Tantris DNA – ohne Hemmungen

Das Tantris DNA ist ein Restaurant, das man eigentlich zwei Mal besuchen muss. Nicht in seinem Leben, sondern hintereinander. Zum Beispiel mittags und abends. Oder, wie bei mir, andersherum.

Über den Hintergrund des Restaurants im Restaurant – so fühlt es sich ein wenig an, obwohl Tantris und Tantris DNA gleichberechtigt unter einem Dach koexistieren – habe ich bereits an anderer Stelle geschrieben, daher komme ich gleich zum Wesentlichen.

Das erste Thema ist, dass das DNA ein A-la-carte-Restaurant ist. Es gibt zwar auch ein Menü, mit dem man zweifellos auch Freude hat, aber der Kern des Glücklichwerdens in einem Restaurant wie dem DNA liegt bereits in großen Teilen im Bestellvorgang begründet. Das Ausloten von Optionen am Tisch, die Vorstellungen, die einem dabei durch den Kopf gehen, die haarsträubenden Entscheidungen, die man für und auch gegen bestimmte Speisen treffen muss, die daraus entstehenden Gespräche mit dem charmanten Service, und die erste Flasche Champagner, die man dabei schon mal austrinkt (z. B. Jacques Selosse »Initial«, Dég. 2021, 280 €) und bereits über die nächste Flasche aus der legendär guten Weinkarte philosophiert, möglichst in illustrer Runde, all das ist in dieser Kombination selten erlebbar und schon für sich genommen ein Grund, zu feiern.

Und dann habe ich noch gar nicht davon gesprochen, dass es sich hier besonders angenehm sitzt, mit etwas Privatsphäre durch die eingelassenen Sitzbänke, dem modernisierten schwarzroten Interieur, das hier im DNA gar nicht nach den Siebzigerjahren aussieht, die das berühmte Haus sonst prägen. Ich habe auch noch nicht erwähnt, wie lässig, souverän und humorvoll jede und jeder hier im Service ist, und ich habe vorhin ebenfalls außer Acht gelassen, dass die Speisekarte einen französischen Dialekt spricht, dem man eigentlich kaum noch irgendwo begegnet, nicht einmal in Frankreich.

Austern, Steinpilze, Kaisergranat, Jakobsmuschel, Kaviar, Ente, Trüffel, Steinbutt, Gerichte im Blätterteig, am Tisch tranchierte Speisen: Das ganze Restaurant schreit hemmungslosen Genuss – beides ist wichtig – aus allen Poren. La grande bouffe, das große Fressen, es findet hier statt. Damit möchte ich dem großen Bruder, dem schon zweifach besternten Tantris im Nachbarsaal, in den man von hier aus hineinäugen kann, rein gar nichts von seiner Bedeutung absprechen. Es ist aber ein anderes Restaurant für einen anderen Anlass. Etwas »öffentlicher«, etwas geregelter im Ablauf, kulinarisch »ambitionierter«, kreativer und vielleicht auch überraschender. Man muss wissen, was man will. Wer das nicht weiß, geht lieber ins Tantris. Wer es weiß, hat freie Wahl.

Abend

Mein Schlemmen im DNA beginnt an diesem Wochenende mit bretonischen Austern »Fines de Claire« (halbes Dutzend zu 42 €), wunderbar kühl serviert und von einer Qualität und Präparation, wie man es nur in den besten Restaurants erleben kann (8/10).

Im Anschluss begeistert ein Pastinakensüppchen mit Räucheraal aus dem Chiemsee, Meerrettich und einem Öl mit grünem Apfel, heiß, angenehm rauchig und mit einer schelmischen Süße (7,5/10).

Aus der Vorspeisenrubrik der Karte (hors d’œuvres) wähle ich heute Abend Jakobsmuscheln (64 €). Das Wissen, dass ich mich morgen Mittag noch einmal für etwas Anderes entscheiden kann, ist beruhigend. Die Muscheln sind bei dem Gericht in einer Champagner-Hollandaise gebettet wie auf Wolken und mit Kaviar getoppt. Das ergibt am Gaumen ein klassisches, wohliges Geschmacksbild, bei dem die präzise Säure und die Üppigkeit der Hollandaise, die Nussigkeit der Muscheln und das Salz der Störeier besonders genüsslich zusammenkommen. Die Herausforderung, eine frisch aufgeschlagene und bereits großflächig auf den Teller aufgetragenen Hollandaise vom Pass bis zum Gast zu bringen, meistert man hier bestmöglich. (7,5/10)

Sommelier Mathieu Mermelstein, mit dem sich der Austausch über Wein immer so anfühlt, als säße man gemeinsam am Tisch – es fehlt auch nicht viel –, hat immer einige Volltreffer parat, wenn man sich mal nicht genau festlegen kann oder will. Jetzt zaubert er mit einem 2020er Chassagne-Montrachet 1er Cru »Clos Saint Jean« von der Domaine Paul Pillot (260 €) eine hervorragende Entdeckung aus dem Hut, während schon die nächsten Optionen ambitioniert diskutiert werden. Ein 2014er Ruchottes-Chambertin von der begehrten Domaine Mugneret-Gibourg (400 €) wird jedenfalls auch schon mal geöffnet. Ich sage es ja, hemmungslos. (Wenn man aber bedenkt, dass letzterer Wein, auch aktuelle Jahrgänge, für derzeit rund eintausendsechshundert Euro im Handel zu finden sind, relativiert sich das schnell – und die Karte ist voll von solch raren Opportunitäten.)

Jetzt schon zum Hauptgang überzugehen, wäre im Sinn des geplanten Schlemmens ein Sakrileg, überhaupt empfiehlt der Service bis zu vier Gänge à la carte.

Meine dritte Bestellung ist offiziell schon ein Hauptgang, aber von irgendwelchen Definitionen lasse ich mich nicht ablenken. Ich freue mich jetzt auf die Zutaten und das Geschmacksbild von Steinbutt mit Beurre Rouge und Steinpilzen (92 €). Der Fisch kommt in Form eines am Knochen servierten Teilstücks (tronçon) auf den Teller, sehr saftig, aber einige Grad zu weit abgekühlt. Der Fisch schmiegt sich um gleich zwei wunderbare Saucen: eine Champagnernage, säurebetont und luftig, sowie eine exzellente Rotwein-Butter-Sauce, die mit ihrem ebenfalls leicht säuerlichen Geschmacksprofil und buttriger Üppigkeit nichts außer Schwärmerei zulässt. Die dazu servierten Steinpilze sind von hervorragender Güte und präziser Zubereitung, und nicht zuletzt kommt ein Zwiebelkompott, das sich unter dem Fisch befindet, noch mit einer feinen Süße daher. Das ganze Gericht begeistert mit einem kurzweiligen Spiel zwischen Rustikalität und Eleganz, zwischen routinierter Klassik und respektvoller Hommage. Darauf einen Schluck Ruchottes-Chambertin! (7,9/10)

Nach einer Verschnaufpause von einer idealen halben Stunde wird der Tranchierwagen an den Tisch gerollt. Allein das ist schon ein nostalgisches Vergnügen, das eine Bestellung aus dieser Kategorie der Speisekarte hier im DNA so gut wie verpflichtend macht, besonders in geselliger Runde.

Das Thema heißt Kalbskotelett. Es stammt aus dem Limousin und steht zusammen mit Wurzelgemüse und Périgord-Trüffeln für 156 € auf der Karte. Solche Beträge sieht man in deutschen Restaurants nicht oft als Preisangabe hinter einem Gericht, doch können davon mehrere Personen ausschweifend schlemmen. (In Paris kosten manche Vorspeisen so viel.) Ein etwas unausgewogenes Appetitverhältnis am Tisch führt im Ergebnis bei mir zu einem recht zügellosen Teller mit fünf dicken Tranchen perfekt rosa gegarten Kalbs. Dazu gibt es eine Art Gratin aus Kartoffel, Pastinake, Zwiebel und Topinambur, sowie eine »klebrige«, glänzende Demiglace mit Trüffeln, die so perfekt ist, als hätte sich ein Rezept aus einem Kochbuch von Paul Bocuse verselbstständigt.

Aber: Es fehlt Salz, und es fehlt Hitze, und die Trüffeln, die auf den Gratin gehobelt wurden, sind, saisonbedingt, triviale Herbsttrüffeln. Einen solchen Kompromiss sollte man hier nicht eingehen, das stellte ich schon letztes Jahr hier fest. Die Sauce, in der dagegen (konservierte) Wintertrüffeln aus dem Périgord verarbeitet wurden, gleicht dieses Manko aber größtenteils aus. In Summe ist das ein dekadenter, üppiger, ultraklassischer Gang, der – vom Tranchierspektakel bis zum Genießen – große Freude bereitet, sein Optimierungspotenzial aber nicht versteckt. (7/10)

Ein letzter Wein, ein noch viel besser als erwarteter 2017er Chambolle-Musigny 1er Cru von der Domaine Jean-Jacques Confuron (250 €), besiegelt den ersten Akt des DNA-Doppelstrangs an diesem Wochenende.

Und was genau zwölf Stunden später folgt, ist noch eine ganze Portion beachtlicher.

Mittag

Der gestrige Abend ging nicht ganz spurlos an mir vorüber, dennoch empfinde ich um Punkt zwölf, als ich wieder vor dem Genusstempel stehe, nichts als Vorfreude – und sogar wieder Appetit.

Am Tisch folgt zunächst ein Auftakt mit Amuse-Bouches, die der Abwechslung halber aus dem Tantris nebenan geschickt werden. Es handelt sich um ein Quartett filigraner Petitessen, die allesamt begeistern. Ein knuspriges Röllchen aus Kürbis mit Birne bietet hauchdünnes, fruchtig-süßes Knuspervergnügen (7,9/10); ein Tartelette mir Räucherfisch und Apfel ist betont pfeffrig und magisch rauchig (8,5/10); ein Knusperchip aus Roter Bete und Ingwer ist wunderbar pikant (8,5/10); und ein Teigchip mit Steinpilzen und einer beherzt säurebetonten Vinaigrette mit hervorragendem Essig ist mit seiner rustikalen Eleganz und den erdigen, perfekt gekühlten Steinpilzen zum Augenschließen gut (8,9/10).

Dass sich das DNA aber nicht mit fremden Federn schmücken muss, beweist eine eingeschobene Probierportion von mit Steinpilzfarce gefüllten Ravioli in einer samtigen, cremigen Sauce auf der Basis von Hühnerfond. Jeder Löffel davon ist ein Gedicht: heiß, mit authentisch erdigem Aroma der Pilze und hervorragendem Pasta- und Saucen-Handwerk. Ein Wohlfühlgericht auf höchstem Niveau. (8,9/10)

Auf der Weinseite sind noch erfreuliche Reste von gestern vorhanden, irgendetwas Neues fließt aber auch schon wieder glasweise.

Zwei Austern muss ich auch noch wiederholen, weil sie so gut sind (8/10), bevor ich mich der dem Thema Kaisergranat mit Vanille zuwende (54 €). Die Kombination klingt forciert, ist aber gerade deshalb reizvoll für mich, weil ich davon ausgehe, dass Küchenchefin Virginie Protat eine so achtenswerte Zutat wie bretonischen Kaisergranat niemals für irgendetwas Forciertes aufopfern würde. Mein Gedanke bewahrheitet sich. Gleich drei (!) makellos gegarte Krustentiere von herausragender Qualität und Garung – weder glasig noch zu durch, stattdessen schneeweiß, heiß, saftig und nussig – liegen in einer cremigen Beurre Blanc, bei der sich die Vanillenote nur ganz dezent bemerkbar macht und die natürliche Süße des Krustentiers lediglich betont. Einige Streifen Lauch- und Wurzelgemüse auf dem Boden des Tellers liefern dazu etwas anregende Säure. Das ist mehr als hervorragend und dazu auch noch ziemlich fair kalkuliert. (8,5/10)

Dann widme ich mich meinem heimlichen Schwarm von gestern Abend. Sie heißt »Tourte de chevreuil« (82 €), trägt einen Teigmantel und ist mit rubinroten Preiselbeeren geschmückt. Es handelt sich bei der Schönheit um einen Rehrücken im Pastetenteig. Die Kreation wurde aufgeschnitten und ist in zwei Hälften auf einer sauce poivrade gebettet.

Das Gericht zieht sämtliche Register der klassischen französischen Kochkunst, von der gewissenhaften Füllung – neben dem Rehrückenfilet mit Speck, Kohl, Pilzen und weiterer Fleischfarce – über den exzellenten Teig, der weder innen an irgendeiner Stelle roh ist noch außen irgendwo »abblättert«, bis zur fulminanten Sauce, deren passionierte Herstellung, vom Rösten der Knochen für den Fond bis zur akkuraten »Pflege« beim Reduzieren, man genauso schmecken kann wie den exzellenten Pfeffer, der der Sauce ein ätherisch-würziges Bouquet verleiht. Ich putze den Teller blitzblank und drehe später noch einmal meine Schulter nach ihm um. So etwas kann man in dieser Perfektion weltweit nicht an vielen Orten probieren. Eines der Gerichte des Jahres! (10/10)

Und hätte ich heute Abend nicht noch eine andere Reservierung, wäre ich glatt ein drittes Mal eingekehrt.

Informationen zu diesen Besuchen
Restaurant: Tantris DNA (→ Website)
Chef de Cuisine: Virginie Protat
Ort: München, Deutschland
Datum dieser Besuche: 11.11.2022 und 12.11.2022
Guide Michelin (D 2022): *
Meine Bewertungen dieser Essen: 7,5 und 8,9 (Was bedeutet das?)
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