Le Bernardin – Fels in der Brandung
Keine New-York-Reise ohne einen Besuch im Le Bernardin: So hatte ich es mir vorgenommen, seit ich vor über siebzehn Jahren zum ersten Mal in der legendären Seafood-Institution in Midtown Manhattan war. Eingehalten habe ich diesen Vorsatz nicht immer, aber meistens.
Schon damals kochte hier Eric Ripert, schon damals gab es hier puristische, handwerklich verblüffende Fischspezialitäten auf Drei-Sterne-Niveau, und schon damals fesselte mich das Flair des Restaurants mit einer Mischung aus Eleganz, Gemütlichkeit und New Yorker Betriebsamkeit. Seit einer umfassenden Renovierung im Jahr 2011 wirkt alles noch edler und stilsicherer.
Durch den großen Speisesaal mit zahlreichen Tischen, Gästen, Gesprächen und Angestellten, der Verwendung von warmen Holztönen und gedämpftem Licht herrscht im Le Bernardin immer eine entspannte Atmosphäre – trotz aller Förmlichkeit. Immerhin tragen die meisten Gäste hier Business Attire, obwohl man sich von der Sakko-Pflicht für Herren offiziell längst verabschiedet hat.
Eigentlich wollte ich auf dieser Reise endlich meinen Plan umsetzen, den ganzen Tag im Le Bernardin zu verbringen: zum Mittag und zum Abendessen, nur kurz unterbrochen durch einen Besuch in der Aldo Sohm Wine Bar eine Tür weiter. Der namensgebende Sommelier aus Österreich ist eine der schillerndsten Figuren des Restaurants und immer für heitere Konversationen zu begeistern. Meinen ambitionierten Plan machte dieses Mal eine rare Reservierungsmöglichkeit im Atomix zunichte, die ich nicht ungenutzt lassen wollte. So bleibt es heute beim Lunch.
Ein Essen im Le Bernardin beginnt meistens, auch heute, mit Lachs-Rillettes, bestehend aus pochiertem und geräuchertem Lachs mit Crème fraîche, Zitronensaft, Salz, Pfeffer und Schnittlauch. Zu dem cremigen, kühlen »Aufstrich« mit köstlichem Schmelz, feinen Räucheraromen und elegant maritimem Charakter werden Crostini serviert. Das ist schlicht, aber eine absolute Wohlfühlzubereitung, die schon Jahrzehnte durchoptimiert ist. (8/10)
Weinseitig habe ich heute Mittag nichts allzu Ausschweifendes vor, daher überlasse ich Sommelier Sohm das Feld für eine Flasche Chardonnay. Seine Wahl fällt auf einen 2022er »Seven Springs« Chardonnay vom Weingut Evening Land aus Oregon (105 $ netto, entspr. ca. 105 € brutto). Der ist gut, aber das nächste Mal schaue ich wieder in die Karte.
Die Speiseauswahl zum Lunch erfolgt nach dem Prinzip »drei Gänge für 127 Dollar«. Man kann aber beliebig aufstocken. Die Gerichte stellt man sich aus den jeweils um die zehn Speisen umfassenden Rubriken »Almost Raw«, »Barely Touched« und »Lightly Cooked« zusammen. In dieser feinen, fast übersehbaren, Nuancierung von Gargraden steckt eigentlich schon die gesamte Philosophie des Restaurants.
Auch der Abschnitt »Upon Request«, mit einigen – nicht nur fischlastigen – Zusatzgerichten spricht mich heute an. Perlhuhn im Le Bernardin? Bitte unbedingt.
Meine erste Wahl fällt auf »Oyster-Uni«, eine Kombination von Austern aus Massachusetts mit Seeigel aus Maine, Nori-Crackern und Algengelee. Mit den kühlen, fleischigen Austern und dem jodig-nussigen Seeigel zelebriert die Kreation die Klarheit und die Kraft des Ozeans. Nur wenige Köche bringen das Meer so lebhaft zur Geltung wie Ripert. (9/10)
Mein Faible für Seeigel führt mich weiter zu »Tuna-Urchin«, einer Kombination von Thunfisch-Tatar mit Seeigel und einem Fleischjus. Die etwas unpräzise Anrichtweise ist kein Makel, denn am Gaumen erlebt man Hervorragendes. Der leichte, magere Thunfisch ist von makelloser Qualität, der Seeigel ruft erneut charmante »Hafenbecken-Assoziationen« hervor, und der Rinderjus, fein ausbalanciert, ist dazu überraschend passend. Er wirkt wie eine westliche Version von Sojasauce. So gut das ist, erscheinen mir die Proportionen – mit dem recht voluminösen Thunfisch – jedoch nicht ganz optimal. Trotz der hervorragenden Zutaten wirkt das Gericht in seiner Präsentation und Komposition etwas unfertig. (8,5/10)
Weiter geht es mit einem »Shellfish Medley«, bestehend aus einer Assemblage von Hummer, Seeigel, Stabmuscheln und Entenmuscheln. (Meinen nicht zu dementierenden Hang zu Seeigel schreibe ich der Tatsache zu, dass ich in Metropolen wie New York meinen in Deutschland ausgeübten Zwangsverzicht versuche, auszugleichen.) Die edlen Meeresfrüchte garen noch sanft in einem Dashi auf Basis von geräuchertem Schwein nach, eine ungewöhnliche Zubereitung, die das Gericht geschmacklich ein Stück in Richtung Land führt – aber nur am Horizont. Auf dem Grund des Tellers macht ein Garnelen-Chawanmushi noch einmal klar, dass noch kein Landgang ansteht. Die Qualität der Zutaten ist überbordend, das Gericht spielt mit einem Kontrast aus Leichtigkeit und Kraft, wie Ebbe und Flut. Das ist jetzt Ripert in ganz groß. (10/10)
Äußerst selten habe ich im Le Bernardin überhaupt ein Gericht probiert, dessen Hauptzutaten nicht aus dem Meer kamen – heute hole ich das mit einem Stubenküken nach (zzgl. 70 $). Das kommt als Ballotine-Form, also als entbeinte Rolle, die in diesem Fall mit schwarzem Trüffel und Foie Gras gefüllt wurde. Die Rolle wurde in der Pfanne gebraten, wodurch die Haut des Geflügels eine appetitlich goldbraune Kruste bekommen hat, in Tranchen geschnitten und in einem dichten Geflügeljus mit Frühlingsgemüsen angerichtet. Das wunderbar »natürlich« aussehende Gericht duftet nach mediterraner Klassik à la Alain Ducasse. Das Huhn ist eines saftigsten und aromatischsten, die ich je probiert habe; eine appetitliche Fettschicht unter der Haut deutet auf die hohe Qualität des Tiers hin. Klassisch, fantastisch und zeitlos. (9/10)
Obwohl ich kein Dessert mehr bestelle, serviert die Patisserie ihren Klassiker in Form eines mit Milchschokolade-Pot-de-Crème und Karamellschaum gefüllten Hühnereis. Himmlisch gut. (9/10)
Im Le Bernardin erwartet einen kein Auf und Ab, aber es erwarten einen Gezeiten – wie bei dem Shellfish Medley. Es erwartet einen Intensives, Sanftes, Kräftiges und Leichtes, aus den Tiefen des Ozeans und aus seichten Gewässern. Die Natürlichkeit der Zutaten und ein gewissenhaftes Handwerk stehen hier immer im Mittelpunkt; sie sind auch stets wichtiger als komplizierte Anrichtweisen.
All diese qualitativen Aspekte, gepaart mit der gleichermaßen eleganten wie entspannten Atmosphäre, macht das Le Bernardin zu einem der von mir am häufigsten besuchten Drei-Sterne-Restaurants überhaupt. Der Plan eines Doppelbesuchs hier steht weiterhin fest wie ein Fels in der Brandung.