Boury – fast mitgerissen
Das Boury ist Belgiens neuestes Drei-Sterne-Restaurant. Gerade erst wurde die Bewertung vom Guide Michelin bestätigt. Das kommt mir zupass, denn meine Reisepläne stehen bereits. Tim Boury, eigentlich gelernter Metzger, und seine Frau haben sich vor dreizehn Jahren hier in Roeselare in Westflandern selbstständig gemacht.
Das Restaurant befindet sich in einer Villa mit geschmackvoller Backsteinfassade. Die Bourys arbeiten nicht nur hier, sie wohnen auch vor Ort und bieten einige kleine, aber feine Gästezimmer im Haus an. Leider waren selbst Monate vor meiner Reservierung keine Zimmer mehr frei.
Im leichten Nieselregen setzt mich daher ein Taxi hier ab. Ich habe – auf Empfehlung des Restaurants im Zuge meiner Reiseplanung – mein Nachtquartier in einem netten Bed & Breakfast in einem verschlafenen Nachbarort aufgeschlagen, eine Viertelstunde vom Boury entfernt.
Als ich gegen viertel nach sieben eintrete, sind schon einige Tische besetzt, teilweise mit größeren Gesellschaften. Es ist ungewöhnlich betriebsam für ein Fine-Dining-Restaurant. 61 Gäste haben hier Platz, erfahre ich später. Das ist mir alles lieber als eine flüsterleise Veranstaltung, aber in Verbindung mit einer sehr grellen Beleuchtung kehrt nicht ganz so schnell Gemütlichkeit ein.
Es sind Details, die mich zu Beginn auch noch nicht so recht zur Ruhe kommen lassen. Zunächst lasse ich mich zum Aperitif zu einem Cocktail verleiten (24 €), was eigentlich auch mal keine schlechte Idee ist. Doch die kleinen Eiswürfel sind so geformt, dass ich von dem Getränk kurioserweise kaum etwas in meinen Mund bekomme. Da versteht man, dass in Japan selbst das Schnitzen von Eiswürfeln eine Lebensaufgabe sein kann.
Ein weiteres Detail betrifft die Speisekarte. Ein umfangreiches Menü liegt schon ausgedruckt auf meinem Platz, die Situation hat aber drei Haken. Erstens fehlt die Preisangabe, zweitens werden laut Website eigentlich zwei Menüs angeboten (»Menu Boury« für 250 € und »Menu Boury Signatuur« für 295 €, offenbar das hier ausgedruckte) und drittens bin ich nicht allein am Tisch, dennoch liegt nur an meinem Platz ein Menü. Das ist alles etwas ungeschickt. Besonders seltsam ist, dass niemand etwas kommentiert.
Ich warte einfach ab, was passiert und frage irgendwann nach der Weinkarte. Da man mir diese einige Tage zuvor auf Nachfrage per E-Mail nicht vorab zur Verfügung stellen wollte, um »das Werk des Sommeliers zu schützen« (Wovor? Vor einem möglichen Erwerb von Wein?), muss ich jetzt am Tisch Zeit aufbringen, um mir einen Überblick zu verschaffen. Natürlich gelangen die ersten Amuse-bouches an den Tisch, als ich gerade damit beginne. Immerhin liegt die telefonbuchgroße Karte auf einem separaten Beistelltisch – eine gute Idee.
Die Kleinigkeiten, die auf dem Tisch stehen, sehen äußerst akkurat gearbeitet und appetitlich aus. Eine Tartelette »Gado-Gado« schmeckt opulent nach orientalischen Gewürzen, ist dabei aber sehr fein abgestimmt und leicht (8,9/10). Eine Praline aus Mürbeteig mit geräuchertem Aal und Forellenkaviar demonstriert dieselbe handwerkliche Präzision und eine wunderbare Mischung aus rauchigen, maritimen Aromen bei etwas mehr Üppigkeit (8,9/10). Kaum von der Anrichtschale zu heben ist ein besonders filigranes »Sandwich« mit Tamarillo und Sanddorn, das elegant mit Bitterkeit und Säure spielt (8/10), bevor eine weitere herzhafte Praline mit Champignons und Sumach wieder mit fernöstlichen Aromen reizt (8,9/10).
Ein Röllchen mit cremiger Gänseleber und fruchtig-würziger Füllung reiht sich in die Darbietung der hervorragenden, knusprigen Kleinigkeiten ein, die von einem Niveau zeugen, das man nur in den besten Restaurants erlebt. (8,9/10)
Dass jetzt noch weitere vier Kreationen folgen, bevor das eigentliche Menü beginnt, finde ich eigentlich zu viel des Guten, doch da weiß ich noch nicht, wie gut sie sind.
Beim nächsten Snack-Trio begeistert zunächst eine frittierte Teigtasche mit Taro, Toban Djan und beglischem Wostyn-Senf mit Hitze, etwas Schärfe und einem ganzen Gewürzladen an weiterer Exotik (8,9/10), bevor ein auf einer Pomme soufflée angerichteter Snack mit maritimer Nordseegarnele und hinreißendem Estragon (9/10) und danach noch ein – ebenfalls angenehm heißes – Süppchen mit süßlich-säuerlicher Schwarzwurzel und herber Chlorophyllnote (9/10) noch mal eine Nuance großartiger sind.
Auf diesem Weltklasseniveau bleibt eine Kreation mit pochierter Auster, roter Bete, Champagnernage und Austernblatt. Das warme Ensemble vereint erdige Aromen mit maritimen, Süße mit Salz und Cremiges mit Festerem, ohne dabei Gegensätze zu betonen. Man kann richtig darin abtauchen. (9/10)
Dass sich hier gerade ein Menü entfaltet, welches, wenn man das so ausdrücken will, vermutlich eher für »raffinierte Kombinationen« und präzise Technik stehen wird als für eine dezidierte Produktküche, ist man von der belgischen (und auch niederländischen) Spitzenküche gewohnt. In meine Vorfreude auf ein weiteres Dutzend Gänge mit noch viel mehr Zutaten mischt sich deswegen aber, trotz des makellosen Niveaus, eine kleine Prise Skepsis. Nichts, das ein Glas guten Weines nicht richten könnte.
Inzwischen habe ich einen Weißwein aus dem offenen Ausschank im Glas. Von meiner geäußerten Präferenz für Chardonnay und Burgund weicht der Sommelier mit einem 2019er Viognier »Señor Mouse« des bulgarischen Weinguts Ivo Varbanov (16 €) zwar deutlich ab, aber an dem Wein gibt es nichts auszusetzen. Nach dem für mich ungewöhnlichen Beginn mit Cocktail und bulgarischem Wein lasse ich mich für den (roten) Rest jetzt aber nicht mehr auf Experimente ein und wähle einen 2015er Volnay 1er Cru von der Domaine Coche-Dury (410 €). Mir sind das hier zu viele Mal-was-Anderes-Situationen.
Der erste Gang des Menüs ist ein Gericht um Hamachi, also Gelbschwanzmakrele. Es gelangt in Form von zwei aufwändig gearbeiteten Tellern an den Tisch. Auf einem findet man eine hauchdünne Tartelette mit gebeizten Stücken der Makrele, Enoki-Pilzen, Sushi-Reis sowie verschiedenen Kräutern und Gemüsen. Der Snack, den man am besten im Ganzen verspeist, begeistert mit einer ungewöhnlichen Kombination von Teig und Sushi-Reis. Neben dem exzellenten Fisch ist der Reis vielleicht das Wundervollste an der kleinen, aber dafür dennoch etwas zu großen, Kreation.
Der andere Teller präsentiert marinierten Hamachi mit Avocadocreme, Eis von grünem Apfel, Kombucha, Fenchel und Kaffir-Limette, mit exzellent austarierter Säure, aber einigen etwas zu körnigen und stückigen Elementen. Das ist alles hervorragend, aber etwas viel »Beiwerk« um eine an sich hervorragende Makrele. (8/10)
Umso erleichternder ist der nächste Gang. Französische Jakobsmuschel ist in zwei Teilen in ihrer Schale serviert. Die Stücke haben einen goldbraunen Teint und baden in einer buttrigen Sauce mit fermentiertem Meerkohl, einer an Nord- und Ostsee beheimateten Pflanze. Die makellose Muschel, die ein wenig an Kimchi erinnernden Kohlaromen, die appetitanregende Säure und wohltuende Wärme spielen in dieser Kombination sofort auf Weltklasseniveau. (9/10)
Für das nächste Gericht bekomme ich ganz unerwartet ein mit Edelstahlklammern befestigtes Lätzchen umgebunden, wie beim Zahnarzt. In Anbetracht des dazu Servierten, ist die Maßnahme vielleicht etwas übertrieben, aber dennoch kurzweilig.
Das Thema ist Kaisergranat. In einem Schälchen gibt es das Krustentier einmal gegrillt und ausgelöst, einmal als Tatar, in einem warmen, aromatisch »tiefen«, aber dennoch leichten Sud mit Meyer-Zitrone, Radieschen und Rogen – eine absolute Wonne. Der halbierte gegrillte Kaisergranat auf dem anderen Teller mit einem mit Zitronenverbene aromatisierten Krustentierjus erklärt das Lätzchen. Nach dem Auslösen des nussig-süßlichen Fleischs lutsche ich die Karkasse bis aufs Letzte aus. Großes Produktkino. (8,9/10)
Der folgende Gang wird an einem Servierwagen fertig gestellt. Dort erhält ein pochiertes Ei mit Sabayon und Hopfen mit einer Nocke belgischen Kaviars den letzten Schliff. Das Gericht hat alles, um auf höchstmöglichem Niveau Genuss zu bieten: ein cremiges, aromatisches Ei, eine himmlisch leichte Sabayon mit erfrischender Säure, knackigen Hopfen (der ist hier in Belgien eine kostspielige Delikatesse) und salzigen Kaviar, alles in besten Qualitäten und handwerklich makellos zubereitet. Dazu schenkt der Sommelier die belgische Bierspezialität Geuze ins Glas, eine fruchtig herbe Begleitung zu einem unbeschwerten Gericht »zum Reinlegen«. (10/10)
Der nächste Teller irritiert mich kurz mit seiner etwas angestrengten Anrichtweise, doch nach dem ersten Probierlöffel ist klar: besser geht es eigentlich nicht. Cremige Gänseleber wurde hier kombiniert mit Spitzmorcheln, Ackerbohnen, einer Topinamburcreme und einer herausragenden, an den Lippen leicht klebenden Demi-glace nach alter Schule. Selbst die knusprige »Dekoration« in Blattform entpuppt sich als charmant nach Kartoffelrösti schmeckender Mitspieler und ist sogar noch warm und leicht fettig. Erneut herausragend. (9/10)
Meine Sorge um ein verkopftes Menü hat sich längst in Genuss aufgelöst, lediglich die Atmosphäre spielt hier nicht so ganz mit – es ist voll, stickig, grell und sachlich.
Der letzte herzhafte Gang ist Lamm von einer Schlachterei aus Belgien. Der Hauptteller präsentiert ein Stück Karree am Knochen mit klassischem Jus, grünem Spargel aus der Provence und frittierter sowie gegrillter Artischocke. Das Fleisch selbst ist von sehr guter Qualität, mit leicht grasigem, aber fast schon zu mildem Geschmack. Eine Bärlauchcreme passt zum baldigen Frühling, ist aber aromatisch zu dem zurückhaltenden Lamm ein recht starker Kontrast. Noch besser, wieder auf höchstem Niveau, ist der à part servierte Tortellino mit geschmortem Lamm, herzhafter Sauce und besonders aromatischen Erbsen. (8,5/10)
Das erste Dessert ist eine Kreation um ein Grapefruitsorbet und weitere Zitrusfrüchte in gefrorenen Zuständen. Das cremige Sorbet bringt hier eine genau richtig dosierte Süße mit, um das säuerliche Geschmacksbild auszubalancieren. Dennoch stehen eine ausgeprägte Säure, eine leichte Bitterkeit und das Aroma der Grapefruit hier unmissverständlich im Vordergrund. (8,9/10)
Die letzte Speise des Menüs ist dann ein zweiteiliges Dessert mit Milcheis, am Tisch gehobelter Karamellschokolade, Honig und Blutorange in diversen Zubereitungen. Das ist verführerisch gut, mit »warmen« Aromen vom Karamell, (nicht zu) süßem Eis, Cremigkeit und Knusprigkeit, kurzum ein schwelgerischer Abschluss. (9/10)
Nach etwas über vier Stunden beendet der belgische Kuchenklassiker Tarte brésilienne in Miniaturformat das Menü mit maximalem Genuss, der Rest der Pralinen wird mein Frühstücksproviant. (9/10)
Es ist selten, dass ein so umfangreiches Menü fast durchgehend auf so hohem Niveau spielt wie hier. Gleichermaßen ist es selten, dass mich trotz dieser kulinarischen Spitzenleistung die Küche nicht besonders mitgerissen hat. Der technisch makellosen und auch kompositorisch hervorragenden Küche fehlte etwas »Greifbares«, etwas, das die Küche hier auch stilistisch hervorhebt. In einem Interview hat Tim Boury einmal gesagt, seine Gerichte seien »modern und leicht, in einem ausgewogenen Verhältnis zwischen klassisch und progressiv«. Damit beschreibt der junge Durchstarter seine Küche eigentlich am besten.