Yoshino – großer Meister, große Bühne
Wer sich so wie ich für authentisches Sushi begeistert, nutzt jede der raren Gelegenheiten, um in dessen Genuss zu gelangen. Vielleicht noch mal ein kurzer Umriss, was hier mit authentischem Sushi gemeint ist: Sushi im Edo-Stil, serviert mit Zutaten aus Japan, von einem Japaner in einem japanisch eingerichteten Restaurant, meist mit Tresen aus japanischem Zypressenholz.
Eine der Städte mit der größten Auswahl an derartigen Restaurants außerhalb Japans ist New York City. Nicht wenige japanische Küchenchefs, die oft Jahre lang in berühmten Sushi-Restaurants in ihrer Heimat tätig waren, wagen am Hudson River einen Neustart, um ihr Können einem neuen (breiten und zahlungskräftigen) Publikum zu präsentieren. Masayoshi Takayama (Masa), Nozomu Abe (Sushi Noz), Tomoyuki Hayashi (Sushi Amane) und Daisuke Nakazawa (Sushi Nakazawa) sind nur einige Namen, die man in diesem Zusammenhang nennen kann.
Einer der neueren Protagonisten in der Stadt ist Tadashi Yoshida, der sich von seiner Konkurrenz dahingehend unterscheidet, dass er bereits ein hochdekorierter Sushi-Meister in Japan war. Von 2012 bis 2018 führte er das Familienrestaurant Sushi No Yoshino in Nagoya, einem der damals besten und exklusivsten Sushi-Restaurants Japans. Auf seinem Karrierehöhepunkt liebäugelte Yoshida dann mit der Idee, sein Restaurant nach Tokio umzuziehen, entschied sich aber für New York, wo er im Herbst 2021 das Yoshino eröffnete.
In einer Stadt, in der die Nachfrage nach hochwertigem Sushi kaum zu bändigen ist, führte Yoshidas Ruhm von Anfang an zu einer hoffnungslosen Reservierungssituation. Die Nachfrage schraubte dann auch schnell den Preis nach oben: Das im Voraus zu entrichtende Menü an dem kleinen Tresen kostet inzwischen 648 Dollar (ca. 610 €) pro Person – wenn man Glück hat, denn die Reservierungen auf der Plattform Tock sind immer vergriffen. Ich kam nur mit schriftlichen Bemühungen per E-Mail ans Ziel, wissend, wie man bei japanischen Empfängern den richtigen Ton trifft.
Meine Reservierung ist für das zweite Seating um halb neun an einem Mittwochabend. Damit bin ich einer von 120 Gästen, die im Yoshino jede Woche, außer sonntags, bewirtet werden.
Der Eingang zum Restaurant in Manhattans Stadtteil Noho ist typisch für New York: unprätentiös, etwas ramponiert und schnell zu übersehen. Auf Laufkundschaft ist man ohnehin nicht aus.
Es ist immer etwas Besonderes für mich, ein Sushi-Restaurant zu betreten. Ich habe meine Empfindungen dabei schon oft beschrieben. Von den Gerüchen über die ästhetischen Details bis zur japanischen Sprache löst alles bei mir ein wohliges Gefühl der Vorfreude und des »Angekommenseins« aus. Angekommen in einer verborgenen Welt, die erlesenen Genuss verspricht.
Aus der kompakten Weinkarte wähle ich einen 2013er Chardonnay »Sigrid« des kalifornischen Weinguts Bergstörm (340 $). Dann geht das Menü auch schon los mit den Otsumami, den Vorspeisen, die ein solches Sushi-Mahl üblicherweise einleiten.
Die erste Speise ist eine kühle Kreation mit Kegani (Rosshaarkrabbe), Seeigel aus Hokkaido, Kaviar, Essiggelee und Shisoblüten. Das Gericht schmeckt nach Japan pur; die maritimen Aromen und Texturen, gepaart mit der feinen Säure des Essigs und dem ausufernd blumigen Shiso sind ergreifend. Ich bin sofort in Japan angekommen. (10/10)
Es geht weiter mit zwei kleinen Stücken Tako (Oktopus), serviert mit heller Sojasauce und Senfkörnern. Der minimalistische Snack ist gleich eine weitere Sensation. Die lauwarme Temperatur und die leicht bissfeste Textur des Oktopus gehen eine verblüffend stimmige Symbiose ein, während auf geschmacklicher Ebene Süße, Umami und Salzigkeit, jeweils verhalten, Ähnliches tun. Besonders dieses »Andeuten« von Attributen, das man irrtümlich als Unentschlossenheit interpretieren könnte, fasst auf bewegende Weise die japanische Denkweise zusammen. Es ist sagenhaft, wie ein so kleiner Snack so grandios schmecken kann. (10/10)
Meister Yoshida arbeitet konzentriert, lässt sich aber immer wieder auf Gespräche und Scherze mit den Gästen ein, meist auf Japanisch – an seinem Englisch arbeite er noch, gibt er zu verstehen. Offenkundig sind auch einige Stammgäste anwesend, denen vermutlich das komplizierte Reservierungsprozedere erspart bleibt.
Yoshida-san wird am Tresen von einem weiteren Koch unterstützt, und in einer traditionell durch einen Vorhang abgetrennten kleinen Vorbereitungsküche arbeitet weiteres Personal. Im Service agiert dazu ein sehr freundlicher Sommelier und eine ebenso gut gelaunte Restaurantleiterin, beide Japaner und gut des Englischen mächtig.
Der nächste Gang präsentiert die saisonale Delikatesse Shirako (Fischmilch) auf einer kleinen Portion Reis, dazu gibt es einen Zweig Sansho-Pfeffer. Die cremige, heiße Zutat lässt sich sehr gut mit dem Reis zusammen vermengen und genießen; die milde Süße und der fruchtig-scharfe Pfeffer ergeben einen anregenden Kontrast. Auch das ist handwerklich und qualitativ auf Weltklasseniveau. (9/10)
Es folgt Chawanmushi, die traditionelle japanische Eierspeise. Der Meister reibt darüber hausgemachtes Karasumi, die japanische Version von Bottarga. Der Rogen hat einen intensiven, umami-geladenen und leicht salzigen Geschmack, der auf dem heißen Eierstich schmilzt und dadurch noch präsenter wirkt. Er kontrastiert angenehm mit der seidigen, cremigen Textur des herzhaften Chawanmushi. Die Speise brilliert in ihrer Einfachheit und Eleganz; es ist ein weiteres kleines Meisterwerk. (10/10)
Der andere Koch grillt inzwischen Jakobsmuscheln (Hotate) aus Hokkaido über einem Tischgrill mit japanischer Holzkohle. Das edle Meerestier benötigt lediglich einen Umschlag aus Nori und eine geschickte Handbewegung des Meisters, um als nächstes zu begeistern. Der nussig-süße Geschmack der besonders saftigen Muschel, die subtile Räuchernote der Holzkohle und das erdige Umami des knusprigen, überraschend aromatischen Seetangs (auch hier gibt es erhebliche Unterschiede) ergeben ein ausgewogenes Ensemble, in dem man sich nur verlieren kann. Überwältigend gut. (10/10)
Immer noch Teil der Vorspeisen ist die dann folgende Suppe. Den Deckel des Schälchens öffne ich so, wie es die japanische Etikette vorsieht: mit dem Deckel nach oben, um die kostbare Verzierung darin zum Vorschein zu bringen. Die leicht trübe Suppe beinhaltet den edlen Fisch Kinmedai (Glänzender Schleimkopf), Auster und Hamaguri, eine Muschelart. Wegen einiger Scheiben schwarzen italienischen Wintertrüffels duftet das Gericht anregend nach nassen Laubwäldern. Durch die Hitze der elegant umamibetonten Brühe ist das Erlebnis am Gaumen von Beginn an fesselnd. Es wäre eine weitere perfekte Speise, wenn ich mir nicht die ganze Zeit über den Garzustand des Fischs den Kopf zerbräche. Der kostbare Kinmedai hat zwar von Natur aus eine feste Textur, aber hier erscheint mir der ideale Garpunkt etwas übertroffen. Vielleicht gab es ein kleines zeitliches Problem zwischen dem Einlegen des Fischs und dem Servieren. Aber wir reden hier immer noch über eine Qualität, für die man weit reisen muss, um ihr zu begegnen. Selbst die Trüffelqualität ist so hoch, wie man sie ironischerweise in Europa kaum erleben kann. (8,9/10)
Und dann wieder unfassbar: roher, allenfalls leicht marinierter Lachs (eine in Japans Spitzenrestaurants eher seltener begegneten Zutat) mit einer cremigen Tomate-Zwiebel-Emulsion. Die erinnert entfernt an eine Vinaigrette, befindet sich geschmacklich aber durch die integrierte Tomate mehr auf der Umami-Seite; die Zwiebel fügt noch eine ungemein schmeichelnde Süße hinzu. Die samtige, viskose Textur der Sauce ist das verbindende Element zum vollmundigem, buttrigem Lachs. Und trotz aller Üppigkeit kommt das Gericht kühl und schlank daher. Es ist, als würden ganz neue Geschmackssynapsen aktiviert. (10/10)
Meister Yoshida bereit jetzt einige Dinge für den folgenden Sushi-Teil vor. Unter anderem flämmt er mit einer Art Handgrill, bei dem die Holzkohle obenauf liegt und direkt auf das Gargut gepresst wird, eine Reisrolle mit Saba (Makrele), was den Fisch mit einer appetitlichen Bräunung versieht. Das Stück Sushi wird noch einmal in Nori eingeschlagen und dann direkt in die Hand serviert. Es duftet intensiv nach Grill und Meer und schmeckt auch so. (Anm.: Einzelne Teile einer Sushi-Sequenz bewerte ich regelmäßig nicht separat.)
Es folgt Kohada, eine Heringsart, hervorragend portioniert und mit fabelhaftem Shari, dem leicht und appetitanregend mit Essig gesäuerten japanischen Reis.
Kawahagi, ein Feilenfisch, serviert mit einem Stück seiner Leber, schmeckt mild, lauwarm und kommt mit etwas perfekt darauf abgestimmtem Schnittlauch. Das ist weiterhin absolutes Weltklasseniveau.
Sawara, eine Makrelenart, hat einen angenehmen Schmelz und wohlig rauchige Aromen, die an ein weiter entferntes Lagerfeuer erinnern.
Es folgt dann eine typische Abfolge dreier Thunfisch-Schnitte.
Akami (magerer Thunfisch), kühl und umami, …
Chutoro (mittelfetter Thunfisch) mit betörendem Schmelz …
und Otoro (fetter Thunfisch) in beeindruckender Qualität und von den drei Teilen das beste (das ist nicht immer so, oft überrascht auch gerade der magere Thunfisch).
Das nächste Stück mit Anago (Salzwasseraal) begeistert danach mit etwas mehr Wärme und einem charmanten Spiel zwischen Süße und Umami.
Perfekte Portionen und, fast noch wichtiger, Proportionen, eine herausragende Temperaturabstimmung und rare Spitzenqualitäten besiegeln ein Niveau, das man außerhalb Japans kaum finden kann. In Anbetracht dessen und der unzähligen Details, die gutes Sushi ausmachen, fällt es schwer, zu beschreiben, warum selbst hier noch Steigerungsmöglichen bestehen. Aber sie sind klein. (Sushi hier: 8,9/10)
Wer so ein Sushi zum ersten Mal probiert, was auf die Gäste im Yoshino vermutlich seltener zutrifft, geht das Risiko ein, diese Speise nie wieder in anderen Qualitäten zu tolerieren – allein schon, um dieses bemerkenswerte kulinarische Handwerk nicht zu diskreditieren.
Nach dem Sushi folgt eine Misosuppe, und es ist eine der allerbesten, die ich je probiert habe – dichter und öliger als die mir bekannten, extrem heiß und mit einem Kinmedai-Dashi (!) als Grundlage. Es ist ganz aufwühlend. (10/10)
Eine Handrolle mit Reis, Otoro, Uni und abermals diesem wunderbar aromatischem Noriblatt lässt noch einmal abschließend das Sushihandwerk hier auftrumpfen. Es ist natürlich nicht nötig, noch einmal an die sensationellen Produktqualitäten erinnert zu werden, dafür aber mehr als genüsslich. (9/10)
Auch ein japanisches Omelette (Tamago) ist großartig, weil die Technik des Von-oben-Grillens auch hier wieder angewandt wurde und eine leicht karamellisierte Schicht erzeugt hat, wie bei einer Crème brûlée. Das mag nicht traditionell sein (aber wer weiß?), ist aber noch spannender als viele konventionelle Tamagos. Die leichten Karamellnoten, die Texturkontraste, die fluffige, nussige Eimasse: All das macht die kleine Speise zu einem großen Dessert. (9/10)
Eine Sauce aus kostbaren, intensiv aromatischen Kotoka-Erdbeeren bedeckt bei der letzten Speise eine Nocke Eis von weißer Schokolade. Das ist genauso schlicht und großartig wie das Omelette zuvor. Der Kontrast zu über-angerichteten Desserttellern mit Klecksen aus Quetschflaschen könnte nicht weiter weg sein. (9/10)
Das Yoshino ist eines der besten Sushi-Restaurants, die ich außerhalb Japans besucht habe und vermutlich das beste Sushi-Restaurant in New York City. Der eine Michelin-Stern ist reine Satire – oder eine Art Strafe für die komplizierte Reservierung.
Und dann bin ich wieder draußen, in der New Yorker Nacht. Es leuchtet, es tönt, es ist kalt, und die Erinnerungen an alle Genüsse sind noch ganz präsent. New York, Japan, alles ganz wunderbar.