Lisboeta – Hauptsache, Portugal
Es gibt gastronomische Konzepte, die genauso meine Reiselust wecken wie die Tische der berühmtesten Restaurants. Das Lisboeta im Londoner Stadtteil Fitzrovia ist so ein Restaurant. Es ist bereits seit seiner Eröffnung im Visier vieler Essbegeisterter rund um die Welt – so etwas geht manchmal erstaunlich schnell.
Geführt wird das Lisboeta von Gastronom und Koch Nuno Mendes. Der in London wirkende und in Kalifornien ausgebildete Portugiese hat bei berühmten Köchen wie Ferran Adrià und Jean-Georges Vongerichten gelernt, bevor er in London verschiedene Restaurants eröffnete, unter anderem das inzwischen geschlossene Viajante mit Michelin-Stern und einer Avant-Garde-Küche im elBulli-Stil.
Das Lisboeta scheint nun eine natürliche Gegenreaktion zum vorherigen Schaffen zu sein. Gemütlichkeit und Gastlichkeit stehen in dem dreistöckigen Restaurant im Vordergrund, sowie eine produktfokussierte portugiesische Küche. Im Erdgeschoss dominiert ein langer Holztresen das Geschehen, gleich daneben befindet sich die offene Küche. Hier am Tresen habe ich auch reserviert, zur Auswahl standen auch noch Sitzbereiche mit normalen Tischen in anderen Etagen.
Warmes Licht, eine geschmackvolle Einrichtung, gut gelauntes Personal und ein weltstädtisches Publikum schaffen eine ideale Kulisse für einen kurzweiligen Abend. Die appetitanregende Speisekarte bietet dutzende Gerichte im Sharing-Format an, wenngleich das nirgends definiert ist (bei uns würde man ein solches Konzept erst noch umfangreich erklären). Aus der kompakten Weinkarte wähle ich einen 2019er Vinhas Velhas des Weinguts Luis Pato (79 £, ca. 105 €), und bereits diese Situation, hier am Tresen, mit diesen kulinarischen Möglichkeiten, ist für mich schon eine Reise wert, nicht nur in Theorie.
Wenn eine Speisekarte so appetitanregend und vielfältig ist wie hier, beginne ich gerne einfach damit, ein paar kleinere Speisen zu bestellen, um ein Gefühl für Stil, Portionen usw. zu bekommen. Auf diese Weise kann man sich den Abend über an seinem Appetit und seiner Laune entlanghangeln.
Zuerst an den Tisch gelangen Mushroom Açorda (ca. 17 €), eine süffige, leicht süßliche Kombination verschiedener Pilze und Eigelb in einem mit Knoblauch gewürzten »Brot-Sud«, sowie Pézinhos de Coentrada (ca. 19 €), ein Gericht mit gegrilltem Tintenfisch, Schweineschnauze und einem Knoblauch-Koriander-Sud mit an Ceviche erinnernden Aromen und ähnlich prononcierter Säure. (Beides 6,9/10)
Gereiftes Sirloin mit Mangold, einer Art Zwiebelkompott und einer Sauce mit Kaffee (ca. 25 €), ist etwas kaubedürftig, bereitet aber dennoch genug Verkostungsspaß (6,5/10). Bacalhau à Brás stellt das Traditionsgericht mit Stockfisch (gesalzenem Kabeljau), karamellisierten Zwiebeln und frittierten Kartoffelfäden (ca. 19 €) in ein gutes Licht. Besonders die knusprige Kartoffelzubereitung bietet einen willkommenen Kontrast zu der ansonsten vergleichsweise »breiigen« Konsistenz (6,9/10).
Es macht Spaß hier am Tresen. Den Empfehlungen des gut gelaunten Personals folgend, gibt es wenig später noch Empadas (je ca. 5 €). Die Teigtaschen mit Schweinefleisch-Füllung und Goan-Gewürz sind ein wenig trocken, aber gut gewürzt (6,5/10). Mit Presa Alentejana folgt ein Nackenstück vom Eichelschwein aus Alentejo mit gebratenem Kopfsalat und einer sehr aromatischen, säuerlich-pikanten Sauce mit fermentierter Paprika (6,9/10).
Mit Arroz de Marisco, einem Reisgericht mit Garnelen und weiteren Meeresfrüchten (halbe Portion ca. 33 €) folgt eine besonders gewissenhafte Umsetzung eines Traditionsgerichts mit Zutaten von hoher Qualität (7/10). Bolo de Bolacha (ca. 9 €), die Interpretation eines »Kekskuchens« mit Zimteis, abgeflämmter Buttercreme und Kaffee, bietet dann noch mal süßen Hochgenuss zum Abschluss – mit feinem Knusper, angenehmer Kühle und köstlichem Zimtgeschmack (7/10).
Paradoxerweise haben mich meine Reisen noch nie nach Portugal geführt. Heute Abend war ich der Sache schon einige Schritte näher.