Nobelhart & Schmutzig – die Schärfe des Thymians
Man kann im Nobelhart & Schmutzig auch einfach nur gut essen gehen. Das muss vielleicht mal gesagt werden, denn es ist deutlich mehr Metadiskussion über dieses Berliner Restaurant zu finden als Diskussion über Kulinarisches. Das ist durchaus so gewollt, auch von Betreiber Billy Wagner. Der stellt sich oft, gerne auch kontrovers, in die Öffentlichkeit. Man hört ihn dann über vieles reden, über Regionalität, Weinproben, den »grünen Michelin-Stern«, Sex, faire Löhne, Menstruationstassen, Kaffee und Vinyl-LPs.
Wagner redet zu Recht über all diese Themen, denn sie haben alle einen direkten Bezug zur Gastronomie, zu Arbeitsbedingungen, Qualitäten, Kosten, Preisen, Selbstständigkeit, Ökologie und Zwischenmenschlichem. Es sind wichtige Themen, über die wenige Gastronomen so offen sprechen wie Wagner. Das macht den gelernten Sommelier nicht etwa zu einem Wichtigtuer, sondern zu einem klugen Gastronomen, dessen Erfolg die meisten, die ihn kritisieren, vermutlich beneiden.
Billys unverblümte Offenheit und das ungezwungene (aber urgemütliche) Setting an einem großzügigen, u-förmigen Tresen um die Küche herum hat das Lokal auf die internationale Bühne gehoben. Auch hier kolportiert der Gelegenheitsesser gern, das läge nur an dem medialen Gebell, doch dieser Argumentation dürften die wenigsten Essbegeisterten, die von New York bis Hongkong in Wagners Lokal kommen, wenn sie Berlin besuchen, um es dann schließlich in die World’s 50 Best-Liste als »bestes« Restaurant in Deutschland zu bewerten, folgen. Natürlich will ein kosmopolitischer Esser eher am Tresen eines konzeptstarken Restaurants sitzen als an einem verstaubten Tisch im Adlon. Auch ich bin heute Abend naturgemäß aus völlig freien Stücken hier, weil ich die gesamte Atmosphäre des Restaurants schon länger vermisse.
Mein Platz am Tresen – ich sitze heute Abend angenehm »entzerrt« an einem kürzeren Tresenstück im vorderen Restaurantbereich – ist geschmackvoll und schlicht eingedeckt, regelrecht japanisch. Ein aromatisch dichter Zwiebelsud mit Schalotten, Lauch und Lorbeeröl wärmt ganz zu Beginn schon einmal Hände und Gemüt (7/10).
Der einzige Grund, warum man hier keine Stäbchen am Platz findet – das ist in vergleichbaren Restaurants im Ausland schon fast selbstverständlich –, ist, dass diese nicht Bestandteil einer klassischen »deutschen« Mahlzeit wären. Anführungszeichen sind da auch gar nicht nötig. Man darf auch mal deutsch sein in Berlin. Und auch dieses Deutsche will man hier zelebrieren, würdigen – und auch etwas revolutionieren.
Deshalb gibt es zum Start der von Küchenchef Micha Schäfer verantworteten Mahlzeit (200 €) heute Abend Dinge wie quietischig-bissfesten Grünkohl mit herb-kräuteriger Petersiliensauce und appetitlich säurebetonter Senfsaat, und in Butter gebratenen und mit einer Birnenreduktion aromatisierten Chicoree, der geschmacklich interessanterweise an Rinderfett erinnert. Ein ebenfalls auf dem Tisch stehendes Sauerteigbrot genießt man ganz pur oder mit einer Zubereitung aus Frischkäse und Rettich oder mit rauchiger Schlackwurst. Hierbei entstehen Gedanken an Abendbrot, »Heimat« und verblichene Farbfotos von heißen Sommern in der Stadt. Sehr gut! (7/10)
Fast überrascht bin ich von meinem ganz von selbst aufkommenden Bedürfnis, zum Aperitif ein Bier zu trinken – es passt einfach perfekt hierher. Wagner schlägt ein Schönramer Grünhopfenpils (7 €) vor und serviert es in einem Josephinenhütte-Champagnerglas. Das Bier schmeckt mir in diesem Moment besser als so mancher Champagner.
Apropos. An der Weinkarte beiße ich mir schon seit Tagen die Zähne aus. Die unter anderem vom renommierten Wine Spectator ausgezeichnete Karte enthält hunderte Positionen (nicht nur Wein), klug, aber knifflig in Rubriken wie »Südweine«, »Bodenweine« oder »Handschriftweine« unterteilt. Dem Konzept des Restaurants entsprechend findet man hier insbesondere Weine von (europäischen) Erzeugern, die eine regionale Philosophie verfolgen und nah am Terroir, nah an der Natur und eher mit schmutzigen Händen im Weinberg als mit teurem Füller vom Schreibtisch aus arbeiten. Selbst so gehypte Namen wie Domaine Bizot sind vertreten, allerdings ohne Preisangabe: sie reifen noch. Ein großer Teil der vertretenen Erzeuger sind mir allerdings kein Begriff; es ist die logische Konsequenz meiner etwas divergierenden Präferenzen.
Einzelne Optionen habe ich aus den hunderten schon herausgefischt, die Billy aber nur dankend zur Kenntnis nimmt, um mir dann völlig andere Vorschläge zu machen. Meine ganzen Hausaufgaben waren also für die Katz’. Ich mag diesen Ab- und Austausch. Irgendwann stehen ein paar Flaschen auf dem Tisch, teilweise in Karaffen eingeschenkt, ich winke mindestens zwei ab – kein Problem, sie wandern in den offenen Ausschank.
Der erste Kompromiss ist schließlich ein 2017er »Quarz« von der Domaine des Ardoisieres, hergestellt aus der autochthonen Rebsorte Altesse aus dem Savoyen (210 €). Der Wein ist mineralisch, mit leicht exotischen Aromen und einem für mich gerade noch akzeptablen »naturbelassenen« Profil. Aber alles keine Frage: Objektiv ist das eine bemerkenswerte Weinkarte mit gigantischem Entdeckungspotenzial.
Der nächste Gang in der Menüfolge ist ein Teller mit einem zum Halbkreis gefalteten Stück blanchiertem Knollensellerie. Das Gemüse ist mit einer Sauce auf Eigelb-Basis überglänzt und mit Thymianblättern aromatisiert, die ein intensives, ätherisches Aroma verströmen. Alles duftet nach Saunaaufguss und Nadelwald. Am Gaumen erfüllt der Sellerie die Rolle einer angenehmen, leicht bissfesten und saftigen »Grundkonsistenz«, während die Eigelbsauce mit ihrer dichten Cremigkeit einen üppigen, geradezu sinnlichen Kontrast bietet. Der Thymian ist so intensiv, dass er eine leichte Schärfe in sich trägt – ein Erlebnis! Angenehm schlicht, angenehm gut. (7/10)
Ähnlich kompakt geht es weiter mit einem Stück blanchierten Lauchs. Wäre das dazu gereichte Messer nicht so stumpf, könnte man es bestimmt noch besser zerteilen; aber vielleicht ist auch das eine humorvolle Parallele zur Standardausstattung deutscher Küchen. Den etwas weichgekochten, geschmacklich sehr lebendigen Lauch begleitet eine Sauce aus wildem Schnittlauch, nach »rumänischer Methode« eingemachte Pfifferlinge dienen dazu als salzig-säuerliche Würzung. Erneut erstaunt es, wie präsent die Aromen aller Zutaten wirken. Vielleicht wäre das Gericht eine neue Rezeptidee für Biosupermarkteinkäufer, aus deren Einkaufsbeutel typischerweise eine Lauchstange herausragt. Ich weiß bis heute nicht, was die alle damit machen. (7/10)
Ein Rotwein steht inzwischen auch auf dem Tisch. Mit einem 2016er Cornas »Chaillot« von Thierry Allemand (250 €) wird es in einem weiteren Glas etwas klassischer – und richtig groß. Schwarze Olive, weißer Pfeffer, dunkle Beeren und eine lebendige Säure sorgen für hohen Trinkfluss.
Der nächste Gang präsentiert Wirsing als weiteres heimisches Gemüse. Der Kohl wurde in einem Rinderjus gekocht, dessen Fond nur mit Rinderknochen, das heißt ohne Gemüse, hergestellt wurde. Auf diese Weise ist der Fond so authentisch wie möglich und stellt den Wirsing als alleiniges Gemüse in den Mittelpunkt. (Es ist dabei eine gelungene Ironie, dass man Rinderknochen auskocht, um ein Gemüse in den Vordergrund zu stellen.) Angenehm mundfüllend wird das Ganze durch ein Nachgaren des Kohls in Sahne; Kümmel passt dazu wie die Kegelbahn zum Vereinshaus. Sehr gelungen. (7/10)
Was dann so aussieht wie eine Schweineschwarte, ist Perlhuhn. Hervorragende Qualitäten ist man von Zulieferer Odefey & Töchter gewohnt, das Tier auf diesem Teller ist keine Ausnahme. Das in der Pfanne gebratene, drei Monate alte und trockengereifte Huhn hat eine knusprige Kruste, ist zart, saftig und äußerst aromatisch. Der Purismus, der hier zelebriert wird – es gibt dazu nur etwas Koriandersaat und einen stark reduzierten, »klebrigen« Hühnerfond – ist überzeugend schlüssig. (7/10)
Wer das Klischee kolportiert, man würde von den schlichten Portionen hier nicht satt, wird spätestens jetzt darüber nachdenken, ob er noch die kleine Extramahlzeit bestellt, die das Menü als Option parat hält. Ich bestelle sie aus reiner Freude, damit der Abend noch nicht endet.
Es handelt sich um ein Schweineschnitzel. Das ist naturgemäß – und auch willentlich – kein Wiener Schnitzel. Das Gericht stellt einerseits erneut eine heimische Zutat hoher Güte in der Vordergrund, in diesem Fall zugeliefert vom Erdhof Seewalde in Mecklenburg-Vorpommern, andererseits macht es einfach mal auf ganz frivole Art satt. Die knusprig-luftige Panierung, das saftige Fleisch und eine gehaltvolle Mayonnaise mit Schweinefett: All das lädt zu unverkopftem Genießen ein, Nähwerttabellen und kulinarische Opern mal beiseitegelegt. Das Schnitzel gibt es hier derzeit immer mittwochs auch unabhängig vom Menü zu bestellen; dazu eine Flasche Wein, und manch Feierabend dürfte gerettet sein. (6,9/10)
Ein herzhafter Gang folgt noch. Es gibt eine cremige Zubereitung von Kartoffeln und Deichkäse, von der Konsistenz irgendwo zwischen Schaum und Püree, dazu Bärlauchkapern und Zwiebeln. Hier gelingt die Verbindung von Kartoffeln und Käse nicht allzu überzeugend, da es dem Püree an Fett fehlt und hierdurch ein etwas trockener Eindruck entsteht. Geschmacklich ist der Käse etwas zu dominant, ohne dabei jedoch als »Käsegang« identifiziert werden zu können. (6,5/10)
Ein »medium rare« gebackener Babka (Hefekuchen) mit Mohn und Hagebuttenmarmelade erinnert geschmacklich angenehm nostalgisch an ausgeschleckte Teigschüsseln (6,9/10), und ein Safraneis (mit Safran aus Brandenburg) mit Honig beendet die Mahlzeit unaufgeregt, auf hohem Niveau und mit einer durch die Herbheit des Safrans gewitzt in Schach gehaltenen Süße (7/10).
Die Küche im Nobelhart & Schmutzig ist trotz aller Bekundungen zu einer »brutalen« Regionalität, wie man es selbst provokant formuliert, bemerkenswert unverkrampft und distinguiert heimatlich. Obwohl das schon Grund genug ist, hier einzukehren, bereitet das gastronomische Konzept, mit dem man in Deutschland Pionierarbeit geleistet hat, immer noch so viel Spaß wie bei kaum einem anderen Restaurant in Deutschland. Der Abend endet schließlich noch mit einer weiteren Flasche, die wir gemeinsam aus dem Weinkeller holen. Dort hängt sogar eine Discokugel an der Decke. Berlin, halt.