schanz. restaurant. – alleine Kaninchen
Piesport ist von Hamburg nur unwesentlich weniger weit entfernt als New York von München, zumindest zeitlich betrachtet. Zwar nur, wenn der Jetstream mitspielt, und auch dann nur, wenn man nicht ganz so gut durchkommt wie ich heute mit dem Auto in fünfeinhalb Stunden. Mit dem Zug gibt es ebenfalls kaum eine sinnvolle Option. Will sagen, läge Piesport nicht so abseits, hätte ich das Restaurant längst besucht. Selbst mit einem Helikopter wäre die Strecke nur knapp zu schaffen – aber deutlich schneller. Eine Optimierungsidee.
Ich habe nur ein Wochenende Zeit für diesen kurzen Trip an die Mosel, daher stand von vornherein der Plan fest: Navigationssystem auf das schanz. restaurant. (inklusive der kuriosen Eigenschreibweise) einstellen, hinfahren, essen, übernachten und wieder zurückfahren. Der Plan geht nicht auf, weil ich kurz vor dem Ziel feststelle, dass das Waldhotel Sonnora nur einen Steinwurf von hier entfernt ist und es überhaupt nicht in Frage kommt, dieses Juwel nicht zu besuchen, wenn ich schon mal in der Nähe bin. Ich habe noch nicht einmal im Schanz gegessen, als ich bereits eine spontane Reservierung für den nächsten Tag im Sonnora in der Tasche habe. Läuft also.
Ich weiß wenig über das familiengeführte Haus, in dem der gut gelaunte Senior Schanz an der Hotelrezeption steht, seine ebenso heitere Frau im Empfangsbereich des Restaurants und der Sohnemann, als inzwischen einer der besten Köche des Landes, vermutlich immer noch ungläubig in der Küche.
Ich habe eine angenehm frühe Reservierung gegen halb sieben. Zu meiner Überraschung empfängt mich – als Folge einer Renovierung im letzten Sommer – ein völlig anderer Speisesaal als der, den ich von Fotos kenne. Das, seien wir ehrlich, zuvor etwas biedere Ambiente wurde durch eine wesentlich zeitgemäßere Ausstattung ersetzt. Diese wirkt, bleiben wir ehrlich, zwar etwas beliebig, aber irgendwo muss man schließlich anfangen.
Ich fühle mich wohl an meinem Tisch in einer Ecke hinter einer Fensterfront. Bis auf ein Detail, das einen in unregelmäßigen Abständen leider immer wieder in Restaurants heimsuchen kann: ein penetrantes, aquatisches Duftwasser von einem Herrn an einem Nachbartisch. (Ich bin seit Monaten im Begriff, eine Reise nach Japan zu planen – dazu bald mehr – und sehne mich nach den dortigen Reservierungsbestätigungen, die oft und gerne den Hinweis »Please wear no perfume« enthalten. Dann hat man wenigstens eine Handlungsgrundlage, um solche Leute wieder in ihr Zimmer zu schicken und einmal gut durchzulüften.)
An dieser Stelle daher noch einmal ein Appell: Dieseln Sie sich nicht ein, wenn Sie Essen gehen! Ich selbst bin großer Liebhaber guter Düfte und schätze die Handwerkskunst großer Parfümeure. Man trägt ein Parfüm so, dass eine Person im Vorbeigehen die Spur eines Dufts erhascht, etwas Geheimnisvolles, vielleicht auch Inspirierendes, Neuartiges – und nicht so, dass sich im Restaurant der Nebentisch nach Ihnen umdreht. Wenn Sie sich also das nächste Mal Ihr Cool Water auf die Wangen klatschen, gehen Sie bitte nicht in ein Restaurant mit feinen Speisen und anderen Gästen.
Während ich – etwas frustriert und leider auch vergeblich – versuche, die olfaktorische Nötigung zu ignorieren, stöbere ich in Speise- und Weinkarte. Das habe ich in den letzten Tagen wiederholt getan, um unterschiedliche Optionen im Kopf reifen zu lassen. Ich kann nicht oft genug betonen, wie sinnvoll und auch umsatzfördernd es sein kann, sein gastronomisches Angebot online verfügbar zu machen, zumindest auf Nachfrage, wie in diesem Fall bei der Weinkarte.
Meine Tendenz geht daher bereits deutlich in Richtung einer Auswahl à la carte anstatt eines Menüs. Letzteres, die »Empfehlung des Hauses«, ist in drei bis sechs Gängen (168–245 €) erhältlich, doch die À-la-carte-Auswahl, mit jeweils vier Vorspeisen, Fischgängen, Hauptgängen, sowie Käse und Desserts, reizt mich mehr. Auch die Freude, die entsteht, sich bewusst für bestimmte Zutaten und Mengen zu entscheiden, kann kaum ein Menü bieten. Nach einem kurzweiligen Austausch mit dem jungen Serviceteam steht wenig später meine Auswahl.
Ein optisch ansprechendes und offenkundig sehr präzise gearbeitetes Amuse-Bouche-Trio erreicht den Tisch. Die Zutaten muten mediterran an und setzen damit schon vor dem ersten Bissen einen freundlichen Ton. Die erste kulinarische Freude ist ein besonders filigranes, fast zweidimensionales Konstrukt mit frittierten, winzigen Garnelen, dünnen Streifen von Melone und Lardo. Der federleichte, dabei angenehm knusprige und gewitzt zwischen etwas Fett und sommerlicher Frucht pendelnde Snack schmeckt eindringlich nach Sommer, Grillaromen und entspanntem Wegdösen auf einer Sonnenliege. (9/10)
Dieses Gefühl einer unbeschwerten Leichtigkeit nimmt eine Tartelette aus Filoteig auf, die mit Tintenfisch, kleinen Kartoffelstückchen, Blutwurst und etwas Salat gefüllt ist. Die sommerlich-maritimen Impressionen quillen regelrecht aus dem kleinen Törtchen hervor. Am Gaumen ergibt sich ein betörendes Spiel mit etwas Fett, appetitanregender Säure, authentischen Texturen sowie markantem Jod und Schmelz von etwas Kaviar. Ein Traum. (10/10)
Die letzte Kreation ist ein mit Forellenkaviar gefüllter Cannellone, der mit einer dünnen Scheibe Thunfischbauch umwickelt wurde. Auch hier setzen sich das technisch hohe Niveau und die charmanten Anspielungen an maritimen Genuss fort. (9/10)
Die drei Kleinigkeiten zählen mit ihrer Klarheit, ihrem Geschmack nach südlicheren Breiten und ihrer unprätentiösen Art zu den besten, die ich seit langem irgendwo probiert habe. Die Geschmacksbilder würde man vielleicht eher an der Côte d’Azur verorten (die Komplexität wiederum nicht), und doch wirken sie hier nicht fehl am Platz, sondern wie eine von Herzen kommende Hommage eines Kochs, der gerade das Mittelmeer vermisst. Da habe ich richtig Gänsehaut und nehme rasch einen großzügigen Schluck des 2011er Riesling »Goldtröpfchen« GG des Weinguts Haart (108 €) hier aus dem Ort – wenn man schon mal da ist.
Das nächste Amuse ist ein Klassiker des Hauses. Das »Trüffelei« ist mit einer warmen, schaumig-sahnigen Melange mit stückigem schwarzem Trüffel gefüllt. Der ätherische Pilz wird dabei von den milden, cremigen Komponenten angenehm ausbalanciert. Die wunderbar süffige Kreation wurde hier zwar, trotz des »Klassiker«-Status, nicht erfunden, aber besser bekommt man so etwas kaum hin. (9/10)
Die Küche grüßt dann noch ein weiteres Mal mit einem Sardinentartar. Dieses versteckt sich unter einer Passionsfruchtmousse und einem Passionsfruchtsorbet und wird von einem Rotkohlsüppchen umspielt. Die sonderbar anmutende Kreation löst optisch zunächst etwas Skepsis in mir aus, doch die verfliegt bereits mit dem ersten Löffel. Die marinierten Sardinenstückchen knüpfen mit ihrem Schmelz und Aroma an die allerersten Grüße an, die intensive Säure und die exotische Passionsfrucht passen dazu frappierend gut. Der Rotkohlsud begeistert dabei mit einer schlanken Säure und eleganter »Erdigkeit« und sorgt in Verbindung mit Fisch und Frucht für einen sehr schlüssigen Dreiklang. Dass ein solcher Teller am Ende nicht forciert wirkt, ist eine Herausforderung, die hier souverän und auf höchstem Niveau gemeistert wird. (9/10)
Bei dem ersten von mir gewählten Gang geht es um Kaisergranat (95 €). In der Mitte des sehr eigensinnig angerichteten Tellers ist längs halbierter grüner Spargel sternförmig auf einem mit Tintenfischtinte und -salz gewürztem Carpaccio des Krustentiers angerichtet, dazwischen findet man kleine Röschen von gebeiztem Wagyu. Ein bis auf die Schwanzflosse ausgelöster, gegarter Kaisergranat ist so platziert, dass er in den anderen Teller hineinzukriechen scheint. Die verspielte Anrichtweise darf man nicht überinterpretieren; das Gericht will mit ganz anderen Dingen beeindrucken. Zunächst geht es um die überragende Qualität des Krustentiers, bei dem mir lediglich der vom Service in bestem Gastrodeutsch verwendete Fantasiebegriff »Langustine« sauer aufstößt. (Die »Langoustinen« in der Speisekarte machen es nicht besser.) Dessen ungeachtet brilliert der Gang mit einem Eindruck von kühler Frische, Schmelz von Land und Meer und intensivem Estragon. Die Qualitäten aller Zutaten sind hier am Anschlag, alles schmeckt »sauber«, klar und »frisch«. Ein großer Gang. (9/10)
Weiter geht es mit pazifischem Kohlenfisch (78 €). Naben der Hauptzutat, die mich unweigerlich an den süffigen Nobu-Klassiker (und weitere Interpretationen davon) erinnert, sprach mich die in der Speisekarte aufgeführte Kombination mit Kokos und Thymian besonders an. Das Aromenbouquet, das meinen Platz erfüllt, als der Gang den Tisch erreicht und mit einem Thymiansud aufgegossen wird, ist noch weitaus umfangreicher. Der Dampf des heißen Suds transportiert Aromen von Lagerfeuer, Tanne, Anis und Thymian in meine Nase, auch etwas Orange, in der der Fisch mariniert wurde, kommt mit ihrer sommerlichen Frucht zum Vorschein. Der gehaltvolle Fisch betört mit Schmelz, charmanten Röstnoten und Zartheit. Während kleine, mit Kokosnusscreme gefüllte, Kohlrabiröschen die Exotik des Gerichts mit einer gefälligen, aber zurückhaltend dosierten Süße unterstreichen, steuern etwas schwarze Olive, der intensive, stets präsente Thymiansud und die grundsätzliche Leichtigkeit den makellosen Gang immer wieder auch eine Spur in Richtung Mittelmeer. (9/10)
Mein Hauptgang ist ein »Pot-au-feu« vom Kaninchen (92 €). Die seltene Zubereitungsart und das ebenso selten auf Speisekarten zu findende Tier haben meine Neugier geweckt. Wer so etwas Spezielles anbietet, muss sowohl ein Faible als auch ein Händchen dafür haben; ich konnte daher gar nicht anders, als mich einer solchen Spezialität hinzugeben. In einem tiefen Teller findet man Teile von Rücken, Niere und Leber des Kaninchens, dazu ein farbenfrohes Potpourri mit jungen Möhren, Rübchen, Spitzmorcheln und Wintertrüffel. Die prachtvolle Darbietung wird mit einer mit Liebstöckel aromatisierten Gemüsebrühe aufgegossen. Ein herzhafter, »waldiger« und frühlingshafter Duft steigt dabei vom Teller auf. Die Teile des Kaninchenrückens sind besonders zart und saftig, Nierchen und Leber naturgemäß eine Nuance fester, überhaupt demonstriert der Gang eine ganze Reihe von unverfälschten, unterschiedlich »bissfesten« Texturen, in völliger Abwesenheit von Cremes, Gels, Schäumen usw. Wenn man daran erinnert wird, wie erfrischend eine solche Natürlichkeit ist, kann man nur ins Schwärmen geraten. Das Gericht erinnert in dieser Hinsicht sehr an die Küche von Alain Ducasse. Geschmacklich ist das Pot-au-feu auf einer salzbetonten, aber nicht überbetonten Seite, aromatisch stehen die Gemüse gleichberechtigt neben den Kaninchenteilen, alles wird von dem leichten, heißen Sud zusammengehalten. Das ist eines der überraschendsten und besten Gerichte, die ich in der deutschen Spitzengastronomie je genießen konnte. Dass ich heute Abend, wie ich auf Nachfrage erfahre, der Einzige bin, der dieses Gericht bestellt, und es dennoch in einer solchen Güte zubereitet wird, macht die Sache noch erstaunlicher. (10/10)
Beim Wein ist längst etwas Rotes im Glas. Auch hier bin ich von meiner Passion für Burgund abgewichen – die Auswahl für andere Regionen war schlicht überzeugender. Im Moment macht ein 2010er Château Rauzan-Ségla (365 €) undekantiert die beste Figur im Glas. (Ich probiere am Tisch beide Optionen nebeneinander.)
Eine hervorragende Käseauswahl vom Maître Affineur Waltmann (38 €) lasse ich mir auch nicht entgehen. Ein weiterer Vorteil von einem Essen à la carte ist, dass man an dieser Stelle häufig noch Platz dafür hat.
Beim Dessert fiel meine Wahl auf eine »Boule von kreolischer Ananas« mit Basilikum und Ziegenmilch (35 €). Das Ganze präsentiert sich in Form einer grünen Kugel mit einer Basilikumhülle, die durch das Bespicken mit weißen, spitz zulaufenden Tupfen aus Kokoscreme mit etwas Fantasie an die Form eines Virus erinnert. Vielleicht hat die Pandemie ihre Spuren hinterlassen. Gleichwohl ist die Wirkung hier deutlich angenehmer. Die schaumige Sphäre erscheint zwar zunächst recht massig, aber das intensive Basilikumaroma und eine prononcierte, belebende Säure lassen die Zutaten regelrecht schweben. Die mit Safran karamellisierte Ananasscheibe sorgt für etwas karibische Wärme, ist dabei aber nicht plakativ, sondern elegant von der Herbheit des Safrans eingerahmt. Ein Traumdessert. (9/10)
Ein Sorbet aus Amalfizitronen in einem kalten Staudenselleriesüppchen folgt noch zum Schluss. Die Reihenfolge wirkt nicht ganz schlüssig – vor oder nach dem Käse hätte ich so etwas eher angesiedelt –, und die Säure ist hier auch sehr auf der »lustigen« Seite, aber hervorragend, nämlich klar, frisch und leicht, ist das allemal. (8/10)
Und wenn ein hervorragendes Gericht das schwächste des Abends ist, kann das Fazit nur grandios ausfallen. Thomas Schanz ist offenkundiger Liebhaber der französischen Klassik, aber vermutlich auch ein Liebhaber Frankreichs, das spürt man mit jedem Bissen. Besonders beeindruckt hat mich der klare, unprätentiöse Stil der Küche, der unter den französisch fundierten Spitzenrestaurants in Deutschland ein Alleinstellungsmerkmal ist.
Die Pralinen nehme ich noch mit aufs Zimmer. Ein kleiner Snack wird es morgen früh sicherlich noch sein dürfen, bevor mein kurzer Ausflug an die Mosel mit einem Umweg über das Waldhotel Sonnora bereits zu einem Ende kommen wird. Dort weiß ich schon, was mich erwartet, aber eine Reise wert war es schon jetzt.