/10)

Fünf solcher Einstimmungen reichen mir dann auch; ich freue mich immer, wenn es »offiziell« losgeht.

Der erste Gang ist ein vielschichtiges, in einem tiefen Teller angerichtetes Arrangement mit einem Eis und vielen Blüten, das so aussieht als wäre es kalt, adstringierend und sauer. Doch nichts davon trifft zu. Ein Forellentartar mit Apfel-Tagetes-Sorbet, Forellenrogen, Blüten, Pomelo und frisch über das Gericht gehobelter Yuzu (himmlisch!) ist kühl, aber nicht eisig, säurebetont, aber nicht sauer und belebend herb, aber nicht bitter. Ein Parfüm von Kräutern und von der ausufernd blumigen Yuzu schwebt dabei über dem Teller. Ganz groß! (9/10)

Es geht weiter mit drei Tranchen roh servierter Rotbarbe, die im Mittelpunkt eines kompakt, aber mit vielen weiteren, kleinteiligen Komponenten angerichteten Arrangements steht. Da muss man sich erst mal einen Überblick verschaffen. Es gibt zum Beispiel Scheiben von grünem Spargel, Périgord-Trüffel und Bottarga, dazu diverse Kräuter, Blüten, Shiso-Öl und eine Schnittlauch-Vinaigrette mit Trüffel-Dashi. Letztere bildet ein geschmacklich wichtiges Säurerückgrat, die das Gericht mit einer »Süffigkeit« ausstattet, die man beim Wein »Trinkfluss« nennen würde. Alles passt hier zusammen: die großartige Qualität des kühlen Fischs, die aromatischen Spitzen der Kräuter und der erdige Trüffel. Hinzu kommt die ansprechende Bitterkeit des Rogens, der die frühlingshafte, schlanke Frische des Gerichts unterstreicht. Das schmeckt wie ein kühler, frischer Frühlingsmorgen. Grandios. (10/10)

Beim nächsten Gang geht es um Kalbsbries. Die knusprig gebratene Delikatesse wurde zwar unter einer Sauce begraben, doch sie tut dem Genuss keinen Abbruch. Die Erbsen-Kokos-Velouté leitet aromatisch zu den baskischen Erbsen über, die neben dem Bries angerichtet sind, wobei die aromatisch kaum wahrnehmbare Kokosnuss hier allenfalls mit einem Hauch Süße unterstützt. Eine weitere Sauce auf der Basis von Kaffernlimette, Zitrone und Schnittlauch bringt wieder diese straffe Süffigkeit ins Spiel, und eine Kalbsbrühe, die auch noch Verwendung findet, unterstützt den Briesgenuss noch mal etwas klassischer. Es gibt Gerichte, die aus Unsicherheit mit so vielen Saucen angerichtet werden – und solche wie diese, wo jede Note stimmt. Zusammen mit der perfekten Garung des Bries ist das ein weiterer Gang auf Spitzenniveau. (9/10)

Es geht weiter mit Wolfsbarsch aus Cornwall, der abermals überraschend komplex angerichtet ist und das Hauptprodukt zunächst versteckt, hier unter einer Scheibe Iberico-Schinken, die über dem Fisch zu schmelzen scheint. Dazu gibt es ein Sake-Dashi, N25 Kaluga-Kaviar und geräucherte Miesmuscheln – alles Zutaten, die sowohl das maritime Motiv weiterführen, als auch eine elegante Räuchernote und etwas Umami beisteuern. Geschickt setzt die Küche hier auch wieder einige säurebetonte Komponenten ein – weißen Spargel und unreife Erdbeeren –, die das Gericht lebendig wirken lassen. Es ist ein gelungener Drahtseilakt, so viele Zutaten derart stimmig und genussbringend zu kombinieren. (9/10)

Optisch analog zum Kalbsbries präsentiert der nächste Gang Pilze aus der eigenen Aufzucht. Die Aufzucht ist so »eigen«, dass man sie auf dem Weg nach unten zu den Waschräumen in einem Kühlschrank bewundern kann. Um welche Arten von Pilzen es sich genau handelt, habe ich nicht erfahren, aber zum einen gibt es einen mit Pilzen gefüllten Raviolo sowie weitere Pilze, die auf dem Teller mit verschieden Saucen kombiniert sind, unter anderem eine Bärlauchsauce, die mit dem typischen »Knoblauch light«-Aroma gut zu den erdigen Aromen der Pilze passt. Trüffel ist auch noch im Spiel, natürlich nicht aus dem Kühlschrank stammend. Das Gericht hat eine angenehm hohe Temperatur, ist mutig – aber dennoch richtig – gesalzen und sowohl harmonisch als auch spannend. (8,5/10)

Beim letzten herzhaften Gang geht es um Reh (aus Berkshire) in einer Kombination mit roter Bete, Kirsche, schwarzer Olive und Süßholz – dunkle, erdige Mitspieler also. Ohne Kontext hätte ich den Teller wegen der kleinteiligen, aufgespreizten Anrichtweise mit hoher Wahrscheinlichkeit in Deutschland verortet, doch weit gefehlt. Hier ergibt auch alles Sinn: Das Filet ist eines der saftigsten und aromatischsten Stücke Reh, die ich je probiert habe. Die Kombination mit den waldigen, rotbraunen Zutaten ist absolut stimmig. Ein wenig Knochenmark hat man auch noch auf den Teller platziert, was einen ähnlichen Effekt hat wie ein saftig-aromatischer Fettrand bei einem Steak. Auch, dass man hier auf eine im Zusammenhang mit Wildgerichten oft überstrapazierte fruchtige Süße verzichtet, lässt diesen Gang erfreulich herzhaft und umami wirken.

Das ist ein absolut herausragender Gang – lediglich zwei à part servierte Teigbällchen mit geschmorter Rehschulter schmecken leider etwas stumpf. Schwamm drüber, es bleibt Weltklasse. (9/10)

Das erste Dessert kombiniert Gariguette-Erdbeeren mit altem Balsamessig, Brunnenkresse und Fromage Blanc in unterschiedlichen Zubereitungen. Schon der erste Probierlöffel – mit knuspriger Meringue, kühlendem Granité, cremigem Balsamico-Sahneeis und einem intensiv-aromatischen Erdbeersud – ist himmlisch. Auch hier gelingt es der Küche, aus einer scheinbar unnötig kompliziert angerichteten Kreation ein besonders zugängliches Dessert zu kreieren, das sofort ins Herz geht. (10/10)

Dasselbe gilt für Dessert Nummer zwei, eine Kreation um karibische Crayfish Bay-Schokolade mit Quitte, Kumquat und Lapsang Souchong. Hieran begeistert besonders die säurebetonte Schokolade mit leichten Karamellnoten und deren Einrahmung mit aromatischen Zitrusfrüchten. Auch dieses Dessert sieht aus wie viele, durch die ich mich schon gelangweilt durchgekämpft habe – das hier ist Weltklasse. (9/10)

Die Petit-Fours lasse ich mir noch einpacken, damit ist auch mein Frühstück gesichert.

Insgesamt ist das Erlebnis im The Ledbury klassisches Fine Dining in einem eleganten, aber nicht zu förmlichen Rahmen. Die Küche ist stilistisch in Frankreich fundiert und mit hervorragenden Produkten makellos ausgeführt. Der Service ist souverän, alles läuft angenehm, aber vorhersehbar. Insoweit hat das Restaurant eine schneeweiße Weste.

Für ein Erlebnis, das ich gerne wiederholen würde, fehlt mir jedoch irgendein Alleinstellungsmerkmal (wenn man von dem Pilzkühlschrank absieht), sei es ein besonderer Ort oder ein besonderes Konzept. Irgendetwas, das einem den Kopf verdreht.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: The Ledbury (→ Website)
Chef de Cuisine: Brett Graham
Ort: London, Vereinigtes Königreich
Datum dieses Besuchs: 20.04.2024
Guide Michelin (Great Britain &
Ireland 2024)
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Meine Bewertung dieses Essens: 8,9 (Was bedeutet das?)
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