Alois – große weite Welt
Diese Personalie überraschte wohl nicht nur mich. Max Natmessnig dürfte bisher eher Insidern ein Begriff sein, aber ich kenne den österreichischen Koch schon aus dem Chef’s Table at Brooklyn Fare am damaligen Standort in Brooklyn. Er war dort zuletzt die rechte Hand seines Mentors César Ramirez, von dem Natmessnig noch immer mit so großem Respekt spricht, dass er dabei Gänsehaut bekommt (und ich dann auch).
Die vergangenen Jahre kochte er mit beachtlicher internationaler Aufmerksamkeit im Rote Wand Chef’s Table in Lech unter einem Konzept, das von seinem Lehrmeister zumindest inspiriert schien. Noch bevor ich dieses kulinarische Ziel in Angriff nehmen konnte, ist Natmessnig jetzt nach München gekommen, ins dazu völlig neu konzipierte Alois im Dallmyar Delikatessenhaus.
Das Traditionshaus verkörpert schon viele Jahre lang eine der besten kulinarischen Adressen der Stadt, verschiedene Küchenchefs hielten hier zwei Michelin-Sterne. Der Name Dallmayr ist dabei sehr mit Tradition und Bürgertum verbunden, sodass eine Einkehr hier vielleicht nicht für jeden Essbegeisterten die erste Wahl in München war. Zweifellos wird sich das spätestens mit dem neuen Küchenchef ändern.
Als Kuriosum am Rande sei erwähnt, dass der Guide Michelin in seiner inzwischen etwas dynamischeren Online-Präsenz das Restaurant derzeit nicht aufführt. Vermutlich ist das eine Reaktion auf die temporäre Schließung des Restaurants im Sommer und die damit verbundene Renovierung nach dem Fortgang von Küchenchef Christoph Kunz im Mai. In der Regel reagiert der Guide nicht unmittelbar auf derartige Umstände. Die Plakette mit den bisherigen zwei Sternen ist daher auch noch im Eingangsbereich zu sehen, ich halte es aber – nach Änderung von Konzept, Küche, Küchenchef und einer kurzen Schließung – für legitim, den aktuellen Zustand als »unbewertet« zu betrachten. In ein paar Monaten wissen wir mehr.
Das neue Konzept beinhaltet ein umfangreiches Degustationsmenü mit siebzehn Kreationen zu € 250. Eigentlich schreit dieses Menü auch nach einem Tresen, von dem aus die vielen Speisen zeitnah zum Gast gebracht werden können und so, wie es Natmessnig aus New York und Lech gewohnt ist. Aber der angenehm unaufgeregte Speisesaal mit eleganter Kranich-Tapete im ersten Obergeschoss des Delikatessenhauses ist ohne Zweifel eine angenehme Bühne für einen entspannten Abend. Spätestens aber, wenn Sommelier und mein Namensvetter Julien Morlat mit charmantem französischem Akzent quirlig, aber zielstrebig durch Speisesaal und Flure huscht, kann man nur gute Laune bekommen.
Die Weinkarte ist sehr umfangreich und bietet vor allem bei deutschen, französischen sowie italienischen Weinen eine große Auswahl. Beim vorherigen Stöbern in der Karte, die erfreulicherweise online einsehbar ist, fällt mir sofort die für deutsche Restaurants erstaunliche Auswahl rar gesäter Weingüter wie der Domaine du Comte Liger-Belair oder Domaine Roulot auf, was eine Bestellung aus dieser Sektion zumindest für Burgund-Liebhaber fast zur Pflicht macht. In diesem Sinn bestelle ich zunächst offen ein Glas 2014er Meursault »Meix Chavaux« der besagten Domaine Roulot (€ 32) – es werden zwei –, bevor ich mit einem 2016er Nuits-Saint-Georges 1er Cru »Aux Cras« von Liger-Belair (€ 520) etwas höher ins Regal greife. Aber die Gelegenheiten, solche Weine zu trinken, sind rar.
Das Menü beginnt mit einem Knaller. Einem schweren Keramikschälchen entströmt ein verführerischer Duft nach verbranntem Lauch. Appetitliche Fettaugen schwimmen auf dem Elixier, dessen Farbe man aus dem tiefschwarzen Gefäß nicht ableiten kann, fast so, als wollte die Küche damit sagen, dass die Optik eines Gerichts sekundär ist (obwohl gerade dieses Schälchen wunderhübsch vor einem aussieht). Die Wintergemüse-Consommé begeistert jedenfalls mit konzentrierten Aromen von gebranntem Lauch und weiteren Gemüsen, die ölige Textur vermittelt beinahe den Eindruck, als zerliefe ein Stück Wagyu am Gaumen. Eine Wucht! (8,5/10)
Erfreulich ist auch, wenn Menüs so beginnen, wie im Menü beschrieben, vor allem, wenn insgesamt fast zwanzig Gerichte auf einen warten. Da möchte man nicht noch klassische Amuse-Bouches außerhalb der Karte serviert bekommen.
Es geht zügig mit einer kühlen Kreation aus geräucherter Forelle, Meerrettich und Wasabi weiter. Zwei verschiedene Rettichsorten führen in Kombination mit dem Fisch zu einem spannungsvollen Spiel zwischen maritimen und erdigen Noten, ergänzt um etwas Schärfe. Die Kreation erscheint lediglich hinsichtlich der Texturen etwas monoton, überzeugt aber vor allem mit einer an japanische Breiten erinnernden Geschmackswelt. (7,5/10)
Der Küchenchef bringt die Kreationen teilweise selbst an den Tisch. Manchmal, wie in diesem Fall, macht er das direkt aus seiner Hand, was in Anbetracht der gelernten Prozesse aus den vorherigen Tresenrestaurants nachvollziehbar ist. Platziert wird hier eine Tartelette mit geräuchertem Tomaten-Concassée, Obers (Schlagsahne) und eingelegtem Périgord-Trüffel. Man schmeckt Lagerfeuer, (viel) Sahne und erdigen Trüffel. Erstaunlicherweise reduziert sich die zunächst etwas massig erscheinende Kreation am Gaumen schnell zu etwas viel Filigranerem, und der Umami-Geschmack der Tomaten und das leichte Raucharoma klingen am längsten nach. Gerade diese Transition macht die Petitesse besonders spannend. (8/10)
Es folgt eine weitere Tartelette, diesmal mit dunkler Hülle aus Seetang, darin geräucherte Crème fraîche, Forellenkaviar und Dillpulver. Der Kaviar ist von auffallend guter Qualität – nichts gegen die wässrigen Eier, die man im Supermarktregal findet – und stellt zusammen mit der Norihülle milde Meeresaromen zur Schau. Der süßlich-herbe Dillgeschmack von Pulver und Blüte ergänzt alles sehr passend. (7,9/10)
Es folgt ein Happen mit gebeizter französischer Makrele. Natmessnig schiebt noch schnell den japanischen Begriff saba hinterher, vielleicht noch eine Gewohnheit aus New York, wo man bei japanisch inspirierten Menüs öfter mal fernöstlichen Vokabeln begegnet. Die weltläufige Erläuterung passt zu dem Häppchen. Die Makrele begeistert mit butterzartem Schmelz und Ozeangeschmack, ist in ein Perillablatt, also shiso, gewickelt, dazu gibt es noch Fenchel und Salzzitrone. Ich muss kurz innehalten und die Augen schließen. Der Snack schmeckt wundervoll nach großer weiter Welt. (8,9/10)
Es folgt eine Tartelette mit einem Stück Popcorn, einer Creme aus Entenleber und gehobelter geeister Johannisbeere. Die Kombination von Frucht(säure) zu Entenleber ist klassisch, und die leichte Süße vom Mais passt hervorragend dazu. Fast fühle ich mich ins Californios in San Francisco versetzt, von der Texaner Val Cantu eine überragende mexikanische Spitzenküche auftischt. Ich sage es ja: große weite Welt. (8/10)
Nach diesem Motto geht es auch weiter. Dünn aufgeschnittene, drei Tage gereifte und geflämmte Dorade kommt beim nächsten Gang als Aguachile, also einer Art Ceviche, auf den Teller. In der grünen Sauce finden sich Aromen von Anis und Zitronengras wieder, ein am Tisch noch hinzugefügter Jalapeño-Schaum sorgt für prononcierte Schärfe, während Leinsamen-Cracker noch etwas Knusperspaß bieten. Ebenfalls ohne Umschweife hervorragend. (8/10)
An achter Stelle des Menüs steht eine Auster der renommierten Sorte Tarbouriech aus Frankreich. Sie wurde gegrillt, zerteilt, ist noch entsprechend warm und in einer Sauce aus fünf verschiedenen Algen angerichtet. Eine großzügige Nocke Kaviar toppt das Ganze. Natürlich geht es hier um Maritimes, um jodige Aromen, um Salz, aber genauso auch um die »grünen«, vegetabilen Aromen der Algen. Wenn so das Meer schmeckt, wäre ich gerne Fisch. (8,5/10)
In entspannter Atmosphäre, perfektem Tempo und immer mal wieder auch einer passenden Überraschung des Sommeliers geht es weiter mit einer hübschen Kreation um Kürbis, Seeigel, Sanddorn und Safran. Dass alle Zutaten sich sowohl farblich ähneln als auch geschmacklich so kongenial harmonieren, dürfte eine seltene Kombination aus Zufall und Intention sein. Der auf einer dünnen Scheibe Kürbis platzierte Seeigel erinnert mit seiner Jodigkeit auch etwas an erdige Aromen, die wiederum vom Kürbis aufgefangen werden; mit etwas Süße verhält es sich bei diesem außerordentlich gelungenen Zweiklang ganz ähnlich. All das wird aromatisch umspielt von einem leicht schaumig gemixten Sud aus Sanddorn und Safran, der anspruchsvolle Bitterkeit, etwas Säure und Schärfe beisteuert, alles ganz dezent dosiert, aber aromatisch kraftvoll. Ein Gericht von Weltklasseformat. (9/10)
Es bleibt auf diesem Niveau. Behutsam gegarter Saibling ist für den nächsten Gang mit Saiblingskaviar getoppt, nicht mit irgendeinem, sondern mit einer flüchtigen Delikatesse des bayerischen Züchters Nikolai Birnbaum. Der entnimmt die edlen Eier direkt aus den Fischen und liefert sie unverarbeitet der regionalen Spitzengastronomie – gerade mal drei Wochen im Jahr. Der Kaviar ist geschmacklich von frappierender Authentizität und präsentiert sehr feine, milde Meeresaromen, ganz anders als die oft pasteurisierten und in Salz eingelegten Sorten. Diese maritime Geschmackswelt des Fischs wird mit einer üppigen, aber sehr balancierten Sauce auf Basis von Buttermilch und Schnittlauch ergänzt, die perfekt zum Schmelz des Saiblings passt und eine köstliche, pikante Lauchwürze einbringt. Ein Shiso-Pfefferblatt sowie knusprige, aber nicht scharfkantige, Fischhaut runden dieses weitere großartige Gericht ab. (8,9/10)
Ganz puristisch geht es weiter mit Kaisergranat. (Dass das hummerartige Krustentier nach wie vor manchmal, so auch hier, mit dem Fantasiebegriff »Langostino« bezeichnet wird, ist immer wieder ärgerlich, aber das ist eine mühsame Diskussion.) Der jedenfalls perfekt gegarte Krustentierschwanz – nicht mehr glasig, sondern knapp darüber, heiß und innen schneeweiß – ist auf der einen Seite von einer Sauce mit Kaffernlimette und einer märchenhaften, thailändischen Aromawelt und auf der anderen Seite mit einer Pandan-Zubereitung flankiert, die leicht nussig schmeckt. Allem voran ist die Qualität des Krustentiers auf einem selbst in der Spitzenküche selten erlebten Referenzniveau – darüber hinaus fehlt hier, trotz fließenden Genusses und ein wenig unerklärbar, eine Art »Statement«. Aber die weite Welt, man schmeckt sie auch hier. (8,5/10)
Für den folgenden Gang geht man dann zu einem etwas tieferen Teller über, was für die vorherigen Gerichte sicherlich auch eine Option gewesen wäre. In der Tellermitte konzentriert man roh aufgeschnittenes und gerolltes Txogitxu-Ribeye, also Fleisch von alter spanischer Kuh, mit einer leicht öligen Zwiebel-Consommé. Die unterstreicht den fabelhaften Schmelz des in Deutschland so gut wie nie servierten Rinds und passt aromatisch hervorragend zu den dünn aufgeschnittenen Steinpilzen und frittierten Zwiebelfäden. Zum Röstzwiebelaroma, dem »Fettschmelz« und den frischen, erdigen Aromen der Pilze passt der exzellente Burgunder. (8,5/10)
Sehr gut finde ich die Idee, zwischen den zwei letzten herzhaften Gerichten eine Erfrischung zu servieren – und nicht etwa als Abschluss dieser Strecke. In diesem Sinn folgt ein erfrischend pikantes Ingwereis, das in einem milden, lauwarmen Reisschaum gebettet ist. Etwas Noristaub betont die sehr japanische Anmutung dieses exzellenten Intermezzos. (8,5/10)
Als Substitut für einen Gang mit Taube gibt es Reh in Form eines saftigen Filetstücks mit bemerkenswertem Schmelz, das mit luftig-leicht frittiertem Grünkohl, einer absichtlich nicht entfetteten dunklen Sauce und einer Mispelkernsabayon serviert wird. Die Qualität des Rehs ist hervorragend, der Grünkohl dazu sehr kurzweilig, aber von irgendwoher stört hier ein Mandelaroma, fast wie Amaretto, dessen Quelle ich nicht ausmachen kann. Es ist lediglich ein kleiner Schönheitsmakel. (7,9/10)
Für den »Käsegang« geht es in die Küche. Dort wird eine unter anderem mit Ume-Pflaume gefüllte Teigkreation, die ein wenig an Gougères erinnert, mit einem besonders alten Aceto Balsamico Tradizionale finalisiert. Der Snack, den man im Ganzen verspeist, während man in die inzwischen fast leere und blitzblank geputzte Küche blickt, begeistert mit Leichtigkeit, Säure und Umami. Nach vierzehn Gängen ist das abermals perfekt portioniert und, man muss es noch mal feststellen, hervorragend! (8/10)
Grapefruit, Honig und Estragon ist dann das erste Dessert. Es fesselt mit besonders aromatischer Zitrusfrucht, einer präzise eingebrachten Süße und, vor allem, salzigen Geschmacksspitzen, die von Miso herrühren, das man ebenfalls in die Kreation integriert hat. Dazu begeistert ein einnehmendes Estragonaroma – ätherisch, »silbrig« und viel cleverer als »dessertüblichere« Minze. (8,9/10)
Und dann, zum siebzehnten Gang – satt, aber nicht übersättigt, glücklich, aber nimmersatt –, gibt es Fujisan Bread. Die gefaltete, buttrige, knusprige Brioche wird mit einem Kokoseis serviert und zählt mit zu den besten Dingen, die ich jemals probiert habe. Es fühlt sich an, als würde alles hier zusammenkommen, als würde all mein Streben nach dem ultimativen Genuss hier in München im ersten Obergeschoss des Dallmayr-Hauses ein Ende finden. Das Kokoseis ist grandios: kalt, prominent karibisch und genau das unterstreichend, worum es hier, indirekt und subtil, schon die ganze Zeit geht: um die große weite Welt. (10/10)
Informationen zu diesem Besuch | |
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Restaurant: | Alois (→ Website) |
Chef de Cuisine: | Max Natmessnig |
Ort: | München, Deutschland |
Datum dieses Besuchs: | 12.11.2022 |
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